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Das alte Haus

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20.02.2005
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Das alte Haus

Das alte Haus war fast dreihundert Jahre alt. Über allen Fenstern befanden sich geschnitzte Figuren, die fürchterliche Grimassen schnitten. Sogar die Dachrinne wurde von einem gedrechselten Drachenkopf verziert. Alle anderen Häuser der Straße, saubere Neubauten, schienen das alte Nachbarhaus zu verachten.
In einem der schönsten Häuser saß ein kleiner Junge am Fenster. Er mochte das alte Haus sehr. Es bereitete ihm Freude, die grimassenschneidenden Köpfe und den Drachen an der Dachrinne auf Papier nachzuzeichnen. In dem alten Haus wohnte ein alter Mann, den, außer einem alten Diener, kaum jemand je zu Gesicht bekommen hatte. Manchmal schaute der alte Mann jedoch aus dem Fenster. Dann nickte der Junge ihm freundlich zu. Der Mann erwiderte den Gruß. So wurden sie Freunde, ohne je ein Wort miteinander gewechselt zu haben. Die Eltern des kleinen Jungens behaupteten: - Dem Alten geht es gut. Schade, dass er immer
allein ist.
Eines Sonntags lief der Junge mit einem Päckchen unter dem Arm auf die Straße und bat den Diener des Alten: -Ich möchte deinem Herrn einen meiner Zinnsoldaten schenken, damit er
nicht mehr so allein ist.
Der Beschenkte ließ sich nicht lange bitten und lud den Jungen zu einem Besuch ein. Als er klopfte, wurde er eingelassen. Von innen war das Haus sauber. Im Korridor hingen Bilder von Rittern in ihrer Rüstung und Damen in Seidenkleidern.
Der Junge betrat das Zimmer, in dem der Alte saß und das Wort an ihn richtete:
- Dank für den Zinnsoldaten und deinen Besuch.
- Ich ließ den Zinnsoldaten bringen, damit du etwas Gesellschaft hast. Du bist immer allein.
- So allein bin ich nicht. Meine Erinnerungen begleiten mich.
Mit diesen Worten schlug er ein Fotoalbum auf, in dem Hochzeiten und Kutschen, aber auch Soldaten und Fahnen zu sehen waren. Während der Junge die Bilder betrachtete, holte der alte Mann aus einem anderen Zimmer Marmelade, Äpfel und Nüsse.
- Dieses Leben könnte ich niemals ertragen, meldete sich der Zinnsoldat, der auf einer Truhe stand. Wie traurig hier alles ist- so einsam und verlassen!
- Daran musst du dich gewöhnen, antwortete der Junge. Höre auf zu jammern! Mir gefällt es hier.
Einige Zeit später besuchte der Junge ein zweites Mal das alte Haus.
- Ich halte es nicht mehr aus. Beschwerte sich der Zinnsoldat. Hier ist es traurig! Öde! Stattdessen ziehe ich lieber in den Krieg. Jetzt weiß ich, was Erinnerungen sind. Auch meine sind zurückgeehrt. Ich sehe vor mir das fröhliche Leben, das ich früher geführt habe und wünsche mir, ich wäre wieder bei den anderen Spielsachen im Haus gegenüber.
- Aber du gehörst mir nicht mehr! Erwiderte der Junge. Damit musst du dich abfinden.
Mittlerweile war der Alte hinzugetreten und breitete erneut eine Reihe Bilder aus. Danach spielte er auf einem Spinett und summte zur Melodie eines alten Liedes.
- Auf in den Krieg! Auf in den Krieg! Schrie der Zinnsoldat und stürzte von seiner Truhe in die Tiefe und fiel dabei in eine spalte neben dem Kamin.
Der alte Mann und der Junge suchten ihn lange- vergeblich.
Einen Monat später hielt der Winter Einzug. Der kleine Junge sah durch das Fenster auf das alte Haus, das nun ganz mit Schnee bedeckt war. Der alte war wenige Tage vorher gestorben. An diesem Abend brachte ein Leichenwaagen einen Sarg. Die Beerdigung sollte auf dem Land stattfinden. Niemand folgte dem Wagen. Alle Freunde des Alten waren bereits tot. Nur der leine Junge warf ihm mit seinen Fingerspitzen einen Kuss zu. Schon im darauffolgenden Frühjahr wurde das alte Haus abgerissen.
Einige Jahre später zogen Arbeiter auf dem Platz, wo zuvor das alte Haus gestanden hatte, ein großes neues Haus empor.
Hier zog der junge ein, der unterdessen ein Mann geworden war und schließlich heiratete.
Eines Tages sah er seiner Frau zu, die im Garten eine Blume pflanzte. Plötzlich zog sie ihre Hand zurück und stieß einen Schrei aus: etwas Spitzes hatte sie in den Finger gestochen. Das war der Zinnsoldat, der von den Trümmern unter der Erde begraben worden war.
- Zeig ihn her sprach der Mann. Ach nein, das war er nicht!
So kam es, dass er seiner Frau von dem alten Haus erzählte. Mit Tränen in den Augen hörte sie zu.
- Warum soll es nicht derselbe Soldat sein? Auf alle fälle behalten wir ihn. Kannst du mir das Grab des alten Mannes zeigen?
- Nein ich weiß nicht, wo er begraben wurde?
- Wie schrecklich es sein muss, so einsam zu sein!
- Wirklich schrecklich, dachte sich der Zinnsoldat. Aber trotzdem ist es besser, allein zu sein, als vergessen zu werden.

 

Hallo an alle!
Ich wünsche euch viel Spass beim Lesen!

fg rielu

 

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