Das Biest
Das Biest
Früh klingelte der Wecker. Pierre sprang aus dem Bett und stürmte ans Fenster.
„Herrlich! Ein Superwetter!“
Der Morgen war sonnig und klar. Genau richtig um zum See zu radeln und schwimmen zu gehen. Auf diesen ersten Ferientag hatte er sich schon so lange gefreut. Ganz allein wollte er ihn genießen.
Pierre frühstückte eilig, schmierte sich ein paar Brote für mittags, gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Bis heute Abend!“
„Mach’s gut mein Junge, pass auf dich auf!“
Schon war er draußen und schwang sich auf sein Fahrrad. Fröhlich vor sich hin pfeifend radelte er auf der Landstraße bis zu dem Forstweg, der ihn zum See führte. Mühelos fuhr Pierre den ansteigenden Weg hinauf.
Der See lag eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln. Er war ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Erde noch jung war und Vulkane das Land mit Lava und Asche überschütteten. Zumindest einen dieser feuerspeienden Berge musste es auch hier gegeben haben, denn der kreisrunde See war ein Maar, ein mit Wasser gefüllter Krater. Tief war er und glasklar. Und immer herrschte in seiner Nähe eine unheimliche Stille.
Doch heute schien die Sonne von einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel und jeder Vogel im Wald hatte anscheinend nichts Wichtigeres zu tun, als seine Freude darüber laut hinauszuträllern. Auch Pierre war bester Laune. Noch ein letzter Anstieg und er hatte es geschafft. Der See lag glitzernd vor ihm. Im leisen Wind kräuselte sich sanft die Wasseroberfläche.
„So schön war es ja noch nie hier!“
Schnell versteckte er sein Rad in den Büschen und rannte übermütig ans Ufer. Noch im Laufen streifte er Hosen und Schuhe ab und patschte ins Wasser, dass es nur so spritzte
„Mein Gott, ist das kalt!“
Trotzdem ging er tiefer hinein. Mit kräftigen Stößen schwamm er auf den See hinaus.
Etwa in der Mitte des Kratersees wurde Pierre langsamer, trat Wasser und tauchte das Gesicht ein. Wie tief er hinab sehen konnte! Entschlossen ließ er sich hinab gleiten. Die bizarren Lavagebilde auf dem Grund schienen zum Greifen nah. Doch das Wasser verzerrte die Perspektive. Die Steine lagen viel zu weit unten, als dass Pierre sie erreichen konnte. Prustend tauchte er wieder auf und öffnete die Augen. Nicht weit vor sich sah er jetzt ein Boot.
Komisch, dachte er, das war doch vorhin noch nicht da.
Ein hölzernes Ruderboot, eine Angelrute lehnte an den Planken, die Ruder hingen ins Wasser. Kein Mensch weit und breit.
Neugierig schwamm Pierre näher. Der Kahn dümpelte vor sich in, die Angelschnur lag auf dem Wasser, ohne Schwimmer, ohne Haken.
Merkwürdig! Auf einer Seite war das Holz mit tiefen Kratzspuren gezeichnet. Breite Splitter staken heraus. Der Schaden sah ganz frisch aus.
Was war geschehen? Wo war der Angler?
„Haallo!“
Wasser tretend sah Pierre sich um.
„Ist hier jemand? Haallo!“
Kein Schwimmer im Wasser, keine Menschenseele am Ufer.
Pierres Gedanken überschlugen sich. Ein Unglück musste geschehen sein. Sicher war ein Mensch ins Wasser gefallen. Vielleicht war ihm schlecht geworden, möglicherweise ein Herzinfarkt. Bestimmt brauchte er Hilfe.
Pierre holte Luft und tauchte tief hinab. Er sah, wie sich glitzernd die Sonnenstrahlen im Wasser brachen, bestaunte die Knollen, Türmchen, Säulen und Raupen aus vor Hundertausenden von Jahren erstarrter Lava. Was für ein Chaos musste damals hier geherrscht haben! Pierre meinte, die infernalische Hitze fühlen zu können, obwohl das Wasser, je tiefer er kam, immer kälter wurde.
Weit unten entdeckte er einen schwarzen Schlund. War der Mensch von oben da hinab getaucht? Nein, ohne Ausrüstung unmöglich.
Immer stärker wurde der Druck auf Ohren und Lunge, Pierre musste hoch. Noch ein letzter Blick in die Tiefe, nirgends Luftblasen, kein lebloser Körper, nicht einmal ein Fisch weit und breit.
Ein kräftiger Schlag mit den Beinen und er schoss nach oben. Ziemlich außer Atem schüttelte er den Kopf, um die Haare aus dem Gesicht zu bekommen. Vor ihm schaukelte immer noch das herrenlose Boot.
Wenn es keinem gehört, kann ich genau so gut damit ans Ufer rudern, dachte er, kraulte ein paar Meter und hielt sich am Bootsrand fest. Mit Schwung wollte er sich hochziehen.
Plötzlich brodelte das Wasser. Luftblasen stiegen auf.
„He! Was ist das? Bricht der Vulkan aus? Pierre, du Idiot, niemals im Leben!“
Da sah er eine schwarze, gezackte Flosse auf sich zu kommen. Ein mächtiger schuppiger Rücken wölbte sich aus dem Wasser. Zielstrebig kam das Ding auf ihn zu. Pierre riss die Augen auf.
„Unmöglich! So große Fische leben hier nicht! Eigentlich gibt’s hier gar keine!“
Mit einem Satz war er im Boot, in vermeintlicher Sicherheit. Doch hinter ihm knirschte es bereits.
Ein gewaltiges Maul, besetzt mit mehreren Reihen spitzer Zähne, hatte sich in der Bootswand festgebissen. Pierre schrie auf.
Er riss ein Paddel aus der Halterung und schlug zu. Dumpf klatschte das Holz auf den Kopf des Ungeheuers. Böse blickten rot geränderte Augen ihn an. Das Monster zischte, gab das Boot frei, riss aber dabei ein Stück der obersten Planke heraus und verschwand in der Tiefe.
Pierre starrte wie gelähmt auf die Wasseroberfläche.
„Wenn ich das jemandem erzähle! Der glaubt mir nie!“
Wieder schäumte das Wasser
„Nein! Es kommt zurück!“
Schnell schnappte sich Pierre das andere Paddel und begann zu rudern. Nur weg hier!
Doch so kräftig er sich auch ins Zeug legte, das schwarze Biest ließ sich nicht so leicht abhängen. Pierre riskierte einen Schulterblick. Hinter ihm brodelte das Wasser, Schaumkronen tanzten auf den Wellenkämmen. Die zackig Rückenflosse kam unaufhaltsam näher. Sie hatte aber noch keine Eile. Die Beute schien sicher.
Noch kräftiger legte sich Pierre in die Riemen, Schweiß trat ihm auf die Stirn.
„Herrje, was ist das denn? Der blöde Kahn hat ein Leck! Jetzt gib alles Junge, sonst bist du am Ende doch noch Fischfutter!“
Schon standen seine Knöchel im Wasser, und es stieg weiter. Langsam kam das Ufer näher. Wesentlich schneller nun, holte das schuppige Ungetüm auf.
„Und zieh! Und zieh!“
Pierre legte all seine Kraft in die Riemen. Sein Atem ging stoßweise. Schweiß sammelte sich an seinem Kinn und tropfte aus den ersten, noch spärlichen Barthaaren auf seine Brust.
Ein kräftiger Stoß gegen das Boot brachte ihn beinahe aus dem Rhythmus. Jetzt war es da! Pierre wandte sich um und sah in das weit geöffnete Maul. Gelbe Zähne rammten sich knirschend ins Heck. Holz splitterte. Ein Schwall Wasser drang ein. Das Boot verlor an Fahrt.
Ein Blick zum rettenden Ufer, er konnte es schaffen.
Pierre hechtete ins Wasser und schwamm wie noch nie in seinem Leben.
Noch war das Ungeheuer mit dem Boot beschäftigt und zerlegte es Planke für Planke. Noch hatte es die Flucht der sicheren Beute nicht bemerkt. Pierre kraulte. Die Uferböschung kam näher.
‚Halt’ durch Junge! Du schaffst es‘, waren seine einzigen Gedanken.
Ein heißer Schmerz durchzuckte ihn.
Das Monster!
Nein, nur eine Schürfwunde. Er hatte sich an einem Basaltstein die Haut aufgerissen.
Mein Gott! Pierre erschrak. Das Tier würde sein Blut riechen! Wie schnell konnte es ihn einholen? Bloß jetzt nicht langsamer werden, weiter, immer weiter schwimmen.
Verzweifelt mobilisierte er seine letzten Kräfte. Das Wasser wurde seichter und Pierre fühlte den Grund. Er begann zu rennen. Ein letzter Sprung und er lag bäuchlings am Ufer. Sofort sah er sich um.
Nicht weit, genau da, wo er sich verletzt hatte, blubberte es. Ein mächtiger Rücken erhob sich, Stachel bewehrte Flossen wirbelten das Wasser auf. Gischt spritzte hoch.
Das Monster hatte sich zu weit vor gewagt und saß jetzt fest. Wütend peitschte es mit dem Schwanz, zuckte wild mit dem gewaltigen Leib hin und her, um sich zu befreien.
Pierre sah zum ersten Mal, was ihn bedroht hatte: ein riesiger Fisch, bestimmt zweieinhalb Meter lang, schwarz und schuppig, mit einem Maul wie ein Scheunentor, darin unzählige gelbe Zähne.
Sicher hatte er damit den Angler in Stücke gerissen und gefressen.
Mit einem gewaltigem Schwung katapultierte sich das Vieh jetzt nach hinten, sein Bauch glitzerte im Sonnenlicht und tauchte rückwärts ein ins tiefe Wasser. Doch noch einmal kam es an die Oberfläche. Ganz ruhig stand es nun da und starrte Pierre aus rot geränderten Augen an. Ein letztes Knurren und das Ungeheuer drehte ab. Mit elegantem Schwung verschwand es in der Tiefe.
Ruhig lag der See in der strahlenden Sonne. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche. Noch immer starrte Pierre auf die Stelle, an der das Biest verschwunden war. Heftig kniff er sich in den Arm und schrie auf. Was er erlebt hatte, war kein Traum.
„Ich glaube es einfach nicht! Woher kam es bloß und was machte ich jetzt?“
‚Polizei, Feuerwehr‘, schoss es ihm durch den Kopf.
Hastig sammelte er seine Sachen ein, rannte zu seinem Fahrrad und trampelte los. Erst einmal weg von hier, genügend Abstand zwischen sich und den See bringen.
In halsbrecherischem Tempo raste Pierre den Forstweg hinab bis zur Landstraße. Abrupt hielt er an. Würde man ihm glauben oder seine Geschichte als Hirngespinst belächeln?
Pierre war sich nicht mehr sicher. Trotzdem, der See barg eine ungeheuerliche Gefahr, man musste etwas tun. Außerdem wurde der Angler sicher schon vermisst. Also streifte Pierre eilig Hemd und Hose über und radelte geradewegs zur nächsten Polizeistation.
Anders als er erwartet hatte, ließ man ihn seine Geschichte zu Ende erzählen. Doch dann lächelte der Kommissar freundlich.
„Mein Junge, eine tolle Geschichte, wenn sie wahr wäre. Du glaubst doch nicht im Ernst, was du da erzählt hast. Ein Urzeitmonster in unserem See! Lächerlich! Kann ja verstehen, dass die Schule anstrengend war, brauchst ein bisschen Erholung, nicht wahr?“
Pierre schluckte.
„Wie Sie meinen, Herr Kommissar. Aber ich lüge nicht.“
„Sicher doch. Am besten gehst du jetzt nach Hause. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit überdrehten Kids zu beschäftigen.“
Es klopfte an der Tür.
„Herein!“
„Hallo Chef! Wir haben gerade eine Vermisstenmeldung hereinbekommen. Frau Langendorf sucht ihren Mann. Er ist heute Nacht auf den See hinaus und bisher nicht heimgekommen.“
„Ach, der Langendorf! Den kenn ich. Der begießt einen guten Fang immer im Dorfkrug. Da sollte die Frau mal nachsehen.“
„Ich glaube nicht, dass er dort ist. Frau Langendorf hat am See nach ihm gesucht. Sie hat außer ein paar zerrissenen Bootsplanken nichts gefunden. Chef, ich denke, Sie sollten sich das mal ansehen."
Der Kommissar riss die Augen auf und schluckte.
„Ich glaube Junge, ich muss mich bei dir entschuldigen. An deiner Geschichte könnte doch was Wahres dran sein. Wir werden das untersuchen. Geh erst mal nach Hause, aber halte dich für Fragen zur Verfügung. Ich bin mir fast sicher, wir brauchen dich noch.“
Schon stürmten beide Polizisten aus der Tür.
Erleichtert machte sich Pierre auf den Heimweg. Jetzt würde das Biest sicher gefasst und der See würde wieder sicher sein. Vielleicht konnte er dann doch bald wieder schwimmen gehen, aber erst einmal war ihm die Badelust gründlich vermiest worden.