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Das Begräbnis des Magiers
Aberglauben bringt Unglück. – Raymond Smullyan
Langsam zog sich der schwarze Zug, in Schweigen gehüllt, den Kopf gesenkt, über den Gottesacker. Es schwiegen die Trauergäste, es schwiegen die Sargträger, es schwieg die harte Erde, es schwiegen die verwitterten Gräber ringsum.
Einzig die dunkelgefiederten Krähen, die über dem alten Friedhof mit seiner kleinen, aber dennoch ehrwürdigen Kirche kreisten, drückten ihr Bedauern durch gelegentliches Krächzen aus. Ihr Bedauern über den Tod des Magiers. Denn auch sie waren dem mächtigen Hexer gegen Ende verfallen gewesen, wie fast die gesamte Bevölkerung des Dreihundert-Seelen-Ortes Dornfeld. Anders war auch die Anteilnahme für einen beinahe völlig fremden an diesem Tag nicht zu erklären.
Nur das Misstrauen und das entschlossene Handeln Jakob Allmers hatte sie alle vor diesem Schergen der Hölle gerettet, da war dieser sich ganz sicher.
Vom ersten Moment an war ihm der alte, ungarischstämmige Mann verdächtig gewesen. Welch ein Glück, das sich Jakob seit seiner Kindheit regelrecht fanatisch mit den Schwarzen Künsten und ihren Erscheinungsformen befasst hatte, trotz des allgemeinen Missfallens, das er damit erregt hatte. Nur durch das Studium unzähliger Bücher war es ihm nämlich gelungen die Gefahr, die von diesem augenscheinlich harmlosen Zugezogenen ausging, zu erkennen. Zu seiner Lektüre hatten zum Teil so schwer zu erlangende und verrufene Werke wie von Junzts Unaussprechliche Kulte – die seltene deutsche Originalausgabe selbstverständlich! – gehört, die ihm einen tiefen Blick in das feurige Auge der Hölle gewährt hatten. Selbstverständlich hatte es Jakob durch seine außergewöhnliche Leidenschaft nie leicht gehabt, erst recht nicht in der Gesellschaft der gläubigen Dorfbewohner, die ihn aufgrund seines „Aberglaubens“, wie sie seine Studien nannten, wie einen Ausgestoßenen behandelt hatten.
Nun gut, das mochte auch daran gelegen haben, dass er allein ein abgelegenes und heruntergekommenes Haus in Waldesnähe bewohnte und das er jegliche Form von „anständiger Arbeit“ – wieder so eine Vokabel der engstirnigen Dorfbewohner – ablehnte. Aber letztlich war doch beides für seine wichtigen Nachforschungen erforderlich gewesen.
Und nun wäre es nur gerecht, wenn ihm diese unfreundlichen Hinterwäldler für seinen Dienst danken würden, aber nein! Natürlich konnte er seine Heldentat nicht publik machen, denn – Undank ist der Welten Lohn – diese Kleingeister von Mitbürgern würden ihn bestenfalls einsperren und ihn einen Irren nennen – so sie letzteres nicht ohnehin schon hinter seinem Rücken taten.
Als der alte Hexer in Dornfeld erschienen war, fielen Jakob sofort seine eisblauen Augen, die geisterhafte Leichtigkeit seiner Bewegungen und vor allem seine schlohweißen Haare auf, ein Indiz für häufigen Magiegebrauch. Außerdem glaubte er an dem Alten einen sonderbaren Geruch wahrzunehmen, der an gewisse Texte über Dämonenbeschwörungen gemahnte. Dazu kam noch, dass die gleichen verschlossenen Bewohner, die Jakob als einen Nichtsnutz und Versager ansahen, den Neuankömmling, der ein kleines Haus in der Dorfmitte bezog, überaus freundlich behandelten.
All dies Begann Jakobs Wachsamkeit zu wecken und bei jeder sich fortan bietenden Gelegenheit brachte er mehr über den Alten in Erfahrung. Dies ging ein, zwei Wochen so, doch stellte er bald fest, dass dies nicht ausreichen würde, sich ein Urteil zu bilden. Sein Verdacht verstärkte sich jedoch immer weiter, zumal er die Macht des dunklen Zauberers über die Dorfbewohner immer weiter zunehmen zu sehen glaubte. Das zeigte sich wiederum in der ungewöhnlich zuvorkommenden Art, mit der sie ihn behandelten.
Als Jakob dann noch den kleinen, hellblauen Stein sah, den der Magier wie einen Talisman um den Hals trug, beschloss er selbstverständlich ernsthafte Untersuchungen anzustellen. Stundenlang vergrub er sich nun in seinen alten Büchern und staubigen Folianten, wälzte sie hin und her, las sie vor- und rückwärts. Außerdem erwarb er ein kleines, grünes Notizbuch, indem er alles, was er über den Alten an Informationen sammeln konnte, sowie seine eigenen Verdachtsmomente gegen ihn feinsäuberlich festhielt. Bald füllte es sich mit Notizen und Randbemerkungen in der wirren Handschrift Jakobs.
Immer mehr Indizien reihten sich aneinander, bis Jakob schließlich feststellte, dass es nötig wäre den Verdächtigen gründlich zu observieren. Nur so ließen sich alle Zweifel endgültig ausmerzen. Von nun an begann er ihm heimlich zu folgen und etliche Stunden verbrachte er in kalten Nächten unter seinem Fenster oder lauschend an seiner Tür. Dabei stellte er fest, dass oft noch bis nach Mitternacht Kerzenschein durch die milchigen Fensterscheiben fiel und der Alte tagsüber die allgegenwärtigen Krähen fütterte. Die Beweislast wurde geradezu erdrückend und Jakob war sicher, dass nur sein silbernes Kreuz und die archaischen Formeln, die er sich auf den linken Arm geschrieben hatte, ihn vor der Entdeckung durch die sicherlich übermenschlichen Sinne dieses Dieners des Teufels bewahrten.
Jetzt galt es eigentlich nur noch die Art der ausgeübten Schwarzmagie genauer zu klassifizieren, um zu ermitteln, wie sie zu bekämpfen sei. Dies gelang auch endlich nach tagelangem, angestrengten Suchen, Jakob wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Der Magier gehörte zu einer uralten Sekte ungarischer Teufelsanbeter, denen ihr Meister oftmals Kräfte zugestand, von denen sich ein normaler Mensch keine Vorstellung machen konnte. Auf diese dunkle Bruderschaft ging wahrscheinlich auch ein guter Teil des Vampirglaubens zurück, der in Osteuropa so verbreitet war und der, wie Jakob als vernünftiger Mensch wusste, ins Reich der Fantasie gehörte. Der fragliche Kult war vor allem in der Karpatengegend verbreitet gewesen und im Mittelalter, während der Hexenverfolgung und später durch die osmanischen Invasoren stark dezimiert worden. Zu den furchtbarsten ihrer blasphemischen Rituale gehörten Menschenopfer, vor allem Kinder, die sie aus nahegelegenen Ortschaften entführten und unter gesungenen Anrufungen, durch Einsatz uralter Klingen auf urtümlichen schwarzen Steinen in den Wäldern ausbluten ließen.
Zu den Fähigkeiten ihrer Magierpriester gehörten das Heraufbeschwören von Stürmen und Unwettern, am stärksten ausgeprägt aber waren ihre telepathischen Zauberkünste. Sie vermochten Menschen in ihrer Umgebung zu manipulieren, sie gefügig und willenlos zu machen und die mächtigsten Magier beherrschten sogar den Seelentausch.
Obwohl diese Zuordnung und die zwangsläufig daraus resultierenden Folgen Jakob in Schrecken versetzte, gab sie ihm doch Hoffnung, denn immerhin waren diese dunklen Kreaturen im Grunde menschliche Wesen, die man, wenn man keine Fehler machte, vernichten konnte. Das war immer noch weit besser, als es mit Dämonen zu tun zu haben.
So traf er einige wichtige Vorbereitungen (Diebstahl einer kleineren Menge Weihwassers, aus der örtlichen Kirche, das Versehen seines gesamten Körpers mit Runen, das Umhängen einiger Kreuze, das Auswendiglernen der richtigen Formeln) und wartete bis zur Abenddämmerung.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, machte er sich heimlich auf, in Richtung des Dorfes, zu seinem Glück sah ihn niemand. Durch die engen Wege, zwischen den Behausungen der Dorfbewohner hindurch, gelangte er endlich zum Hause des Magiers. Mit rasendem Herzen verharrte er eine Weile davor. Die großen, dunklen Fenster, durch die er so oft heimlich geschaut hatte, schienen ihn nun böse anzufunkeln. Doch er war entschlossen, es musste getan werden. Mit äußerster Vorsicht drückte er sich an der dunklen Mauer entlang, bis er hinter das Haus zum Küchenfenster gelangte, dass er – welch ein Glück – unverschlossen fand. Lautlos schob er es auf und glitt in die Wohnung. Jetzt musste es schnell gehen.
Schnell aus der Küche, den kurzen Flur entlang, behutsam die Schlafzimmertür aufschieben. Der Magier schlief, sein Schnarchen war zu vernehmen. Gut. Jakob begann die ersten Schutzformeln zu raunen und bewegte sich langsam auf das Bett zu. Er spürte seine Hände zittern, Schweiß stand auf seiner Stirn.
Der Alte bewegte sich unruhig, gleich würde er erwachen. Doch in dem Moment, da er die Augen aufschlug, war Jakob schon über ihm, drückte ihn nieder und ein Kissen auf sein Gesicht. Der Magier war völlig überrumpelt, die Formeln hatten gewirkt.
Unter dem Kissen vernahm Jakob seine Stimme, für einen anderen mochte das Folgende wie entsetzte Schreie oder Flehen geklungen haben, doch Jakob wusste, der Hexer versuchte sich durch Beschwörungen zu retten. Auch Jakob sprach seine Formeln nun lauter. Es war ein einziges wildes Schlagen und Treten. Der Alte war tatsächlich mit großer Kraft ausgestattet, er bäumte sich immer wieder auf und es vergingen unzählige Minuten, bis es vorbei war.
Dann entfernte Jakob das Kissen, bespritzte die Leiche mit Weihwasser, fühlte immer wieder den Puls und blieb, seine Schutzzauber murmelnd, noch einige Minuten bei ihm sitzen. Erst dann war er sich sicher, es vollbracht zu haben. Er hatte diesen Diener des Satans ins Fegefeuer geschickt. Er, den alle für einen sonderbaren Nichtskönner gehalten hatten, hatte es geschafft!
Doch jetzt nicht länger verweilen wieder hinaus, durchs Fenster, die leeren Gassen entlang, nach Hause, er durfte nicht gesehen werden. Es ging alles gut, niemand nahm Notiz von ihm.
In den nächsten Tagen verfolgte Jakob das weitere Geschehen. Die Dorfbewohner waren erschüttert über das „Verbrechen“ – natürlich, sie standen auch noch unter dem Einfluss der verderblichen Zauber, die der Tote gewirkt hatte. Die Polizei fand keine Spuren, die Tat kam den Beamten gänzlich unerklärlich vor, schließlich hatte der Alte keine Feinde gehabt, die Einwohner beschrieben ihn als gütig und friedlich.
Natürlich begannen die Leute in diesem Zusammenhang mal wieder über Jakob zu tuscheln, doch ernsthaft hatte ihn niemand in Verdacht, da er, nach landläufiger Ansicht, ein harmloser Spinner war, was ihn in diesem Fall nicht weiter störte.
Die Trauer war groß und beinahe alle beschlossen zu der Beerdigung zu gehen und auch Jakob wusste, dass es besser wäre dort zu erscheinen, um keinen Verdacht zu erwecken. Außerdem wollte er dort noch einige Zauber wirken, da er wusste, dass die Geister von Magiern oft noch bei ihren toten Körpern verharrten und er wollte nicht das Risiko eingehen, dass der Magier womöglich zum Wiedergänger wurde.
Doch als er, am Tage des Begräbnisses, gemeinsam mit den anderen Dorfbewohnern, am Grabe des Alten stand und der billige Sarg langsam hinabgelassen wurde, begannen ihn schreckliche Zweifel zu quälen. Hatte sein Verdacht nicht vielleicht doch auf zu vielen Indizien gefußt? War es nicht ganz normal gewesen, dass die Dorfbewohner zu dem gütigen, alten Herrn freundlicher gewesen waren, als zu ihm, dem erklärten Sonderling? Hatten sie vielleicht recht, wenn sie ihn als Wahnsinnigen bezeichneten? Hatte ihn das erbost, hatte sich seine Wut gegen einen Unschuldigen gerichtet? War er ein Mörder?!
Bei dem Gedanken wurde ihm regelrecht übel. Was hatte er nur getan? Er war ein Monster, ein Irrer! Ein gefährlicher, mörderischer Irrer zudem!
Seine Übelkeit nahm zu, zu ihr gesellte sich ein heftiges Schwindelgefühl. Alles begann um ihn herum zu schwanken, zu tanzen, die schwarzgekleideten Gestalten, die Gräber, die Grabmäler, die kleine Kirche, die schwarzen Raben, das Gesicht des Alten.
Ein betäubender Ton schmerzte in seinen Ohren, er taumelte rückwärts, stieß gegen eine Person, ein empörtes Keuchen, er taumelte weiter, seine Hand fand halt an einem schweren Grabstein. Seine Sicht verdunkelte sich, er schloss für ein paar Sekunden die Augen um sich zu sammeln.
Als er sie wieder öffnete war es immer noch dunkel. Verwirrt wollte er eine Hand zu den Augen führen, doch es gelang ihm nicht, erkonnte sie nicht anheben. Dann bemerkte er es: Er stand nicht mehr, er lag, er lag auf einer Art Holzbrett oder etwas vergleichbarem. Er konnte beim besten Willen keines seiner Gliedmaßen bewegen. Die Luft war stickig, nein war sie nicht, atmete er überhaupt?! Dann hörte er gedämpft seine eigene, seltsam fremde Stimme, sie kam von draußen, sie entschuldigte sich bei der Person, die er eben angerempelt hatte. Es sei schon in Ordnung. Dann das Krächzen der Krähen, ebenfalls von draußen.
Der entsetzliche Verdacht wurde Gewissheit, er wollte schreien, aber er konnte es nicht!
Er konnte gar nichts mehr.
Er war tot.