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Crossing Over
„Wir sehen uns auf der anderen Seite.“
Das Licht war weiß, ausdruckslos. Wie der Raum selbst. Eine kleine, viereckige Hölle, aus der es kein Entrinnen gab.
Die Medikamente hielten ihn träge. Wutausbrüche hatte er kaum noch, dafür waren auch sonst alle Emotionen ausgeschaltet worden. Lebte er damit im eigentlichen Sinne überhaupt noch? Er fühlte sich so, als wäre er Zuschauer in einem Slow-Motion-Film.
Sein Gesicht war durch die Medikamente aufgedunsen, seine grauen Augen hatten jegliches Feuer verloren, seine schwarzen Haare klebten ihm etwas verschwitzt auf der Stirn. Nur eine winzige Narbe zeugte davon, dass die Realität ein dehnbarer Begriff war.
„Wir sehen uns auf der anderen Seite.“
Wie ein mit Widerhacken versehener Stachel steckte dieser Satz in seinem Gehirn. Gelächelt hatte ES, sie, dabei auch noch. Ekelhaft.
Würde er doch nur die Zeit zurückdrehen können oder zumindest noch einmal hinübertreten können. Ein letztes Mal auf Jagd gehen and Rache nehmen können. Er würde alles dafür geben. Hatte er schließlich alles verloren.
Sein Psychiater hatte ihm empfohlen, einfach nicht mehr daran zu denken, um aus dieser Neurose, diesem Teufelskreis, auszubrechen. Allerdings auch erst, nachdem er gemerkt hatte, dass es sinnlos war, die Geschehnisse als eine Reaktion auf ein erkaltetes Verhältnis zu Mutter und Vater zu erklären. Nicht, dass das Letztere eine falsche Beobachtung gewesen wäre, aber es stand in absolut keiner Verbindung zu den Geschehnissen.
Wenn der wüsste, aber er wusste nicht. Sein Glück.
Hätten sie einfach nicht damit angefangen. Es war eben nie ein Spiel gewesen, keine Seifenoper mit Happyend.
Verschwommene Bilderfetzen jagten vor seinem geistigen Auge dahin. Eines wurde langsamer und während es sich näherte, nahm es Gestalt an. Es war ein junger Mann. Sportlich gebaut. Eine dunkelbraune Mähne umrahmte ein zum Strahlen geborenes Gesicht. Bis auf dieses Mal. Trauer blickte aus den bernsteinfarbenen Augen. Anklagend? Sein Gesicht war viel zu weißlich. Blut lief ihm in einem kleinen Rinnsal aus den Ohren. Juven. Sein bester Freund. Sie hatten sich immer vertraut, wie Seelenbrüder und dann war es so geendet.
Etwas regte sich in ihm und wollte aufbrodeln. Doch es erstarb, wie eine Flamme ohne Öl. Nur Leere blieb zurück.
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„B-bist du es tatsächlich?“
Sie nickte stumm und sah sich mit großen Augen erstaunt um.
Sie war es tatsächlich. Es spannte sich immer noch das selbe knappe Top über ihren Oberkörper und der selbe dunkle Jeansrock bedeckte ihre breite, aber doch sehr wohlgeformte Taille. Alles wie vor einem Augenblick.
Sie wickelte sich eine Strähne ihrer blonden Haare geistesabwesend um den Zeigefinger.
„Max, es hat funktioniert. Oder bist du nur meine Vorstellung?“, murmelte sie leise. Hinter ihren türkisblauen Augen arbeitete es. Das hatte selbst sie aus der Bahn geworfen. Sie, die sonst immer das letzte Wort hatte.
Er schüttelte den Kopf. Nein, er war keine Vorstellung. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er diese kalte, metallene Druckspitze angesetzt, den Injektionsknopf gedrückt und die Nanorezeptorenkochsalzmischung (XI²NaCL) in seine Adern gepumpt hatte.
Es war nun schon über zwei Jahre her, da war Anna bei Arbeiten in ihrem Studium auf eine Theorie gestoßen: Der Schlüssel des Paradieses läge in uns. In unseren Genen. Eine bestimmte Kombinationen musste aktiviert werden, wie bei einem Zahlenschloss, dann würde sich die Tür dorthin öffnen – in unserem Unterbewusstsein. Wie in das Land der Träume, nur besser. Ob das Land der Träume damit wohl auch existierte? Die Theorie baute darauf auf, dass unser Gehirn nur einen Empfänger und Transmitter darstelle. Einmal für die Informationen aus der bekannten Welt. Stellte man den Sender jedoch um, dann konnten gar abenteuerliche Sachen geschehen –man konnte übertreten in andere Dimensionen.
Und Anna hatte die Theorie tatsächlich umgesetzt, sonst wären sie nicht zusammen an diesem Ort.
Schwarz war ihm innerhalb eines Augenblickes geworden, als das eiskalte Gemisch in seine Adern geflossen war. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er panisch überlegt hatte, ob etwas falsch gelaufen war. Dann war er an diesem Ort aufgewacht, fernab von ihrer Einzimmerbude. Fernab von dieser Großstadt, versunken in Dreck, Gestank und Lärm.
Süßes Vogelgezwitscher drang an sein Ohr. Saftiges Gras befand sich unter seinen Füßen, der Himmel leuchtete in einem Azurblau. Wenige Schäfchenwolken rasten auf ihm hinüber. Nicht wie die graubraune Wolkenwand, die normalerweise aus den Schornsteinen dem Himmel entgegengeblasen wurde.
Ein riesiger Wald erstreckte sich zu ihrer Linken dem Horizont entgegen. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Es war so unwirklich. Unwirklich schön.
Es zauberte ihm ein Lächeln auf die Lippen. Er bückte sich, pflückte eine gelbblättrige Blume und hielt sie Anna entgegen.
Ihr kirschroter Kussmund formte ein unwiderstehliches Lächeln. Ihre Augen blitzen auf. Sie trat an ihn heran, nahm die Blume entgegen und küsste ihn sanft auf den Mund. Sie schmeckte nach Vanille. Ihre Zunge war heiß.
„Max, haben wir wirklich das Paradies gefunden?“ Ihre Stimme war leise, als sollte es sonst keiner hören, aber ungemein erregt.
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„Wir sehen uns auf der anderen Seite.“
Anna zwinkerte ihm zu. Ein kalter Schauer kroch Max’ Rücken herunter. Ihr Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Eine abartig gewinnendes Lächeln erinnerte an Uncle Sams Rattenfang für die Army. Es war das Negativum des lebensfreudigen Mädchens, mit dem er vor Jahren das erste Mal diese Welt betreten hatte.
Und von einem auf den anderen Augenblick war ES, sie, verschwunden – zurückgesprungen in die andere Welt.
Er schrie auf. Das konnte nicht sein, das durfte nicht wahr sein.
Der regloser Oberkörper eines jüngeren Mannes lag in seinen Armen. Tränen rannen ihm, Max, die Wange herunter. Wutentbrannt wischte er sie mit dem Hemdsärmel ab. Es war sein bester Freund, Juven, gewesen. Es durfte nicht wahr sein. Aber er hatte keine andere Wahl gehabt!
Bernsteinfarbenen Augen starrten ihn an. Nicht vorwurfsvoll. Nicht erschreckt. Sie starrten einfach nur noch. Die einstige Wärme war aus ihnen entflohen. Seine Lippen waren beinahe so weiß, wie die restliche Haut, die sich über sein Gesicht spannte. Die Gesichtszüge schlaff. Tot.
Hatte er doch immer gedacht, er sei anders als alle anderen. Würde nicht die selben Fehler begehen. Würde seine Gegner nicht unterschätzen. Mit einem vernichtenden Schlag wurde ihm bewusst, dass er nicht anders war, zumindest nicht besser.
Juven war er gezwungen gewesen zu töten. Wie hatte er es nur soweit kommen lassen? Warum hatte er den Dämon in dessen Augen nicht schon früher erkannt und ihn separat erledigt, als dies noch möglich gewesen war? Doch war es seine Pflicht gewesen. Er hätte Juven nicht verschonen können. Der Dämon in ihm musste sterben. Ein Schauer ließ ihn erzittern. Der Dämon war nicht gestorben, sondern auf Anna übergegangen und hatte sie verwandelt.
Zittrig schloss er Juven die Augen. Er konnte den Blick nicht mehr ertragen. Er konnte das Gewicht der gesamten Situation nicht mehr tragen. Seine Manavorräte waren aufgebraucht, mit letzter Macht hatte er den Dämon zurückschleudern und Juven vernichten können.
Seine Energie hatte nicht einmal mehr dazu gereicht, den Dämon davon abzuhalten, den Körper zu Anna zu wechseln.
Wir sind weiß, die Dämonen sind schwarz. Wir sind gut, sie sind böse. Das ist ein Gesetz der Natur. Töte sie, wann immer du kannst, oder sie werden uns töten.Hohl hallte die Stimme seines Mentors im Kopf wider. Sie hinterließ einen schalen Geschmack in seinem Mund. War es doch so einfach, diesen Satz zu sagen, aber so elendig schwierig ihn auch umzusetzen, wenn der Preis so hoch war.
Ein Paradies war es nie gewesen, das sie gefunden hatten. Eher das Gegenteil. Wer immer diesen Gencode als Vorhängeschloss für diese Welt erfunden hatte, er hatte richtig gehandelt.
Trotzdem hatte er, Max, sich darin zurecht gefunden. Bald einen neuen Namen gefunden - Venatrix Maximus wurde er gerufen. Und endlich hatte er eine Aufgabe gefunden, ein Ziel in seinem Leben. Das war eine völlig neue Erfahrung. Etwas das er konnte. Dämonen jagen.
Nur dieser eine.
Panik durchflutete seinen Körper. Erst jetzt realisierte er die Situation vollständig. Nicht nur Anna hatte das Biest in Besitz genommen. Der Dämon war gesprungen. Das hätte nicht geschehen dürfen. Es würde die Welt auf der anderen Seite aus den Fugen reißen.
Merkwürdig war nur, dass die Dämonen bis jetzt nie an der anderen Welt interessiert gewesen. Aber es gab immer ein erstes Mal. Aber warum Anna und nicht er selbst? Der Dämon hätte auch ihn wählen können.
Er atmete tief durch und schloss die Augen. Willkommene Schwärze umschloss ihn.
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Gelbverwaschenes Licht einer kleinen Lampe, deren Schirm fehlte, blendete ihn. Er richtete sich sofort auf, doch Anna, beziehungsweise der Dämon, waren fort.
Ein Hauch aus Angst und Trauer berührte ihn. Er sah ihr lachendes Gesicht vor sich. Ihr temperamentvolles Grinsen. Dieses Feuer in den Augen. All das, was ihm fehlte.
Er hatte nie verstanden, warum sie ihn gewählt hatte. Er sah weder besonders gut aus, noch war er beliebt gewesen. In keiner Weise herausragend, eher minderdurchschnittlich.
Mit einem wehmütigen Lächeln dachte er an die Zeit zurück. Es war beinahe wie ein anderes Leben. Auf der einen Seite trist und dunkel, auf der anderen Seite durch Anna strahlend hell.
Er seufzte. Wollte man doch immer das, was man nicht hatte.
Drüben im ‚Paradies’ war dann alles durcheinander geworfen worden. So phantastisch aber auch so fremd geworden.
Er sah sich in dem Raum um. Schimmel quoll aus den Zimmerecken. Uralte Pizzakartons lagen neben einer Matratze, deren Bezüge schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gereinigt worden waren. Leere Flaschen lugten zwischen ekelhaft dreckigem Geschirr hervor. Die Druckspritze lag achtlos auf einem kaputten Stuhl.
Wie viel Zeit hatten sie wohl dort drüben verbracht? Sehr viel. Seine Talente hatten ihn hinübergezogen. Talente die Ruhm und Reichtum brachten. Für Anna war es auch nicht schlecht gelaufen, trotzdem war sie zu seinem Schatten geworden. Immer war sie ihm gefolgt. Hatte ihn nur traurig angesehen, wenn er sich wieder nach dem Sex aus den Laken geschält und seine Ausrüstung zur Jagd gepackt hatte.
„Was willst du dir beweisen? Haben wir nicht alles?“, hatte sie einmal gefragt.
„Beweisen? Meine Gabe ist kein Geschenk“, hatte er ihr heldenhaft entgegen geschleudert. „Meine Gabe bedeutet Verantwortung.“
War das so?
Er fühlte unter die Matzratze bis er auf etwas Metallenes stieß. Etwas Kleines, Schwarzes zog er hervor. Eine P10. Kaliber 9mm; 13 Patronen in einem Magazin. Sie fühlte sich schwer an, in seiner Hand. Sie zerrte dem Boden entgegen, als wollte sie nicht benutzt werden. Es war Anna, verdammt! Nicht irgendwer, den er nicht kannte. Er seufzte. Verantwortung. Es war seine Schuld, wenn der Dämon hier sein Werk beginnen würde. Diese Welt war dafür nicht geschaffen, sie würde sich ohne einen Jäger nicht dagegen wehren können.
Weit konnte der Dämon aber nicht sein. Seine Magie war in dieser Welt begrenzt. Noch. Ebenso wie seine Unsterblichkeit.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein klickendes Geräusch. Es kam von dem kleinen Badezimmer. Max wirbelte herum.
Die Tür hatte sich geöffnet. In ihrem Rahmen stand Anna. Sie blickte ihn erstaunt an, während sie an einer Zigarette zog.
„Nimm mal die Pistole runter! Bist du verrückt?“ Ihre Stimme war mehr ein Krächzen. Dunkle Furchen zeichneten sich um ihre Augen. Ihre Haut war beinahe so blass wie die einer Leiche. Das blonde Haar fiel ihr strähnig über ein dreckiges Shirt, das notdürftig ihren dürren Körper bedeckte.
„Still, du Dämon“, zischte Max. „Täuschen willst du mich. Das ist alles!“
„Max, komm zu dir! Das sind nur Nachwirkungen!“ In Annas Gesicht war ein besorgter Ausdruck getreten.
„Nein, das sind keine Nachwirkungen. Verlasse Anna oder ich werde abdrücken.“
Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, entsicherte er die P10.
„Max“, ihre Stimme war nun flehend. „Ich bin es, Anna! Nur Anna. Bitte nimm die Pistole weg. Ich habe Angst.“
Tatsächlich ihr Blick flackerte. Aber das war nur gespielt. Ein Dämon war ein Meister darin. Er hatte es gesehen. Er durfte sich nicht von einer luziden Illusion einwickeln lassen. Aber wenn es doch nur Anna war?
„Verlasse sie.“ Seine Worte waren leise aber schärfer als eine Klinge. „Dann verschone ich dich, Dämon.“
„Ich zähle bis drei.“
„Max!“
„Eins.“
„Max!“ Sie schrie. Panik stand in ihrem Gesicht. Ihre Augen irrten durchs Zimmer.
„Zwei.“
In einer irren Geschwindigkeit sprang sie auf ihn zu, genau, als er drei sagen wollte. Anstatt dessen betätigte sein Zeigefinger den Abzug. Donner rollte durch den Raum und hallte wider. Drei Mal.
Anna wurde zu Boden geschleudert und blieb regungslos liegen.
Was, wenn der Dämon tatsächlich nicht mit hinübergekommen war, schoss es ihm noch einmal durch den Kopf.
„Anna!“ Panisch ging er neben ihr zu Boden. Blut lief aus ihrem Mund. Ihr Blick war glasig.
„Warum hattest du sie nur in Besitz genommen, du Schwein. Warum hast du nicht mich gewählt? Ich hätte mich auch nicht wehren können! Du hattest die Chance, mich zu töten!“
Tränen rannen ihm die Wangen herunter. Dieses Mal kümmerte er sich nicht einmal mehr darum. Sie tropften auf ihre Stirn, verloren sich in ihren Haaren und vermischten sich mit dem Blut.
Plötzlich klärte sich für einen Moment ihr Blick. „Quid pro quo”, kam brüchig zusammen mit Blut über ihre Lippen. Ein ekliges Lächeln verzerrte sie in sekundenschnelle.
Schluchzend brach er zusammen. Wie du mir, so ich dir. Es war nie das Ziel des Dämon gewesen, in diese Welt einzudringen. Er hatte nur ihn vernichten wollen – mit Erfolg. War er für die Dämonen doch soweit gegangen, dass er Juven, seinen besten Freund und Anna umgebracht hatte. Sich selbst vernichtet hatte und es selbst mitansehend musste.
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Manchmal meinte er, die weißen Wände würden ihn anstarren. Schizophren sagten die Ärzte, sei er. Es war beinahe schon tragisch komisch. Würde es doch nur stimmen. Doch kannte er die Realität besser als alle. Aber was war überhaupt real? War der Begriff überhaupt objektiv?
Da öffnete sich lautlos die Tür zu seiner Zelle. Ein Arzt in weißem Kittel trat ein. Wortlos setzte er sich Max gegenüber und musterte ihn aus eisblauen Augen durch eine randlosen Brille.
Er holte ein Zigarettenetuie aus seinem Kittel, nahm eine heraus und zündete sie sich an. Den Rauch inhalierend blickte er immer noch wortlos auf Max.
Der nahm sich erst gar nicht die Energie, den Arzt darauf hinzuweisen, dass Rauchverbot herrschte.
Als würde der plötzlich aus einem Traum aufwachen, wühlte er noch einmal in seinem Kittel, holte wieder etwas hervor und schmiss es Max zu. Trotz seiner verminderten Reaktionsfähigkeit fing er es, irgendwie. Es war metallen und kalt. Dann erst erkannte er es. Es war die Druckspritze. Gefüllt.
„Im Protokoll steht, sie würden alles machen, um wieder auf die Jagd nach Dämonen gehen zu können.“ Die Stimme des Arztes war melodisch ruhig. Sein Blick hatte irgendwie etwas Bekanntes.
Er zog wieder an seiner Zigarette.
„Nun, wie sieht es aus?“
Max nickte langsam. „Das stimmt.“
Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des Arztes. „Dann arbeiten wir ab jetzt zusammen. Ist das ein Deal?“
Er streckte Max die Hand entgegen. Der nahm sie zögernd an.
Ein dämonisches Feuer blitze in den Augen des Arztes auf.