Mitglied
- Beitritt
- 15.10.2005
- Beiträge
- 36
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Dämmerschwarz
(überarbeitete Fassung)
Er stand an einer Mauer gelehnt im Schatten einer kleinen Gasse und beobachtete die spielenden Kinder auf dem leer stehenden Parkplatz des Supermarktes vor ihm. In der linken Hand hielt er eine Zigarette, von der er ab und zu einen Zug nahm. In der anderen hatte er eine Six-gun, einen alten Revolver, den er mit geschickten Griffen der rechten Hand nachlud.
Er war ganz in Schwarz gekleidet. Selbst seine Stiefel, die an Cowboystiefel aus alten Westernfilmen erinnerten, waren farblich seiner Garderobe angepasst.
‚Fehlt nur noch ein passender Hut’, hatte er damals spaßeshalber gesagt, als er vor einem Spiegel in der kleinen Modeboutique stand, um seine Kleiderauswahl zu begutachten.
Sein Name war Ronald. Er hatte leuchtend grüne Augen, und dunkelbraune Haare, die seine Stirn zum Teil verdeckten. Obwohl er noch nicht einmal sechsunddreißig war, machten sich bereits leichte Krähenfüße auf seinem mit einem Dreitagebart versehenen Gesicht bemerkbar.
Er nahm einen genüsslichen Zug von seiner Zigarette, ohne den Blick von den Kindern abzuwenden. Es waren sechs, vier Mädchen und zwei Jungen, keines älter als zehn Jahre. Sie warfen mit einem Lachen, das in Ronalds Ohr vielmehr wie ein Kreischen klang, einen bunten, alten Ball hin und her.
Ronalds Blicke trafen auf den kleineren der zwei Jungen. Er hatte schwarze, leicht gelockte Haare, die ihm hinter den Ohren verstaut bis zum Kopfansatz herunter hingen.
„Er sieht meinem Jungen so ähnlich“, dachte Ronald mit feucht werdenden Augen. „Meinem kleinen Henry“
Ronalds Frau Lea starb bei einem Autounfall, als Henry fünf Jahre alt war. Von da an zog er seinen Sohn alleine groß, seinen geliebten Henry, der alles war, was Ronald noch geblieben war.
Im Alter von zwölf Jahren starb Henry. Sein über alles geliebter Henry starb.
Ronalds linke Wange lief eine einzige Träne hinunter.
„Aber das ist nicht mein Junge“, dachte Ronald. „Nein, das ist nicht mein Henry!“
Er wischte über seine von einem feuchten Streifen durchzogene Wange.
Hass stieg in ihm auf. Er hasste den Jungen mit den schwarzen Haaren, der ihn so an seinen toten Sohn erinnerte. Und er hasste auch sich selbst, weil er den Jungen tief in seinem Herzen auch irgendwie liebte.
„Jetzt reiß dich mal zusammen, Mann!“, flüsterte er sich zu.
Ronald warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus.
Er wandte sich den Kindern zu.
Mit lautlosen Schritten trat Ronald in das Licht der warmen Nachmittagssonne, die bald hinter den Dächern der Stadt verschwinden sollte.
Es geschah alles ganz schnell.
Er feuerte seinen ersten Schuss ab. Der Junge mit den schwarzen Haaren fiel, durch einen perfekt anvisierten Kopfschuss getötet, zu Boden. Noch während er fiel schallte der zweite Schuss über den sonnenbeschienenen Parkplatz. Dann ein dritter.
Die Kinder hatten keine Chance auch nur zu bemerken, was mit ihnen geschah. Sie stürzten einer nach dem anderen tot auf den warmen Asphalt.
Der Ball („Es ist der Kopf eines Kleinkindes, eines Babys verdammt!“) schwebte noch einen Moment in der Luft, eher er mit einem dumpfen Laut neben den toten Kindern aufprallte.
Ronald ging zu den Toten hin um sich sein Werk aus der Nähe anzusehen.
‚So weit ist es also mit mir gekommen’, dachte er süffisant lächelnd. „Wie ein Verrückter lauer ich Kindern aus dem Hinterhalt auf und schieße sie nieder.“
Er dachte einen Augenblick über seine Worte nach, dann fügte er noch etwas hinzu. „Vielleicht bin ich das ja. Ein Verrückter.“
Er lud seine letzten sechs Kugeln in den Revolver. „Sobald ich alles habe sollte ich mich mal um neue Munition kümmern“, überlegte er.
Er wollte sich grade von den Leichen wegdrehen, als sein Blick auf den nun toten Jungen mit den schwarzen Haaren fiel.
Seine linke Hand zuckte leicht.
Ronald hatte schon davon gehört, dass bei toten Menschen manchmal die Glieder zuckten oder ähnliches. Aber das hier waren für ihn keine normalen Menschen.
Außerdem wollte er kein Risiko eingehen.
Er zielte noch mal auf den Jungen. Wieder auf dessen Kopf. Dann drückte er ab.
Der Jungen schoss mit dem Oberkörper nach oben, als die Kugel ihr Ziel traf, nur um dann mit weit Aufgerissenen Augen wieder nach hinten zu fallen.
Er rührte sich nicht mehr.
„Das hätten wir.“ Ronald schaute sich nochmals nach den Leichen um.
Als er überzeugt war, dass die Kinder nicht mehr von den Toten auferstehen würden, schlenderte er in Richtung Eingang des Supermarktes.
Er blieb vor der verschlossenen Schiebetür stehen und klopfte gegen deren Glasscheibe.
„Mhhh…nicht grade sehr einbruchssicher das Ding.“
Er ging ein paar Schritte nach hinten, nahm seinen Revolver und feuerte eine Kugel ab.
Glassplitter flogen durch die Luft.
Ronald ging wieder zur Tür. Er rammte seinen Ellbogen mit ganzer Kraft auf die angeschossene Scheibe. Diese fiel augenblicklich ganz auseinander.
„Keine Alarmanlage“, dachte er, während er in das Geschäft einstieg. Dann fragte er sich selbst: „Hättest du was anderes erwartet, Ronald?“
Unter der Kasse, die nahe am Eingang stand, lagen, säuberlich zusammengefaltet, ein paar Plastiktüten. Ronald nahm sich eine und machte sich gradewegs zu den Regalen auf. Dort nahm er sich jede Menge Dosensuppen, ein paar Gläser mit Gemüse und dazu noch eine Packung Chips und zwei Sixpacks Bier. An der Fleischtheke ging er, ohne auch nur nachzusehen, ob sich noch Fleisch dort befindet, vorbei. Er war Vegetarier.
Ronald hatte alles was er wollte und machte sich auf den Weg nach draußen, als er die kleine Menschenmenge vor dem Laden erblickte.
Es waren um die acht Leute.
Einige von ihnen hockten vor den toten Kindern und versuchten wohl noch irgendetwas für sie zu tun. Den Gedanken, dass sie in Wirklichkeit die Leichen abknabbern, schob Ronald schnell wieder aus seinem Kopf.
„Shit, für so was reicht mir die Munition nicht mehr“, ärgerte er sich. „Na dann, gucken wir mal ob’s hier so was wie ne Hintertür gibt.“
Er hastete durch den Supermarkt. Hin und wieder warf er einen Blick durch die Gänge zwischen den Regalen hindurch, um den Parkplatz im Auge zu behalten.
Tatsächlich fand er eine unversperrte Tür, die in eine kleine Lagerhalle führte.
Ronald trat hindurch und schaute sich unsicher in der mit aufeinander gestapelten Kisten belagerten Halle um. Dann endlich entdeckte er am anderen Ende eine weitere, eisengraue Tür.
Er ging zu ihr und wollte sie grade öffnen, als ihm ein Gedanke durch den Kopf ging.
„Verflucht, ich kann hier nicht einfach raus spazieren. Was ist wenn die schon da draußen auf mich warten?“, murmelte er.
Er presste nach kurzem Überlegen sein rechtes Ohr gegen die eiserne Tür und lauschte. Es war nichts zu hören.
Skeptisch und mit gezogenem Revolver zog er an dem Türgriff.
Sie war verschlossen.
„Verdammt! Na ja, dann muss ich wohl hier warten bis die Wichser sich verpisst haben“ Kaum hatte er dies zu Ende gedacht, drang ein leises Schluchzen an seine Ohren.
Auf alles gefasst und immer noch den Revolver in der Hand drehte Ronald sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Hinter einem großen Stapel Kisten lugte ein kleines Bein hervor. Ronald näherte sich vorsichtig dieser Stelle, bis er genau sehen konnte, wer oder was sich hinter den Kisten versteckte.
Ein kleiner Junge, um die sechs Jahre, hockte zusammengekauert und zitternd in seinem kleinen Versteck.
Ronald zögerte nicht lange, spannte den Hahn des Revolvers und fixierte den Kopf des Jungens. Der Junge gab keinen Ton von sich, zitterte allerdings unaufhörlich. Angsttränen liefen ihm die Wangen hinunter, als er Ronald bemerkte.
Ronald starrte den Jungen etwas unbeholfen an. Ohne den Blick von ihm zu wenden, lies er seine Six-gun langsam sinken.
„Ich kann das nicht tun“, dachte er. „Verdammt, ich muss es tun, aber ich kann’s nicht.“
Obwohl dieser Junge hier überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem schwarzhaarigen, nun toten Kind von eben hatte, musste Ronald an diesen denken. Und an seinen Henry.
„Ich könnte ihn mit mir nehmen. Auf ihn aufpassen, ihn wie meinen eigenen Jungen behandeln“, sagte er sich.
Ja, das klang in der Tat verlockend.
„Ja, in der Tat.“ Er lächelte leicht ohne es zu bemerken.
Als der Junge das sah, hörte er auf zu zittern. Er schniefte noch ein paar Mal, dann wischte er sich sein tränenüberströmtes Gesicht ab und blickte verwundert zu Ronald auf, dessen Gesicht jetzt wahrhaftig heiter wirkte.
„Keine Sorge, ich tu dir nichts“, sagte dieser im Gedanken versunken. Dem Jungen huschte nun auch ein kleines lächeln über das Gesicht.
Dann wurde dieses Lächeln zu einer angsterfüllten, versteinerten Miene.
Ronald sah verwirrt drein, doch dann drang ein bösartiges Knurren von hinten an seine Ohren. Er zuckte zusammen und warf seinen Kopf herum.
Seine Augen weiteten sich.
Ein paar Meter vor ihm stand ein großer Schäferhund. Das Tier hatte die Ohren nach hinten gelegt. Es sah ziemlich mitgenommen aus, als hätte es kürzlich einen Kampf mit einem anderen Tier gehabt. Hinter den verzogenen, von weißem Schaum teils verdeckten Lefzen ragten erschreckend spitze Zähne hervor.
„Wo zum Teufel is’ das Vieh jetzt her gekommen?“ zischte Ronald.
Er griff nach seinen Revolver. Der Hund sprang auf ihn zu. Ronald schrie. Zwei Schüsse hallten durch die Halle. Ein erbärmliches Winseln ertönte, das sich fast sofort wieder in ein grauenvolles Kurren verwandelte. Dann erstarb es.
Ronald lehnte gegen einen Stapel von Kisten. Schnell atmend hielt er seinen linken Arm an sich gepresst. Er blutete stark. Sein Revolver hatte wieder in seinem Halfter platz gefunden. Der Schäferhund lag reglos ihm gegenüber.
Der Junge saß immer noch an derselben Stelle, nur dass er jetzt genauso schnell atmete wie Ronald. Er zitterte wieder, gab aber keinen Mucks von sich.
„Verdammtes Mistvieh!“ Ronald schaute sich beunruhigt seine Bisswunde an, zog dann sein Shirt aus und wickelte es sich um seinen verletzten Arm. Dann betrachtete er seinen provisorischen Verband.
„Ich hätte Arzt werden sollen.“ Er kicherte zynisch. Dann stand er auf. Trotz der Schmerzen in seinem Arm zuckte er nicht einmal mit den Wimpern.
Er wollte grade aus der Halle gehen, als das leise Schluchzen des Jungen, den er ganz vergessen hatte, bemerkte. Ronald blickte zu ihm hinüber. Dieser hatte sich keinen Zentimeter gerührt und schluchzte schwer atmend vor sich hin.
Ronald zog den Revolver, fixierte den Jungen und drückte ab. Als der Knall des Revolvers erstarb war auch das leise Schluchzen des Jungen nicht mehr zu hören. Er lag jetzt reglos auf dem Boden. Blut strömte aus dem Einschussloch und bildete unter dem Toten eine Lache.
Ronald machte ein Kreuzzeichen, dann verließ er stumm die Halle.
Vor der Eingangstür des Kaufhauses stehend sah Ronald durch das Glas auf den von leichtem Dämmerlicht beschimmerten Parkplatz vor ihm.
Langsam wagte sich der Revolverheld nach draußen und sah sich dort um. Dann stapfte er über den leeren Platz bis zu dessen Mitte und ließ sich nieder.
Seine Blicke musterten den altern Revolver, den ihm sein Vater am Sterbebett vererbt hatte.
„Tja, das war’s dann wohl“, er schaute von seinem Revolver auf den verletzten Arm. „Satte sechsunddreißig von denen hab ich erledigt ohne einen Kratzer abbekommen zu haben, und jetzt hat’s mich erwischt, nur weil ich einem Kind helfen wollte.“
Er schloss seine Augen und lächelte, während er einen tiefen Zug der frischen Abendluft einatmete.
‚Aber eine hab ich noch’, dachte er.
Er drückte die Mündung seines Revolvers ein Stück weit über dem Adamsapfel schräg an seinen Hals und blickte verträumt gen Himmel.
‚Ich liebe dich, mein Sohn. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt’
So lag er geduldig auf dem ausgestorbenen Parkplatz, bis die Sonne hinter dem abendroten Horizont verschwand.