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Déjà-vu
Es war ein ganz normaler Tag, an dem er einfach starb. Ohne Weiteres verschwand das Leben aus seinem Körper, als ob es keinen Wert hätte. Und ich weinte und schrie und flehte, er möge zurückkommen, denn ich kannte ihn nicht mehr, so kalt wie er dort lag. Ich kannte doch nur seine Wärme; die seiner Hände, seiner Lippen und seines Atems. Und, einfach so, war diese Wärme verschwunden.
Er war mir fremd. Er rührte sich nicht, sagte nichts, und dabei redete und bewegte er sich doch so gern. Und unter Tränen fragte ich mich, wohin er verschwunden sein mochte, warum er sterben musste.
'Er ist tot.' Ein ganz klarer, simpler Fakt. Dieser Gedanke schlich sich sofort in meinen Kopf, als ich ihn dort liegen sah, so kalt und leblos.
Ich sah ihn, nur ihn. Alle Erinnerungen schienen nur noch um ihn zu kreisen. Einmal sah ich sein vor Wut verzerrtes Gesicht nach einem Streit, einmal sah ich ihn, wie er ins Wasser sprang; aber das, was ich am häufigsten sah, war ein Portrait von ihm, sein Gesicht direkt vor meinem, so wie es sich in meinem Gehirn eingebrannt hatte. Ich war gebrandmarkt.
Und jedes Mal, wenn ich diese Erinnerung rief, dieses Portrait seines Wesens, musste ich weinen. Und ich wütete und tobte und machte meinem Kummer Luft, denn ich hatte etwas wertvolles aus den Augen verloren. Ich riss meinen Büchern die Seiten heraus, denn viele dieser Bücher hatte er mir geschenkt. Und ich zerschmetterte Figuren und warf meinen Schmuck aus dem Fenster.
Und irgendwann wollte ich nichts weiter zerstören, denn ich hatte die Lust daran verloren und deshalb setzte ich mich in eine Ecke meines Zimmers und weinte um die kleinen Schätze, die ich soeben zerstört hatte.
Meine Familie begleitete mich zum Friedhof. Sie waren mir keine Hilfe. Auf die warmen Hände, die auf meiner Schulter ruhten, konnte ich verzichten, denn es waren nicht seine Hände. Und ich weinte bitterlich, als ich vor seinem Sarg stand, und ich weinte, als der Pastor die Kondolenz-Rede hielt und ich weinte, als ich vor seinem Grab stand und ihm meinen letzten Gruß schicken sollte. Warum sollte dies mein letzter Gruß sein? Ich hatte ihm noch so viel zu sagen. Aber seine Zeit mir zuzuhören war um; ich warf die Blume in sein Grab. Am liebsten wäre ich hinterher gesprungen.
Und dann begann ich die Tage zu zählen.
Tage seit er verschwunden war: Acht.
Tage bis ich sterben wollte: Fünf.
Und ich verbrachte meine letzten Tage ohne ihn und plante, wie ich sterben würde. Und ich freute mich auf meinen Tod, denn das Leben war merkwürdig und ich hatte nur die Wände um mich zu unterhalten. Aber auch ihr Schweigen in der Nacht gab mir keinen Trost.
Und am dreizehnten Tag kam er zurück. Als ob er verhindern wollte, dass ich den Platz an seinem Grab verließ. Als ich am Morgen aufwachte, lag er neben mir. Als wäre nie etwas geschehen, lag er dort und schlief. Und im ersten Moment dachte ich, dass ich schon tot sei. Doch als ich mich umsah, merkte ich, dass ich noch lebte und ich weckte ihn, denn ich wollte wissen, ob er wirklich da war. Ich rüttelte seine Schulter und spürte diese vertraute Wärme und Freudentränen stiegen in mir auf.
Und das Wunder geschah. Er machte die Augen auf, sah mich an und ich sah sein Gesicht, wie es meinem näher kam und dann spürte ich seinen Kuss. Und es war das erhebendste Gefühl, welches ich jemals gespürt hatte. Ich hatte ihn wieder, als ob er nur verreist und in der Nacht heimgekommen wäre.
Ich umarmte ihn aus purer Erleichterung, drückte ihn an mich und ich spürte, wie sein Herz höher schlug. Sein Herz schlug. Er lebte.
Und dann vernahm ich seine Stimme. Oh, seine Stimme, seine melodische Stimme; "Warum weinst du?"
"Weil du wieder bei mir bist.", sagte ich und schluchzte.
Und er lachte sein tiefes, melodisches Lachen. "Aber ich war doch nie weg."
"Doch, warst du."
Und er strich mir über mein Haar und über den Rücken. Seine warmen Finger in meinem Rücken. Seine Wärme.
"Du musst geträumt haben. Ich war die ganze Zeit bei dir."
Ja, ich musste geträumt haben, er hatte Recht. Ich nahm die Illusion eines Traumes als Wahrheit an und war glücklich und ich bemerkte nicht den Vogel, der Innen an meinem Fenster flatterte und ließ ihn nicht hinaus. Stattdessen berührte er mich und ich ließ es geschehen.
Die darauf folgenden Tage sind mir als verworrene Bilder mit schemenhaften Personen im Gedächtnis geblieben. Alle Gesichter in meinem Leben schienen verschwommen, nur seines war scharf und ich bewunderte jedes kleine Detail, genoss jeden Zug seines wunderschönen Antlitzes.
Als ob nie etwas geschehen sei, ging mein Leben seinen Gang. Jeden Tag die gleiche Routine und es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Traum, meine Illusion eines Traumes, schon fast vergessen.
Dann kam der dreizehnte Tag nach seiner Rückkehr. Und es war ein ganz normaler Tag, an dem er erneut starb. Plötzlich war wieder all sein Leben verschwunden. Und wieder tobte und wütete ich, und ich schrie und weinte und wollte sterben.
Wieder stand ich an seinem Grab, wieder sollte ich ihm meine letzten Gedanken senden, verfluchte Worte des Abschieds, und wieder weinte ich bitterlich als ich die Blume auf seinen Sarg warf und mich am liebsten in sein Grab gestürzt hätte.
Dann zählte ich wieder die Tage. Die Tage seit er verschwunden war und die Tage bis ich sterben wollte.
Und während dieser Tage kostete ich mein Dejá-vu in vollen Zügen aus. Um meinen Schmerz zu vergessen, fütterte ich den Vogel in meinem kleinen Zimmer, in dem immer noch zerrissene Bücher lagen.
Und am zwölften Abend lag ich noch lange wach, bis ich endlich einschlief, denn nun, da ich ihn schon ein zweites Mal verloren hatte, sehnte ich meinen Tod noch mehr herbei.
Am Morgen des dreizehnten Tages wachte ich auf und sah sein Gesicht ganz nah an meinem. Er war wieder da. Und ich weinte vor Freude, aber ließ ihn schlafen, denn ich wusste, dass er aufwachen würde.
Als er die Augen öffnete, sah er meine Tränen. "Warum weinst du?", fragte er mich.
"Ich hatte einen bösen Traum.", sagte ich nur, und da nahm er mich in dem Arm und vertrieb alle meine bösen Gedanken an einen Albtraum, den es nie gegeben hatte. Und der Vogel in meinem Fenster zwitscherte eine verzaubernde Melodie.
Wieder vergingen dreizehn normale Tage, jeder von ihnen mit ihm an meiner Seite.
Und am dreizehnten Tag starb er erneut. Zum dritten Mal in meinem Leben ging er von mir und mein Albtraum begann erneut.
Ich weinte, aber tobte nicht, denn all meine Besitztümer hatte ich bereits zerrissen und ich erhielt keine Befriedung meiner Wut, indem ich bereits zerstörte Sachen zu zerstören versuchte. Und ich fütterte den Vogel, und er beschmutzte meine Möbel und er beschmutzte die Wände, meine Gesprächspartner. Und wieder ging ich zu seiner Beerdigung und sollte meine letzten Gedanken an ihn senden und ich weinte bitterlich und wollte mich in sein Grab werfen.
Und die Tage verstrichen und ich zählte jeden einzelnen.
Und am zwölften Abend schlief ich schon früh ein und war ganz ruhig. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Seine Rückkehr oder mein Tod. Und beide Optionen waren mir recht.
Als ich aufwachte, lag er neben mir und ich streichelte sein Haar und sein Gesicht und als er aufwachte, nahm ich ihn in den Arm, denn ich wollte seine Wärme spüren.
Und wieder glaubte ich an einen bösen Traum und so gab ich mich wieder einer Illusion hin.
Und wieder vergingen die Tage. Dreizehn Tage genau, denn ich hatte sie gezählt.
Und er starb wieder. Erneut ging er einfach von mir, und es war schon fast makaber. Ich weinte. Ich hoffte, er würde wiederkommen. Und wieder musste ich an seinem Grab stehen und auf seinen Sarg herabblicken, in dem seine kalte Hülle gebettet war.
Und wieder zählte ich die Tage, und ich wusste nicht, worauf ich hin zählte. Seine Rückkehr oder meinen Tod? Beides war gut. Beides war erstrebenswert. An Beidem würde ich mich ergötzen.
Am zwölften Abend fütterte ich den Vogel und legte mich in mein Bett und starrte noch einige Zeit voller Furcht auf den Lichtkegel der Straßenlaterne vor meinem Fenster. Ich fürchtete fast, er würde nicht zurückkehren.
Aber er lag neben mir, als ich aufwachte und ich weinte vor Glück. Als er aufwachte, hatte ich meine Tränen schon lange getrocknet.
"Guten Morgen.", flüsterte er, küsste mich und schon lag er wieder auf mir und ich konnte seine Wärme spüren.
Dieses Mal ließ ich die Tage nicht einfach verstreichen, selbst wenn ich mir wieder eine Illusion erschuf, in der alles nur ein Traum gewesen war. Ich redete mit ihm und zeigte ihm, wie er den Vogel zu pflegen hatte, selbst wenn er es nicht gerne tat.
"Der Vogel ist dreckig.", meinte er zu mir, als ich ihn nach dem Warum fragte. Ich war empört, denn es war mein Vogel und er war mir ans Herz gewachsen, und ich wollte ihn nie wieder los lassen.
Am zwölften Abend konnte ich nicht einschlafen, denn im Prinzip wusste ich genau, was mich am nächsten Tag erwartete. Also weckte ich ihn.
"Was ist los?", fragte er mich.
"Ich kann nicht schlafen."
Er sah mich an und fragte: "Wieder einer deiner Träume?"
"Nein, ich hab' nur ein ungutes Gefühl." Und dann erzählte ich ihm von dem, was ich glaubte ein Traum zu sein, und wie ich immer wieder um ihn geweint hatte, als er Mal um Mal von mir gegangen war und wie er Mal um Mal zu mir zurückgekehrt war.
"Der wievielte Tag ist heute?"
"Der zwölfte.", antwortete ich und er nickte und schlug die Augen nieder. Dann legte er sich wieder.
"Hast du eigentlich je darüber nachgedacht, warum all dies passiert ist?" fragte er nach einer Weile der Stille.
"Nein, es sind schließlich nur Träume."
"Hm...", vernahm ich sein tiefes Brummen und als er schwieg, schloss ich die Augen, ahnend, was mich am nächsten Morgen erwarten würde.
Am dreizehnten Tag starb er wieder.
Und ich weinte und tobte und warf nun auch die letzten Reste meiner Besitztümer aus meinem Fenster. Ich hatte ihn erneut verloren. Ich bildete mir ein, alles sei nur ein Traum, damit ich bald wieder aufwachen konnte und ihn an meiner Seite spüren konnte.
Und dieses Mal zählte ich nicht die Tage bis zu meinem Tod, sondern die Tage bis ich wieder aufwachen würde.
Und der Vogel zwitscherte des Nachts eine leise Melodie, wenn ich mit meinen Wänden sprach.
Am zwölften Abend konnte ich nicht schlafen und so blieb ich die ganze Nacht wach und wartete auf ihn.
Der Morgen kam. Er kam nicht. Er kehrte nicht zurück und das Bett blieb kalt neben mir. Ich wachte nicht auf.
Ich drehte dem Vogel den Hals um und mit einem leisen Knacken starb auch er. Dann ging ich hinaus.