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Darlene
„Dass auch Frauen so was machen ...“
Ich sauge an meiner Benson & Hedges Lights und sehe nach draußen. Es schneit. Der erste Schnee im neuen Jahr.
„... ich meine ja nur.“
Meine Augen wehen ihn grau an, obwohl sie eigentlich grün sind. Er räuspert sich.
Wie sehr Schweigen einen Menschen verunsichern kann. Selbst einen Menschen wie den hier, der kaltblütig genug ist, einen anderen Menschen töten zu lassen.
„Ja, äh. Dann wäre soweit alles geklärt?“
Ich lüpfe eine Augenbraue. Die coole Masche zieht ausgezeichnet und macht wie immer großen Spaß. Für einen Moment ist er verwirrt. Dann lacht er. Ein bisschen zu laut, ein bisschen zu übertrieben amüsiert.
„Das Geld, haha, aber sicher.“
Ich stecke den Umschlag ein.
„Wollen Sie nicht nachzählen?“
„Wollen Sie, dass der Job erledigt wird?“
Er stutzt: „Äh. Ja ...“
„Glauben Sie, das wird er, wenn die Kasse nicht stimmt?“
Sein Mund öffnet sich karpfenartig. Mehr als warme Luft kommt aber nicht raus. Gut. Ich stehe auf.
„Ich ... ich zähl auf Sie“, stammelt er mir hinterher.
Mein Lachen ist hässlich. Verzählt, Fischgesicht.
Schneeflocken landen auf meinem Gesicht. Hauchen ihr Leben aus auf der Hitze meiner Haut.
Rinnen geschmolzen über meine Wangen. Feuchte Schneeflockenleichen.
Ich habe noch nie einen Menschen getötet.
Der Mann, der noch immer in Dana`s Coffeeshop sitzt und mir benommen durch die beschlagenen Fenster hinterher schaut, wird gleich festgenommen. Diese Nacht wird er im Gefängnis verbringen. Seine fleischigen, kurzen Finger um die Gitterstäbe gewickelt. Er wird sich wünschen, eine Schneeflocke zu sein. Denn die ist draußen. Und frei.
Vielleicht kommt er noch mal kurz raus. Auf Kaution. Geld hat er ja. Noch mal ein bisschen Freiheit schnuppern. Um sie dann aufzugeben. Viele lange Jahre. Vielleicht für immer. Der Jüngste ist er schließlich nicht mehr.
50 000 Dollar wärmen mich durch die Innentasche meines Mantels. 50 000 Dollar in bar. Mein Honorar. Für die Ermordung seiner Stieftochter. Es ist gar nicht sein Geld. Es ist das Geld seiner Frau. Taschengeld. Wenn die Frau stirbt, erbt die Tochter. Nicht er. Zumindest nicht den Löwenanteil. Mehr weiß ich nicht. Will ich auch nicht wissen.
Ich habe ein Foto der Tochter in einem kleinen Folder in meiner Umhängetasche. Und zwei Din A4-Blätter, auf denen alles steht, was ihrem Stiefvater zu ihr eingefallen ist: Was sie gerne mag, wann sie wo ist. Und vor allem, wann sie wo alleine ist. Und wie man am besten dahin kommt, wo sie alleine ist.
Das Mädchen ist neunzehn und heißt Darlene.
Ich werde den Folder mit dem Foto und den beiden Din A 4 Blättern gleich abgeben. Beweismaterial.
Ich will mir das Mädchen noch mal anschauen.
Ich setze mich ins Auto und krame das Foto hervor. Meine Hände plötzlich seltsam klamm. Mein Herz plötzlich seltsam klamm. Das Mädchen sieht mich an, und für einen Augenblick denke ich, daß ich das bin, auf dem Foto.
Ich habe ihr das Leben gerettet. Darlene wird nicht sterben, wie ihr Stiefvater es vorgesehen hat. Der wird gerade verhaftet. Und ich lasse mir gleich von Marty die Kabel und das Mikro vom Körper fieseln. Ich bin eine Auftragsmörderin, die nicht tötet. Eine Hochstaplerin, die Leben rettet.
Die bunten Corn Loops klimpern in die blaugrüne Glasschale. Ich benetze sie mit einem kleinen milchigen Bach. Lustig ploppen sie an die weiße Oberfläche, tummeln sich wie eine Schwimmreifenversammlung im Freibad.
Eigentlich habe ich keinen Hunger. Es schneit noch immer. Dicke, träge Flocken, die sich viel Zeit lassen auf ihrer Reise nach unten.
Darlene ist neunzehn und hat viel Geld. Noch mehr Geld, wenn sie ihre Mom beerbt. Wenn ich so viel Geld hätte, wäre ich glücklich. Glaube ich.
Darlene ist unglücklich. Vielleicht weil sie so viel Geld hat. Vielleicht wäre sie gerne gestorben. Vielleicht habe ich ihr gar keinen Gefallen getan. Vielleicht bin ich neidisch auf Darlene. Vielleicht hätte ich sie gern getötet.
Ihr Stiefvater hat mich komisch angeschaut, als er mich begrüßt hat in Dana´s Coffeeshop. Ganz seltsam. Als würde irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Ich dachte schon, der riecht was. Aber das war es nicht.
Ich sehe ihr ähnlich.
Blonde Haare, bis zur Schulter. Leicht strubbelig. Eckiges Gesicht. Markante Wangenknochen. Mürrischer Blick. Kleine, fein geschwungene Lippen, trotzig zerknittert.
Ganz genau sehe ich sie vor mir. Ich vor zehn Jahren.
„Sie heißt Darlene“, hatte er gesagt und ich hatte mich fast gewundert, dass sie nicht genauso hieß wie ich.
Ich habe gute Arbeit geleistet. Sagen die Kollegen. Wie immer die in mich gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht. Ich sei halt ein Profi. Fast schon zu gut, um wahr zu sein.
Früher hat mich ihr Lob high gemacht. Jetzt gehört es wie Rührei zum Frühstück. Ich weiß, dass ich gut bin.
„Darlene sieht dir nicht ähnlich.“ Sagt Ramon.
„Doch, auf dem Foto sieht sie mir total ähnlich!“
Ramon kräuselt die Stirn. „Sie sieht Dir null ähnlich.“ Er lacht verwundert und schüttelt den Kopf: „Sie hat kurze Haare, du lange. Ihre sind braun. Deine blond. Sie ist ein bisschen pummelig, du bist schlank...“
„Dann hast Du eben ein anderes Foto gesehen als ich!“
Er zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf noch ein bisschen weiter:
„Es war gar kein Foto von ihr in der Mappe.“
Scheisse, es muß noch im Wagen liegen. Unter dem Sitz vielleicht?
„Irgendwann, vielleicht sogar jetzt im Moment, wird mal mein Foto über den Tisch gereicht werden.“ Sage ich, und eine Gabel voll lauwarmem Rührei verschwindet zwischen meinen Zähnen.
„Hm?“ Ramon sieht mich an. Sieht durch mich hindurch. Ich möchte abwinken und „Hach, nichts“ sagen. Stattdessen trinke ich einen Schluck Kaffee und tu so, als hätte ich ihn nicht gehört.
„Was meinst du?“
Ich stehe auf. Er weiß, was ich meine. Es ist Zeit.
Ramon kommt mir nach: „Hey, was ist los?“
„Ich höre auf.“, sage ich. „Jetzt.“
„Was?“
„Ich kündige.“
Ramon, mein Chef, muß husten. „Bist du bescheuert? Du bist die Beste. Du ... du kannst nicht kündigen.“
Ich ziehe mir meine Mütze über. „Doch. Es muß sein. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.“ „Zu spät? Was faselst Du da?“
Ja, was? Was fasle ich da eigentlich? Ich weiß nicht genau, was ich da fasle. Ich weiß nur, dass ich recht habe. Ich muß weg. Schnell.
Als ich die Tür des Cafes aufreiße, schneidet die Winterluft eisig in mein Gesicht.
Wie dem Tod entkommen, wenn man nicht weiß, wo er lauert? Lauert er überhaupt? Oder werde ich langsam wahnsinnig?
Das viele Alleinsein, das Schlüpfen in fremde Rollen: Nagt es an meinem Geisteszustand?
„Du kannst nicht kündigen, das geht jetzt nicht. Ich habe einen Job für dich. Einen Wahnsinnsjob. Was Neues. Was Anderes. Du .. .du bist die Einzige ...“
Ramon keucht mir feuchtwarm in den Nacken.
„... verdammt! Du kannst jetzt nicht kündigen!“
„Dann nehme ich eben Urlaub. Ich brauche Urlaub. Ich muß hier weg. Ich kann diesen beschissenen Schnee nicht mehr sehen!“
Kann man seinem Schicksal entgehen? Oder gibt es für jeden Menschen nur ein einziges?
Bunte Corn Loops ertrinken in schaler H-Milch. Sie saugen sich voll und gehen unter.
Ich nehme einen Flieger nach Mexiko. Tijuana sehen und sterben. Im Flieger trinke ich Tomatensaft. Er schmeckt abgestanden. Tot.
Ich habe keine Angst.
Neben mir sitzt ein Mann im Anzug. „Machen Sie Urlaub in Mexiko?“, fragt er mich.
„Mal sehen.“, antworte ich. „In erster Linie bin ich zum Jagen dort.“
Er sieht mich merkwürdig an.
„Kennen wir uns von irgendwo her?“, frage ich.
„Nicht, daß ich wüßte.“, sagt er. Nein. Er kennt mich nicht. Nicht mal von einem Foto.
Ich lehne mich zurück und er liest weiter im Wall Street Journal. Gibt es eine Börse in Mexiko?
Ich wollte schon immer mal nach Mexiko. Schon als kleines Mädchen. Gold suchen. In den Ruinen der Inka. Aber damals hatte ich kein Geld für den Flug. Und als ich dann welches hatte, hatte ich keine Zeit mehr. Jetzt hatte ich beides.
In Mexiko war es warm. Und mit jedem heissen Tag am Strand verblassten Darlene und der Gedanke an einen braunen Umschlag, der irgendwo über einen Tisch gereicht worden war.
In ihm ein Foto. Eines von mir.
Ich lag auf meinem Liegestuhl und schaute. Ich lief am Strand entlang und schaute. Ich saß auf der Terrasse meines Hotelzimmers und schaute. Ich lief durch die Strassen und schaute. Ich saß in der Hotelbar und schaute. Ich war zwei grosse Augen auf Beinen.
Auf einmal war es schattig.
„Du stehst mir im Licht.“, sagte ich.
„Zu viel Sonne ist ungesund.“ Er setzte sich neben mir in den Sand. „Ich bin Frank.“
„Mir egal.“
Er grinste mich an, und ich merkte, daß ich log.
„Ich bin Darlene“, sagte ich, und ich merkte, daß ich schon wieder log.
„Darlene...?“ Er nahm die Sonnenbrille ab. Seine Augen waren grau, obwohl sie eigentlich blau waren. „Freut mich.“
Er wußte, daß ich log. Und ich wußte, daß er es wußte. Aber wußte er auch, daß ich wußte, daß er es wußte?
Ich grinste ihn an. Er gefiel mir. Er trug eine weite Leinenhose und einen nackten Oberkörper.
„Wie lange machst Du das schon?“
„Was?“
„Bademeister an einem Strand in Mexiko?“
Er lacht. „Ich mache Urlaub.“
„Ich hätte gedacht, Du bist beruflich hier.“
„Warum?“
„Nur so.“
Wer ist die Katze, wer die Maus? Er gefällt mir. Ich finde ihn sexy. Er holt jedem von uns ein riesiges Glas Caipirinha. Während ich es trinke, wir reden und ich ihn anschaue, versuche ich mir vorzustellen, wie es ist, mit ihm zu schlafen.
„Darlene ...“, sagt er, „... was machst du so, um dir einen Urlaub wie diesen zu leisten?“
„Nicht viel.“, sage ich, lüge ich. „Ich habe reiche Eltern. Vielmehr meine Mutter. Stinkreich ist die. Mein Vater ist tot. Ich werde alles erben. Bin eine gute Partie, Frank.“
Ich möchte ihn fragen, ob er wirklich Frank heißt, und ob er beruflich „so dies und das“ macht. Aber meine Zunge ist auf einmal schrecklich schwer und klebt am Gaumen.
„Hast Du da Gift rein?“ Ich schwenke mein fast leeres Glas. Das war dumm, das zu trinken.
„Warum sollte ich eine so gute Partie vergiften?“
Es ist dunkel, und wir tanzen. Es ist nicht er, der mich reizt.
Du mußt den Tod nicht suchen. Wenn es Zeit ist, dann findet er dich.
Frank ist nicht mehr als eine Figur auf einem Schachbrett. Morgen werde ich sein Gesicht vergessen haben, und auch das, was er mir erzählt. Wenn es ein Morgen gibt.
Ich bin wachsam. Jeder Sinn ist scharf wie ein Skalpell. Er denkt, ich sei betrunken. Ich bin so klar wie nie zuvor. Wir gehen auf sein Zimmer.
„Wann willst Du es tun?“, frage ich.
„Was tun?“
Meine Augen werden zu Schlitzen. Ich küsse ihn. Seine Hand legt sich in meinen Nacken. Sein Daumen schmiegt sich an meinen Kehlkopf. Seine Finger sind kleine Würgeschlangen, wie niedliche Boa-Constrictor-Babys kriechen sie geschmeidig um meinen Hals.
„Du hast es von Anfang an gewußt.“
Er ist über mir. Ich liege auf dem Boden. Hart drücken die Fliesen gegen meine Schulterblätter. Meine Augen strahlen blau. Ich spüre es. Obwohl sie eigentlich grün sind. „Warum?“ fragt er. „Warum bist du mit hierher gekommen? Willst Du sterben?“
Ich lächle. Will ich sterben?
„Warum hast du keine Angst?“
„Wovor sollte ich Angst haben?“
„Die Menschen haben Angst vor dem Tod. Du nicht?“
„Doch.“
„Und...? Warum hast du jetzt keine Angst? Jetzt, wo er dir direkt ins Gesicht schaut?“
„Ich habe keinen Grund dazu.“
Das versteht er nicht. Du wirst es nicht mehr verstehen, Frank.
„Möchtest Du noch was loswerden? Einen letzten Wunsch? Noch eine Zigarette vielleicht? Oder ein Gebet?“ Er grinst zynisch.
„Du hast gefragt, was ich beruflich mache.“
Seine Finger graben sich in meine Haut.
„Ich hab dich angelogen.“
„Das weiß ich doch.“
„Ich bin Jägerin.“
Sein Lachen klingt hämisch. Das Atmen fällt mir schwer.
„Das sehe ich.“
„Und du“, röchle ich, „bist meine Beute."
Ob er die metallene Kälte des Revolverlaufs an seiner Schläfe noch gespürt hat, so ganz kurz bevor ich abdrücke?
Franks halber Kopf sinkt rot sprudelnd auf mich. Ich werde einen netten Platz für ihn an der Küchenwand finden. Schade, daß er kein Geweih hat.
Ich sitze gegen den Bettpfosten gelehnt am Boden und fixiere einen Batzen Hirnmasse, der langsam die rauhe, gekalkte Wand heruntergleitet und burgunderfarbene Schlieren hinterläßt.
An meinem Hals ist nichts zusehen. Keine roten Spuren. Er tut nichtmal weh.
Vielleicht hatten Franks Finger gar nicht zugedrückt. Vielleicht hat er gar nicht das gesagt, was ich gehört habe.
Ich finde kein Foto von mir in Franks Gepäck, zwischen bunten Urlaubshemden, Sommerhosen und einem Reiseführer. In seinem Geldbeutel stecken Visitenkarten:
Frank Raleigh-Financial Consultant.
Vielleicht ist Frank einfach nur ein harmloser Typ gewesen, der mich toll fand. Ein armes Schwein, das eben dran glauben mußte. Nur weil ich wissen wollte, endlich wissen wollte, ob ich das sein konnte, was ich jahrelang vorgegeben hatte zu sein: ein Killer.
Leer. Ich warf die Corn Loops-Schachtel in den Mülleimer. Die Zeit der Corn Loops war ohnehin vorbei. Sie hatten mir sowieso nie wirklich gut geschmeckt. Es war nur so praktisch und bequem gewesen, sie zu essen. Befriedigt hatten sie mich nie.
Mein Magen kribbelt, wie damals mit zwanzig, als ich das erste und letzte Mal richtig verliebt war. Ich werde in Mexiko bleiben. Die Auftragslage ist hier sicher gut.
Ich hatte Recht gehabt. Es ist Zeit. Höchste Zeit für einen neuen Job.
Einen neuen Namen habe ich ja schon.