Danach (Anlehnend an "das Spiel", Horror/Grusel)
Sie sind da draußen. Ich weiß es genau. Sie sitzen hinter ihren Gardinen und warten darauf, dass ich das Haus verlasse. Sie lauern.
Am liebsten würde ich mich vor ihnen verstecken. Aber ich muss ja raus, das Leben geht ja weiter. Ich muss arbeiten, Tim muss in den Kindergarten.
Aber ich fahre nur noch mit dem Auto, dass sind nur drei Meter von der Haustür bis zur Garage zu gehen.
Trotzdem treffe ich auf dieser kurzen Strecke fast immer jemanden, der gerade wie zufällig vorbeikommt.
Und dann fragen sie mich. Fragen mich nach dem Warum. Und ich kann ihnen keine Antwort geben, denn ich weiß es selber nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich sehe ihnen an, dass sie mir nicht glauben.
Sie geben mir die Schuld. Wenn es keinen offensichtlichen Grund gibt, dann muss es ja schließlich meine Schuld sein.
Wenn ich dann wegfahre, dann sehe ich im Rückspiegel, wie sie die Köpfe zusammenstecken und mir hinterher sehen.
Manchmal, wenn ich Zuhause bin, dann bleiben sie vor dem Haus stehen und starren zu den Fenstern, ob sie irgendeine Bewegung ausmachen können. Da stehen sie dann und warten.
Warten und starren.
Beim Einkaufen spüre ich ihre Blicke in meinem Nacken. Sie sind immer da, seit dem Tag.
Als wenn es für mich verboten wäre jetzt noch einkaufen zu gehen.
Ab und zu klingelt es sogar an der Tür. Da steht dann einer von ihnen mit irgendeinem fadenscheinigen Grund. Und dann sehen sie an mir vorbei, über meine Schulter, recken sich die Hälse, um einen Blick auf die Treppe zu werfen. So, als würde er immer noch da sein.
Oh, er ist noch da. Aber nicht mehr physisch. Jede Minute, die ich in diesem Haus verbringe, spüre ich ihn. Überall.
Im Bad, wo noch sein Rasierzeug liegt, im Schlafzimmer, in dem sein Bett immer noch nach ihm riecht, in der Küche, wo im Kühlschrank immer noch sein Lieblingsjoghurt steht, im Wohnzimmer, im Keller, im Garten, einfach überall. Jeder Atemzug bereitet mir Schmerzen, weil die Luft mit seinem Geruch geschwängert ist. Ich werde hier wegziehen müssen.
Auch wenn ich noch nicht weiß, wie es finanziell weiter gehen soll.
Aber ich fürchte mich davor, dass ich es nicht durchhalte, wenn ich hier bleibe und ich muss ja, muss für meinen Sohn eine Mutter sein.
Am schlimmsten ist es natürlich auf der Treppe. Und ich kann sie kaum meiden. Ich muss sie täglich mehrfach hoch- und runtergehen. Und jedes Mal sehe ich dann diese Bilder, ich bekomme sie einfach nicht aus meinem Kopf. Jedes Mal, wenn ich die ersten Stufen betrete, malt meine Phantasie aus, was in den letzten Minuten passiert sein mag. Ich sehe es und kann es nicht abstellen. Immer wieder neue furchtbare Bilder.
Warum hat er das getan, warum nur? Ich brauche eine Antwort. Niemand kann sie mir geben außer ihm. Und er ist gegangen ohne ein Wort. Nie mehr wird er in diesen Räumen gehen und doch hallen seine Fußspuren überall. Ich kann sie hören, immerzu.
Was habe ich verbrochen, dass er mir das angetan hat? Mir und seinem kleinem Sohn, der ihn so sehr geliebt hat. Tim ist sehr still geworden, seit dem Tag. Er spielt nicht mehr viel. Nach dem Kindergarten verzieht er sich in sein Zimmer und malt obskure, dunkle Bilder oder er liegt auf seinem Bett, mit seinem Simba im Arm. Manchmal sucht er meine Nähe, aber es fällt mir schwer ihn zu trösten.
Ich komme nicht an ihn ran. Ich weiß, ich müsste mich intensiver um ihn kümmern, mit ihm reden. Aber wie soll ich, wenn ich mich so leer fühle? Alles ist so sinnlos. Ich kann die Sonne nicht mehr sehen, alles ist schwarz.
Die da draußen sagen:“Die Zeit heilt alle Wunden!“
Ha! Natürlich sagen sie das. Sie haben ja auch noch ihr Leben. Sie können ins Bett gehen und brauchen sich nicht vor dem Moment des Erwachens zu fürchten, der Moment in dem die Lethargie des Schlafes einen verlässt und man begreift, dass alles wirklich passiert ist.
Und dann kommen die Tränen. Jeden Morgen. Bei denen scheint bestimmt die Sonne durch das Fenster.
Der Spruch stimmt überhaupt nicht. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Es gibt Verletzungen, die nicht vernarben, sondern höchstens mit einer dünnen Kruste überzogen sind.
Und von Zeit zu Zeit platzt diese auf, und der ganze Schmerz und all die Hoffnungslosigkeit fließen heraus, wie aus einer Bergquelle die niemals versiegt.
Ich habe niemanden eingeladen, trotzdem haben sie es herausgefunden und waren da.
Viele von ihnen kannten ihn ja nicht einmal. Standen da und sprachen mir ihr scheinheiliges Beileid aus. Dabei wollten sie doch nur gaffen. Ob die schuldige Ehefrau ihrem Mann denn überhaupt eine Träne hinterher weint. Dieser Gang ist mir so schwer gefallen, vielleicht der schwerste in meinem Leben. Ich wollte dabei allein sein, mit meiner Familie und meinem Sohn, aber sie haben mich nicht gelassen.
Irgendwie habe ich diesen Tag überstanden, irgendwie habe ich alle Tage seit dem furchtbaren Ereignis überstanden, aber wie viele kommen noch? Und wie viele kann ich noch ertragen?
Es war schon schlimm als sie ihn abgeholt haben, aber zu diesem Zeitpunkt war alles noch so unwirklich, dass ich es einfach nicht richtig realisiert habe. Die Leute standen auf der Straße und hinter ihren Vorhängen. Aber als er dort in diesem Sarg lag und die ihn hinunter ließen, in das dunkle Loch, da bin ich zusammen gebrochen.
Ich habe geschrieen und meine Eltern mussten mich festhalten.
Da unten ist es doch so dunkel und kalt, da können sie ihn doch nicht lassen!
Nicht meinen Mann, meinen Schatz, meine Liebe.
Das hat ihnen Gesprächsstoff für Wochen gegeben.
Wir wollten doch zusammen alt werden, wir waren doch glücklich. Natürlich haben wir auch gestritten, aber in einem gesunden Maße. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es ihm schlecht ging und ich hätte es doch wissen müssen, als seine Frau.
Das Essen war fertig als wir nach Hause kamen. Die Wohnung sauber, die Wäsche gewaschen, aber das alles viel mir erst später auf. Welch Ironie, erst noch das Essen zu machen. Als würden wir uns dann erst mal gemütlich an den Tisch setzten und Gulasch essen.
Sollte das etwa eine letzte Gehässigkeit sein? Er war nie gehässig gewesen. Auch nicht verschlossen, wir haben immer über alles geredet.
Aber jetzt nicht mehr. Jetzt redet nur noch mein Kleiner dürftige Worte mit mir.
Aber die da draußen, die werden nicht aufgeben. Warten, lauern bis ich wieder das Haus verlasse um dann über ein banales Gespräch wie das Wetter zum Thema zu kommen.
Aber ich will nicht mit ihnen sprechen. Sie sollen mich in Ruhe lassen, alle sollen mich in Ruhe lassen.
Sie wissen doch jetzt, dass er gegangen ist. Er ist gegangen, und hat mich mitgenommen.
Er wird niemals zurück kehren. Aber ich habe eine kleine Hoffnung. Eine Hoffnung, die gerade drei Jahre alt ist. Nein, ich werde mich nicht feige aus dem Staub machen. Ich komme wieder.