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Das Aquarium
Gerd hatte den wuchtigen Schrank endlich zerlegt. Seine Gelenke schmerzten. Den Vorschlaghammer hielt er noch in der rechten Hand. Er war jetzt unnütz geworden, gab es doch nichts mehr, was er zerschmettern konnte.
Die Verzierungen an den Türen, teilweise pulverisiert, teilweise zur Unkenntlichkeit zerbrochen, befanden sich auf der Plastikplane, die Gerd über dem Wohnzimmerteppich ausgebreitet hatte.
Bretter lagen hier und da, Glassplitter schimmerten müde in der untergehenden Wintersonne. Opas Schrank gab es fortan nicht mehr, genauso wie es Opa fortan nicht mehr gab.
Auch wenn seine Frau es respektlos fand, aber die Zerstörung dieses hässlichen Dings war lange genug hinausgezögert worden. Den Leichenschmaus hatte Gerd appetitlos überstanden, die Verabschiedung von den Trauergästen war anstrengend, aber höflich ausgefallen.
Dann war er in das Haus gefahren, und hatte den Hammer aus dem Keller geholt. Bald sollte hier ein Aquarium stehen.
Höhnisch ragte das schwächste Überbleibsel des Möbelstücks noch immer empor. Im Gegensatz zu dem massiven Schrank wirkte die dünne Spanplatte der Hinterwand geradezu lächerlich.
Gerd trat über die von ihm verursachten Trümmer hinweg, stellte sich seitlich zu der Platte, und warf sie um.
Mit einem dumpfen Geräusch landete sie auf dem Rest des vergangenen Kolosses und gab eine klinkenlose Tür an der Wand frei.
Gerd ließ den Hammer fallen, atmete tief durch, und vergewisserte sich, dass er richtig sah.
Wieso war da eine Tür?
Er bemühte sich um eine gedankliche Außenansicht des Hauses, aber räumliches Vorstellungsvermögen war noch nie sein Steckenpferd gewesen.
Mit seiner Hand tastete er das rauhe Holz ab, ohne davon einen erkennbaren Nutzen zu erwarten. Dann ging er zum Fenster, öffnete es und lehnte sich seitlich nach draußen.
Einige Vögel zwitscherten in der großen Birke, die im Garten stand. Von ihren Plätzen aus sahen sie, was Gerd jetzt gerne gesehen hätte. Er fragte sich, ob es hinter der Mauer noch genügend Ausbuchtung gab, um eine versteckte Tür im Wohnzimmer rechtfertigen zu können.
Als er beinahe aus dem Fenster stürzte, sich gerade noch am Rahmen festhalten konnte, beschloss er, in den Garten zu gehen.
Er schaltete das Licht auf der Terrasse ein und lief über den nassen Rasen, vorbei an der Birke, hin zur Außenseite des Gebäudes. Der Kaminschacht führte von hier aus nach oben und mündete in einem dunklen Schornstein.
Für den rationellsten Menschen hatte Gerd seinen Opa nie gehalten, aber eine Tür, durch die man den Kamin betreten kann?
Er überlegte, wie lange dieser hässliche Schrank da an der Wand gestanden hatte. Dreißig Jahre waren es mindestens gewesen.
Und davor?
Ein davor gab es in seiner Erinnerung nicht. Als Kind war er oft in dem Haus gewesen, viel öfter als in den vergangenen Jahren; aber der Schrank gab sich ihm allgegenwärtig.
Er ging zurück nach drinnen, betrat die Küche und suchte nach einem Gegenstand, mit dessen Hilfe er sich Gewissheit verschaffen konnte.
Der Vorschlaghammer fiel ihm wieder ein, und er verließ die Küche.
Das Knarren der geschwungenen Treppe war ihm nie zuvor so eindringlich erschienen. Überhaupt spürte Gerd ein nicht unangenehmes Herzrasen und eine gewisse Vorfreude. Er fühlte sich plötzlich als Entdecker.
Die Sonne war inzwischen untergegangen. Das Restlicht verwandelte den Raum in ein wirres Schlachtfeld, in das sich bei jedem Schritt das Geräusch der knirrenden Plastikplane mischte. Gerd schaltete auch hier das Licht ein. Dann griff er nach dem matten Stiel.
Der Hammer preschte zweimal auf das Holz ein, ehe es brach und einige seiner Splitter sich zu denen des Schrankes gesellten. Die meisten jedoch fielen in die schwarze Tiefe vor ihm.
Irgendwie hatte Gerd mit einer ganzen Menge irrationaler Dinge gerechnet, tatsächlich verbargen sich da aber bloß die schwachen Konturen des engen Schachtes.
Nur das Seil irritierte ihn. Lustlos baumelte der Strick von oben herab.
Gerd musste unwillkürlich an eine Feuerwehrstange denken. Er griff nach dem Seil und zog daran.
Es schien fest, obwohl er sich in dieser Hinsicht alles andere als sicher war.
Trotzdem hängte er sich daran, baumelte, schlug mit einer Schulter gegen die Kaminwand.
Dann riss der Strick und Gerd stürzte zwei Stockwerke tief in den Keller. Etwas weiches linderte seinen Aufprall.
Es tat weh, aber nicht besorgniserregend.
Kissen, ich bin auf Kissen gelandet, ging es Gerd durch den Kopf.
Er fühlte nach dem Untergrund und wusste gleichzeitig, dass Kissen sich anders anfühlen.
Er blinzelte einige Male, und als sich immer noch keine Sehkraft einstellen wollte, bekam er Panik.
Wild fuchtelte er mit seinen Armen herum und stieß an eine Kordel, an der er reflexartig zog.
Eine kleine Glühbirne leuchtete auf, und gab einen grauen Gang preis, an dessem Ende sich eine Tür befand.
Diesen Teil des Kellers hatte er ganz zweifellos noch nie zu Gesicht bekommen.
Entsetzt starrte Gerd erst den Gang entlang, dann auf das, auf dem er lag.
Er sah einen Haufen Wäsche, der zweifellos von einer alten Frau stammte. Unerotische Schlüpfer, breite Kleider, Strickjacken und biedere Röcke. Alle diese Sachen hatten eins gemeinsam: Sie stanken geradezu widerlich.
Gerd stand auf, kämpfte gegen den aufkommenden Schwindel an, und schritt den einfarbigen Gang entlang, der von der umherschwingenden Birne in bizarre Schattenmuster getaucht wurde.
Gemächlich glitten die Wände an ihm vorbei.
Seine zitternden Hände legten sich um den altmodischen Knauf.
Klackend öffnete sich erst das Schloss, dann die Tür.
Die gedämpfte Lichtquelle am Wäscheberg gelangte lediglich in Form eines schwachen Kegels hierher, der sich um seine Füße herum ausbreitete und sich in der Finsternis des Raumes vor ihm verlor.
Gerd hörte ein Keuchen, und die Panik kehrte zurück.
Mechanisch tat er einige Schritte zurück in den grauen Gang, und erst jetzt bemerkte er, dass es eine abscheuliche Tapete war, auf die er starrte, und nicht nackter Stein. Hier und da ließen sich wellenartige, verblichene Muster ausmachen.
"Wer ist da?", röchelte es aus der Dunkelheit vor ihm.
Gerd drehte sich auf der Stelle um und lief zurück zu der Wäsche. Verzweifelt griff er nach dem abgerissenen Seil.
Weiter oben sah er den Lichtschein, der vom Wohnzimmer aus in den Schacht drang.
Seine Hände verkrampften sich um das Ding, das ihn eben noch an eine Feuerwehrstange erinnert hatte, jetzt aber bloß noch nutzlosen Tand darstellte.
"Henry ... bist du das etwa?", kam die röchelnde Stimme von hinten. Sie, und das schlürfende Geräusch, das sie mit sich brachte; beides war bereits viel zu nah.
Gerd wollte sich nicht umdrehen. Wenn sie von Henry sprach, war das dann ...
"Oma? Aber du bist doch ..."
Gerd war sich nicht sicher, ob er den Satz wirklich zuende führen sollte.
Eiskalte, knochige Finger schlossen sich um seine fetten Hüften und drehten ihn um.
Dann sah er seine Oma.
Zumindest ging er davon aus, dass sie es einmal gewesen war.
Das Gesicht war kaum noch als solches zu erkennen.
Ein Auge quoll hervor und streichelte feucht über seine linke Wange, den Blick gierig auf Gerds Nase gerichtet, die von den Fingern gerade zerquetscht wurde.
"Komm´ mit mir, süßer Junge."
Er ließ sich durch den Gang schleifen, erhaschte einige Fragmente. Tische mit Sägen, Stühle mit Nägeln, eine Luke. Überall Blut.
"Henry wird uns über die Futterluke versorgen. Mich hat er niemals vernachlässigt."
Die Tür schloss sich.
Gerd schrie.