Mitglied
- Beitritt
- 19.08.2006
- Beiträge
- 50
Das Böse im Spiegel
Das Böse im Spiegel
Tim betrachtete mit großer Angst das Gesicht im Spiegel. Im Neonlicht erschien es fahl. Es war nicht seins, dass wusste Tim genau. Es sah zwar aus wie sein Gesicht, aber es war jemand anderes. Tim wirbelte herum und schaute sich mit weit aufgerissenen Augen im Bad um, doch es war niemand da. Er wandte sich wieder dem fremden Spiegelbild zu, es hatte sogar dieselbe Narbe am Kinn. Tim hatte damals beim Joggen den Ast übersehen. Er fuhr sich über die Augen, der Fremde machte die Bewegung mit. Tim wusste das der Andere ihn hereinlegen wollte, ihn täuschen. Wie in einem dieser Bugs Bunny Cartoons. Er versuchte es anders, er machte schnelle und abrupte Bewegungen. Doch der Andere war schlau, er wiederholte exakt die gleichen Bewegungen und Verrenkungen zur selben Zeit. So, als wäre es tatsächlich sein eigenes Spiegelbild. Doch es war nicht sein Spiegelbild. Es gab einen Unterschied: Die blauen Augen auf der anderen Seite funkelten böse.
„Wer bist du?“, fragte er den Fremden und beugte sich nach vorne. Der Mann auf der anderen Seite grinste. Tim wusste, dass er keinen einzigen Muskel im Gesicht rührte.
„Weißt du das nicht mehr? Das enttäuscht mich jetzt. All den Spaß den wir zusammen gehabt haben. Fenster einwerfen, Katzen quälen und Autos anzünden. Alles vergessen?“, sagte der Andere mit einem spöttischen Unterton. „Haben die Seelenklempner so gute Arbeit geleistet, dass du deinen besten Freund nicht mehr erkennst? Du kannst mich jetzt nicht mehr leugnen! In all den Jahren in denen du dein Leben gelebt und deine Pillen genommen hast war ich immer da. Du kannst nicht ohne mich leben und ich nicht ohne dich. Wir sind eine Einheit.“ Tim riss die Tür des Spiegelschranks auf. Der Andere lachte.
„Du warst ein schlimmer Junge, hast deine Tabletten nicht genommen. Was würde wohl der gute Doktor dazu sagen?“ Dort stand die volle Packung, es wirke irgendwie anklagend. Er schloss den Schrank wieder, es war zu spät. Der Andere war nach all den Jahren wieder da, der ihn in seiner Jugend zu grausamen Dingen gezwungen hatte. Ein saurer Kloß stieg seinen Hals empor, er übergab sich in das Waschbecken. Es klopfte an der Badezimmertür.
„Tim, ich muss dringend Pinkeln! Beeil dich gefälligst.“ Molly! Warum musste sie gerade jetzt auftauchen. Tim sah wie der Andere- so hatte er ihn auch in der Jugend immer genannt- böse zur Tür starrte.
„Tim“, sagte das Spiegelbild ruhig, „tu uns beiden einen Gefallen und bring sie um. Ich habe die dumme Pute noch nie leiden können.“ Tim schüttelte den Kopf, seine Hände verkrampften sich auf dem Waschbecken.
„Bitte zwing mich nicht dazu! Sie ist doch meine Freundin.“
„Aber nicht meine! Aus dir ist ein echter Waschlappen geworden. Ich habe dich all die Jahre beobachtet und habe dabei zugesehen wie du dich von Therapie zu Therapie geschleppt hast. Du hast mich in Ketten gelegt und wolltest ein normales Leben führen. So wie all die vielen, kleinen Spießbürger. Jetzt bin ich wieder da, du machst was ich sage!“
Tims Hand zitterte stark, als er zum Rasiermesser griff. „So ist es recht“, sagte der Andere. „Lass auch warmes Wasser in die Badewanne. Wir lassen es wie Selbstmord aussehen.“
„Mit wem sprichst du?“, fragte Molly.
„Nur mit mir selbst.“ Tim schielte zum Spiegelbild hinüber. Er öffnete den silbernen Hahn an der Wanne. Das Wasser schoss dampfend heraus. Tim schaute auf die Rasierklinge in seiner zitternden Hand, auch dort spiegelte sich das Gesicht des Anderen.
„So ist es gut. Schön heiß muss es sein, dann schießt das Blut schneller aus den Adern. Sie wird schnell verbluten und nicht lange leiden.“ Tim war nicht überrascht, dass sich der Andere in diesen Dingen so gut auskannte. Er streckte die Hand nach der Badezimmertür aus. Schweiß rann seine Stirn herab und seine Hände schlossen sich mehrmals zu Fäusten. Er umfasste den Griff der Tür. Der Griff wurde durch seinen Schweiß glitschig. Nach einigen Sekunden, die sich für Tim zu einer Ewigkeit dehnten, riss er die Tür auf. Der Andere war einfach zu stark.
„Willst du ein Bad nehmen?“ Molly schob sich in das Badezimmer. Hinter ihr verriegelte er die Tür.
„Raus hier! Ich muss Pinkeln und lass dich dabei bestimmt nicht zusehen.“ Molly wurde von Tim an den Handgelenken gepackt. Unter heftiger Gegenwehr zerrte er sie zur Badewanne hinüber.
Gedämpfte Schreie und das Schwappen des Wassers drangen hinter der Tür hervor.