Mitglied
- Beitritt
- 13.11.2005
- Beiträge
- 1
Darla
"Tim, komm schon! Du kommst sonst zu spät!"
Ich weiß, dachte er.
Er schaute auf seine Uhr. 6 Uhr 30 morgens. Er hatte noch massig Zeit.
Und trotzdem wünschte er sich, er wäre zu spät aufgewacht.
Er hatte schon darüber nachgedacht, krank zu spielen, aber das hätte nichts genützt - seine Mutter wusste komischerweise immer, ob er wirklich krank war oder nur so tat als ob.
Er drehte sich wieder um und schloss die Augen. Vielleicht würde er ja wieder einschlafen, wenn er's versuchte.
Da kam seine Mutter herein.
"Steh schon auf, Tim, es ist so ein schöner Tag draußen! Außerdem musst du zur Schule!"
Ich weiß, dachte er wieder. Er wünschte sich, er hätte sie angeschrien, aber er tat es nicht.
Als seine Mutter aus dem Zimmer ging, schaute er wieder auf die Uhr. 6 Uhr 45. Er stand auf und ging ins Bad um zu duschen und sich die Zähne zu putzen. In einer Stunde müsste er an der Bushaltestelle sein.
"Tim, kommst du jetzt runter oder nicht?" hörte er seine Mutter rufen. "Ja, ich komme!" rief er zurück.
Ein paar Augenblicke später saß er am Frühstückstisch. Er aß nichts, wie üblich. Seine Mutter wusste das, deshalb stellte sie ihm nur eine Tasse Kaffee hin.
"Also, was gibt's heute in der Schule?" fragte sie ihn: "Du schreibst heute einen Test, richtig?"
Er nickte.
"Worüber?"
"Keine Ahnung, Mama, ich hab' ihn noch nicht geschrieben!" Das hätte er sagen wollen, doch stattdessen zuckte er nur mit den Schultern und sagte: "Weiß nicht."
Seiner Mutter machte das nicht wirklich was aus. Sie wusste, dass ihr Sohn nicht sehr redselig war, und deshalb hörte sie einfach auf, mit ihm zu reden. Stattdessen schaute sie auf ihre Uhr und sagte: "Du musst jetzt los, sonst verpasst du noch den Bus!"
Vielleicht will ich das ja, dachte er.
An der Tür gab ihm seine Mutter einen Kuss und sagte: "Viel Spaß!" - "Werd' ich haben", antwortete er - eine glatte Lüge. Er würde keinen Spaß haben, das wusste er.
Er ging los zur Bushaltestelle. Jetzt wird es wieder passieren, dachte er. Sie werden da sein. Und sie werden mich sehen. Und sobald sie mich sehen, wird all das wieder losgehen, dachte er. Seit zwei Jahren passierte es fast jeden Tag, jedes Mal wenn er zur Schule ging oder das Haus verließ. Er mochte nicht einmal mehr richtig rausgehen, weil sie alle in seiner Nachbarschaft wohnten. Nicht einmal an Wochenenden oder in den Ferien.
Sie. Er wollte nicht wirklich an sie denken, aber er hatte Angst vor ihnen. Einer von ihnen war einmal sein Freund, doch als die anderen anfingen, beendete er die Freundschaft. Jetzt war er einer der Schlimmsten.
Er kam an der Bushaltestelle an und konnte sie schon rufen hören. "Schaut mal wer kommt, Mr. Klugscheißer persönlich!" - "Wer hat denn deine Klamotten ausgesucht, deine Oma?" - "Ich wette, seine Brille ist so stark, dass man damit den Yellowstone Nationalpark abbrennen könnte!" Und dann riefen sie ihm Namen zu. Fiese Namen, beleidigende Namen, verletzende Namen. Er war schon daran gewöhnt und versuchte, ihre Rufe zu ignorieren.
Er wusste nie, warum das alles losging. Okay, er war immer mehr der stille Junge und hat nicht wirklich oft mit den Anderen gespielt als er noch klein war. Aber er kam immer ganz gut mit ihnen aus. Das Ganze ging los, als sie alle dreizehn wurden. Er dachte immer, dass er damals vielleicht was falsch gemacht hatte, aber so sehr er auch versuchte, sich daran zu erinnern, da war nichts. Vom einen Tag auf den Anderen wurde er einfach zum Außenseiter.
Der Bus kam. Wie üblich stieg Tim als Letztes ein und war der Einzige, der stehen musste - niemand ließ ihn neben sich sitzen. Wieder fragte er sich, warum das alles passierte. Er stellte sich Fragen wie: Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich lieber tun sollen? Hätte ich redseliger sein sollen? Er dachte immer daran, dass es sein Fehler war. Dann dachte er über sie nach. Ein Haufen Kinder aus seiner Nachbarschaft, die in der Schule die "Coolen" waren. Er kannte ihre Namen und Adressen, hat sie aber nie besucht. Und in den letzten zwei Jahren hatten sie eine Menge Parties geschmissen, doch er war nie eingeladen.
Als der Bus an seiner Schule ankam und alle ausstiegen, war Tim immer noch nachdenklich. Er dachte an eine ganz bestimmte Person aus der "coolen" Gruppe: Darla. Seit er acht war kannte er sie ganz gut, und als die Anderen anfingen, ihn fertigzumachen, hat sie nie mitgemacht. Er wusste nicht warum, aber er bezweifelte, dass sie ihn mögen würde. Es war einfach nicht möglich - sie war cool, er ein Außenseiter! Und selbst die anderen Außenseiter in der Schule mochten ihn nicht wirklich!
Nach der Schule entschied er sich, nicht den Bus zu nehmen, sondern nach Hause zu laufen. So musste er wenigstens nicht die ganze Zeit die Beleidigungen der Anderen hören. Sie haben ihn den ganzen Tag fertiggemacht: im Unterricht, beim Mittagessen, in den Pausen. Aber sie liefen nie nach Hause, also würde ihn das etwas Zeit bringen.
Als er die Straßen nach Hause entlang ging, hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Oh nein, dachte er sich, das können sie nicht sein. Er lief schneller, denn er hatte Angst davor, die nächste Ladung Beleidigungen, fieser Namen und dummer Sprüche zu hören.
"Tim!"
Er erschrak. Nein, dachte er, das kann nicht... Er drehte sich langsam um.
"Hey, Tim!" sagte sie. Da stand sie und lächelte ihn an. Darla.
"Wie geht's dir?" fragte sie ihn.
Er rang nach Worten. Er konnte einfach nicht glauben, was hier passierte. Doch trotz seiner Schüchternheit brachte er ein "Gut" heraus.
"Hast du was dagegen, wenn ich mit dir komme?" fragte sie.
Tim schüttelte nur den Kopf. Er hatte immer noch Angst, was passieren würde. In seinem Kopf warteten die Anderen direkt an der nächsten Ecke auf ihn.
"Die Geschichtsarbeit heute war hammerschwer, was?" fragte sie ihn.
"Ja", antwortete er. Er konnte ihr immer noch nicht in die Augen sehen, aus Angst, was passieren würde.
"Ich habe sicher nicht eine richtige Antwort! Ich hätte besser lernen sollen!" Sie redete weiter. Er wollte sie fragen, warum sie denn mit ihm redete, doch er fürchtete sich zu sehr. Was, wenn sie ihn dann auch fertigmachen würde, wie die Anderen?
"Hey, hast du eigentlich noch den kleinen Teddybär, den du damals hattest?" fragte sie ihn. Er wurde rot - er dachte nicht, dass sie über was Anderes als die Schule reden würde. "Ja, hab' ich", sagte er. Er fragte sich, warum sie das wissen wollte. Wollte sie neues Futter finden, mit dem die Anderen ihn fertigmachen könnten?
"Ich wünschte, ich könnte ihn mal wieder sehen", sagte sie: "Wie hieß er noch?"
"Benny."
"Richtig, Benny! Er war so süß!" Sie redete weiter: "Irgendwie hatte ich einen Narren an ihm gefressen."
Er konnte nicht glauben, dass sie das alles noch wusste. Sie haben seit drei Jahren nicht mehr miteinander geredet, doch sie wusste es immer noch.
"Ich kann ihn dir ja zeigen", hörte er sich selbst sagen. Er bereute er sofort.
"Wirklich? Oh, das wär' spitze!" antwortete sie. Sie lächelte ihn immer noch an.
Sie gingen weiter. Den ganzen Weg zu Tims Haus über schwitzte er wie verrückt. An jeder Ecke befürchtete er, die Anderen würden dort warten. Und den ganzen Weg über fragte er sich, warum Darla auf einmal wieder mit ihm redete. Er konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass sie ihn reinlegen wollte.
Als sie an seinem Haus ankamen, war Tims Mutter überrascht: "Darla! Es ist so lang her, dass du hier warst!"
"Hallo, Mrs. Williams!" antwortete Darla.
Sie gingen direkt in sein Zimmer. "Tschuldige die Unordnung", sagte er zu ihr: "aber ich hab' noch nicht aufgeräumt."
"Nah, das ist okay! Mein Zimmer ist auch chaotisch", antwortete sie und lächelte noch immer. "Nun, wo ist Benny?"
"Da." Tim zeigte auf sein Bett. Darla nahm den Teddybär direkt vom Kissen.
"So süß! Genau wie ich ihn in Erinnerung hatte!" sagte sie. Dann setzte sie sich auf sein Bett und er sich auf seinen Schreibtischstuhl. Sie schwiegen sich eine Weile an.
"Hey", sagte Darla schließlich: "Tut mir leid, was die Jungs da mit dir machen. Ich hab' schon versucht, mit ihnen zu reden, aber sie hören einfach nicht zu." Sie sah ziemlich ernst aus.
Jetzt war Tim überrascht. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Er geriet durcheinander und suchte die richtigen Worte: "Du meinst-"
"Es ist nicht fair von ihnen. Du hast ihnen doch nichts getan!" Darla hörte sich etwas traurig an: "Ich kann's nicht sehen, wenn du so verletzt wirst."
Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Er konnte die Tatsache einfach nicht glauben, die jetzt so klar schien: dass Darla ihn mögen könnte. Keiner mag mich, dachte er. Er fühlte sich immer schlechter und wünschte sich, er hätte sie nie hierher gebracht.
"Ich weiß, was du denkst", machte sie weiter: "Warum hängt sie eigentlich mit diesen Schweinen rum?" Sie machte eine kurze Pause und redete weiter: "Sie sind nicht wirklich böse, weißt du? Sie können ganz nett sein, wenn sie wollen. Ich kann’s auch nicht verstehen, warum die dich so fertigmachen."
Er schaute sie an. Sie sah richtig traurig aus. Irgendwie fühlte er sich, als müsste er was tun, also setzte er sich neben sie, auf sein Bett, und nahm ihre Hand. Er versuchte, etwas zu sagen, konnte aber nicht die richtigen Worte finden.
"Hör zu", sagte Darla: "Jedes Mal, wenn sie dir wehtun, dann tun sie mir auch weh! Ich kann’s einfach nicht ertragen, das mit anzusehen." Er sah eine Träne in ihrem Auge. Er suchte ein Taschentuch, aber sie machte weiter: "Vielleicht ist es, weil... weil ich dich gern hab'", sagte sie leise und fing an zu weinen.
Jetzt war er durcheinander. Er wusste nicht, was er tun, geschweige denn was er denken sollte. Instinktiv nahm er sie in seinen Arm. Ein paar ihrer Tränen tropften ihm auf die Schulter, Dann suchte er nach den richtigen Worten. "Hey", sagte er schließlich: "Hast du Freitag Abend eigentlich schon was vor?"
Darla schluchzte. "Nein, warum?" fragte sie.
"Ich hab’ mich gefragt, ob..." Er zögerte und fragte sich, wie sie reagieren würde.
"Ja?"
"... ob du vielleicht mit mir ins Kino gehen willst."
Darla lächelte wieder. "Ja, das würde ich gern!" sagte sie.