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Danach
Ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Früher einmal hab ich es gewusst.
Als ich ein Kind war, wurde ein Nachbar ermordet. Die Erkenntnis, dass es tatsächlich Menschen in meiner unmittelbaren Nähe gab, die anderen so etwas antun konnten, veränderte etwas in mir. Bei einer In-Vitro-Befruchtung sieht man, wie in die Eiblase gestochen wird, damit die Samenflüssigkeit eindringen kann. In ähnlicher Weise wurde die Haut meiner vollkommenen runden Kinderwelt verletzt und etwas sickerte ein, etwas, das mir Angst machte und das grauenvoll war. Ich kann es heute so wenig benennen wie damals.
Später einmal, noch immer war ich ein Kind, sah ich in einem Film den Ausschnitt eines japanischen Puppenspiels. Alte Menschen wurden in den Wald geschickt, damit sie sich selbst töteten. Wenn sie unnütz geworden waren, mussten sie fort gehen und sich an irgendeinem Baum aufknüpfen. Die Puppen hingen sichtbar an dünnen Seilen, und obwohl sie ja noch als lebende Menschen auf der Bühne agierten, waren sie für mich bereits Tote, Erhängte mit bleichen Gesichtern, die von tiefen schwarzen Schatten gefurcht waren. Die überzeichneten asiatischen Gesichtszüge erschienen mir als im Todeskampf verzerrte Fratzen. Oft hatte mein Vater, ein Gendarm, von Erhängten erzählt, von ihrem Gestank, wenn sie wochenlang nicht gefunden worden waren, und von der Leichenflüssigkeit, die ihm manchmal ins Gesicht spritzte, wenn sie, schwer wie überreife Früchte, abgenommen wurden.
Mein Vater hatte seine Freude an schrecklichen Geschichten und er machte uns Kindern gerne Angst. Immer wieder sagte er uns mit einem Augenzwinkern, dass er, wenn er sterben würde, zurückkäme und uns an den Zehen ziehen würde, wenn wir schlafend im Bett lägen. Als er starb, war ich bereits erwachsen und hatte keine Angst mehr davor.
Ich habe als Jugendliche immer gerne Teile aus seiner Garderobe getragen, alte Pyjamaoberteile, Jacken, die mir viel zu groß waren, weiße Hemden, die an den Nähten bereits brüchig wurden. Vieles hab ich ihm einfach gestohlen, ich habe die Sachen heimlich getragen. Das war Zeichen meiner Rebellion. Später hab ich meinen Vater dann einmal um die Jacke seines Hochzeitsanzugs gebeten, da war ich schon erwachsen. Ihr altmodischer Schnitt hat mir gefallen. Der Anzug war aufbewahrt worden, da er nach meines Vaters Willen auch sein Sterbehemd sein sollte. Diese Jacke habe ich eine Zeitlang getragen, sie war aus einem festen und doch feinen Stoff, wunderbar anzufühlen und von kohligem Schwarz. An ihrem Kragen war sicher noch der Geruch meiner Haare und meines Parfums, als er in ihr begraben wurde. Das war ein Trost für mich.
Der Tod ist nichts, woran man sich gewöhnen kann, auch wenn die Filmindustrie das Töten zu etwas Alltäglichem macht. Welcher Film hätte jemals davon erzählt, wie schrecklich der Tod wirklich ist? Filme erzählen vom Töten, nicht vom Totsein. Die Helden töten möglichst viele Menschen, damit sie selbst umso stärker und letztlich unsterblich werden. Aber so ist es nicht. Jeder Mensch, der stirbt, reißt in jedem anderen Menschen die alte Wunde auf. Mit jedem Menschen, den man verliert, verliert man auch ein Stück von sich selbst. Vor einiger Zeit --- hab ich in der Zeitung gelesen, dass sie einen schwarzen Stoff entwickelt haben, so schwarz, wie es ihn noch niemals gegeben hat. Dieser Stoff ist von seiner Molekularstruktur so aufgebaut, dass sich das Licht vollkommen darin verliert. Und genauso ist der Tod: Er reflektiert nichts mehr. Für viele Menschen, die einen geliebten Menschen verlieren, ist dieses endgültige Abschneiden so schrecklich, und so halten sie in ihrem Inneren weiter Dialoge mit den Verstorbenen und können ihn auf diese Weise im Nachhinein verklären. Seine körperliches Dasein vergessen sie - seinen stinkenden Atem, seine Art zu gehen, wenn sein Lachen in Grunzen umschlägt. Mit einem Wort: Sie machen ihn in inneren Dialogen so, wie sie ihn immer gerne gehabt hätten. Oder sie drängen ihm dabei ein Problem auf, das sie ihm niemals wirklich gesagt hätten. Sie halten weiter Zwiesprache mit dem Verstorbenen, aber es hilft nur mehr ihnen selbst, nicht mehr dem, der nun kalt ist.
Ich kann mit niemandem mehr reden, auch die Wörter haben ihren geschmeidigen Glanz verloren. Sie stehen in mir herum wie schwarze Monolithe, stumm und abweisend. I see your face in every flower ... Was ist dein Gesicht, was ist eine Blume? Ich weiß, was Gesichter sind und Blumen, trotzdem versteh ich die Bedeutung dieses Satzes nicht mehr. Was ist ein Mann? Ich weiß noch, dass es zwei Geschlechter gibt, ich weiß auch, wozu es sie gibt, aber ich bin jetzt endlich kalt. Dein Atmen, dein Geruch, deine Haut, das Weiß um deine schwarzen Augen --- ah, es blendet so, es ist weg.
Wie dumm von mir, mich wegen eines Mannes zu töten. Wie dumm von mir zu glauben, dass er jetzt einen ähnlichen Schmerz empfindet wie ich. Er wollte mich nicht. Das Normalste und Alltäglichste in der Welt. Nur weil mich dieser Eine nicht mehr braucht, bin ich einfach in den Wald gegangen und hab mir einen Baum mit einem starken Ast gesucht. Wie schmachvoll und schwach. Wie lächerlich, es ihm heimzahlen zu wollen, zu glauben, dass er nun einen ähnlichen Schmerz empfindet. Und jetzt lieg ich da und weiß nicht mehr, wie ich mich fühle. Ich weiß noch das Wort Verzweiflung, aber die schützende Hülle, die alles zusammenhielt und sinnvoll machte, ist geplatzt, und es kommt da nichts heraus als fette dunkle Erde, es ist keine Genugtuung in mir darüber, dass er jetzt vielleicht auch verzweifelt ist. Ich dachte früher immer, nach meinem Tod werde ich schlechthin Alles wissen, aber ich weiß es nicht, was er jetzt tut, was er fühlt, wie er über mich gedacht und was er wirklich für mich empfunden hat und wer er eigentlich ist und es ist mir auch egal ---
Ich weiß es jetzt, nichts bleibt mehr vom Duft. Nicht hier unten.
Ich will das nicht. Ich will nicht tot sein. Ich will wieder zurück. Ich will wieder meine Haut spüren, von innen und von außen. Ich will wieder voll mit Gefühlen sein und mit Wörtern. Ich will wieder Bedeutung haben. In den Wörtern, in meinem Körper, in anderen schimmernden Körpern.
Ich w ---