- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Colorblind
"Kommst du jetzt endlich?" Meine Augen schweiften umher und blickten zu Allison, die zwei Meter von mir entfernt stand.
"Einen Moment", sagte ich und schrieb noch meine Unterschrift unter dem kurzen Text, den ich in das Gästebuch geschrieben hatte. Ich legte den Stift auf das Pult und verabschiedete mich freundlich von der alten Frau an der Rezeption, die zurücklächelte.
"Na endlich!", murmelte Allison, als ich zu ihr ging und wir beide gemeinsam das Haus verließen. "Musst du jedes Mal in diese Bücher schreiben?", fragte sie mich kritisch, während wir nebeneinander hergingen. Wieso fragte sie mich das jedes Mal aufs Neue?
"Ich möchte eben mein Feedback abgeben, darf ich das nicht?"
Daraufhin antwortete sie: "Klar darfst du das." Mein Blick wanderte vom Boden zu ihrem Gesicht. "Aber weißt du..", begann sie und ihre Worte verloren an der Stärke, die ich von ihnen gewohnt war.
"Was?", fragte ich ungeduldig. Mit einer leichten Bewegung strich sie eine hellbraune Strähne aus ihrem Gesicht und seufzte.
"Meinst du nicht, dass es etwas.. Naja, gefährlich ist?" Langsam hob ich meine Brauen und starrte sie an.
"Allison! Niemand weiß es, du brauchst keine Angst zu haben. Es gibt keinen Menschen, der uns beide kennt, niemand würde uns auch nur im Entferntesten in Verbindung bringen", argumentierte ich. "Ich meine, sieh dich an und dann sieh mich an. Das sagt doch alles." Allison atmete geräuschvoll aus und letztendlich konnte ich wieder dieses bezaubernde Lächeln auf ihrem Gesicht sehen, in das ich mich verloren hatte. Ihre Hand fand den Weg zu meiner und ich grinste.
Nach so einem gemütlichen Samstag lässt sich der Sonntag mit einem leichten Spaziergang leben. Wir erreichten den Wanderweg in der Nähe unseres Schlupfnestes und ich fühlte mich wieder richtig naturverbunden mit all den farbenfrohen Blüten und dem kleinen See. Ich legte meinen Arm um sie und die hübsche junge Frau an meiner Seite lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Wie sehr ich diese Momente genoss.
"Lange können wir aber nicht mehr hier bleiben", sagte sie irgendwann nach einem langen stillen, aber doch friedlichen Marsch durch den nach Blumen und Frühling duftenden Wald.
"Wieso?", murmelte ich, immer noch verträumt durch das Grün der Bäume schauend. Allison hob ihren Kopf und sah in mein Gesicht.
"Wegen Matt." Ihre Stimme war fest und ausdrücklich, da sie wusste, dass ich es vergessen hatte.
"Man, wieso können wir nicht mal unsere Zeit genießen?", fragte ich mit deutlich schlechterer Laune.
"Weil wir immer noch unser Leben haben, das auf uns wartet, wenn das Wochenende vorbei ist", beantwortete Allison nüchtern meine Frage.
Es gefiel mir nicht, wenn wir wieder zurück mussten. Am liebsten würde ich jeden Tag mit ihr verbringen, jedes Mal irgendwohin fahren und mit ihr die Zeit genießen. Aber ich wusste, dass es nicht ging, solange noch Matt zwischen uns stand. Ach ja, und die Kinder, die bis zu diesem Zeitpunkt noch kein großes Problem dargestellt hatten. Gott sei Dank waren sie am Wochenende immer bei Matt, denn so hatte Allison genug Zeit für uns beide. Im Grunde war die vorübergehende Trennung Allisons von Matt das Beste, was mir hätte passieren können. Ich hätte mir bloß gewünscht, dass sie sich ganz von ihm getrennt und zu mir gestanden hätte. Doch ich wusste, dass Allison mich unter diesen Umständen nicht öffentlich in ihr Leben integrieren konnte. Nicht, wenn sie immer noch mit ihm verheiratet war. Nicht, wenn sie von Montags bis Freitags die Kinder bei sich hatte und diese nur am Wochenende ihren schwer arbeitenden Vater zu Gesicht bekamen. Nicht, wenn ihre Freunde und Familie sie noch nicht verstehen konnten, ihre Gefühle für mich nicht akzeptieren konnten. Aber das war eine andere Geschichte.
Wir gingen den Weg Arm in Arm zurück und gelangten schließlich nach etwa einer halben Stunde wieder an dem Parkplatz der Pension an. Sie lehnte sich an ihr Auto und zog mich zu sich. Meine Hände platzierten sich automatisch an ihre Taille und ich lehnte meinen Körper gegen ihren. "Mmh, ich will nicht fahren", sagte sie traurig lächelnd und küsste mich kurz auf den Mund.
"Ich weiß.. Ich weiß..", sagte ich schweren Herzens. "Ich will auch nicht." Dann grinste ich und schlug vor: "Lass uns doch einfach durchbrennen!" Ein kurzes Lachen entsprang ihren überaus reizenden Lippen und sie schlug seicht gegen meine Schulter.
"Du weißt, dass das nicht geht. Ich hab immer noch meine Kinder, die ich liebe. Das weißt du doch", sagte sie und legte ihre Arme um meinen Nacken, ehe sie mich wieder küsste.
"Ja, ich weiß." Meine Antwort klang verzweifelt und der Realität bewusst.
"Ich liebe dich", flüsterte sie in mein Ohr und blickte trüb in meine Augen.
"Ich liebe dich", sagte ich und hielt ihre Hand noch etwas fest, bevor sie sich lächelnd umdrehte und in ihren Wagen stieg. Sie sah mich noch ein letztes Mal an und gab mir einen Luftkuss, den ich erwiderte. Das Auto bewegte sich vom Parkplatz und auf die Straße, bis es nicht mehr zu sehen war.
Ich sah ihr nach und steckte dann den Schlüssel in mein Auto, um es zu öffnen. Gerade als ich einsteigen wollte, hörte ich eine Stimme hinter mir. "Entschuldigen Sie!" Ich wirbelte herum und sah die alte Frau von der Rezeption angerannt.
"Ja?", fragte ich mit hochgezogenen Brauen. Außer Atem blieb sie vor mir stehen und reichte mir eine kleine schwarze Tasche.
"Ich glaube, das haben sie im Zimmer vergessen", gab sie schwer atmend von sich. Meine Hand umklammerte den Griff der Tasche und ich nahm sie an mich.
"Oh, danke! Ich muss sie wohl übersehen haben." Sofort öffnete ich den Kofferraum und legte die kleine neben der großen Tasche. Dann schlug ich die Kofferraumtür wieder zu und setzte mich in mein Auto, bevor ich das Fenster hinunterkurbelte.
"Gute Reise und einen schönen Sonntag noch", sagte die Alte freundlich und ich lächelte ihr zu.
"Dankesehr, wünsch' ich Ihnen auch." Mit einem geräuschvollen Starten des Motors fuhr ich über den Parkplatz und winkte noch mal der über das ganze Wochenende sehr netten älteren Dame, die - wohl mit dem Glauben, ich würde es nicht mehr sehen - das Gesicht verzog und mir mit wütendem und ekelerregtem Blick nachsah. Ich stierte in den Rückspiegel und schüttelte den Kopf. Wieso können die Menschen nicht einfach die Wahrheit leben?