Das Café der schönen Leute
Der erste laue Sommertag bricht über die Winterdepression herein, und sie strömen alle wieder aus ihren renovierten Altbauwohnungen, um ein soziales Kontaktgefüge wiederzubeleben. Es ist noch zu kalt, um in Biergärten zu versauern, deshalb sitzen sie alle hinter großflächigen Glasfronten, um ja keinen Strahl zu verpassen, den ihnen die Natur widerwillig schenkt. Sie trinken Kaffee, rauchen Filterzigaretten und beugen sich dem, der gerade spricht, entgegen. Ein Morgen im Café der schönen Leute, und nur ihrer illustren Gattung gehören diese Räumlichkeiten. Ich stehe vor den großen Scheiben ihrer Peepshow und verfolge ihre Gespräche, wie die eines Stummfilms. Sie sind so glücklich hinter ihrer glasglatten Oberfläche, ihren flachen Dialogen darunter und aktuellen Modezeitschriften auf ihren Knien. Natürlich ist es besser, sich nicht auf diese Äußerlichkeiten festlegen zu lassen, seinen Charakter in den Vordergrund zu stellen. Aber das sagen die schönen Leute ja auch und sehen dazu noch gut aus. Politik interessiert sie nicht sonderlich. Terror ist nicht so wichtig, denn Britney Spears hat groß verkünden lassen, dass sie jetzt wieder schwanger ist. Zudem ist Orlando Bloom in der Stadt, was die weiblichen Geschwader in Kostümen mit eingenähten Chaneletiketten in helle Aufregung versetzt und einige, von der Verzückung hingerissen, den vorgespielten Orgasmus der letzten Nacht über ihrem Latte Macchiato hinweg erneut ertönen lassen. Man mag es nicht vernuten, doch ich bin der Yuppie-Kaste nicht sonderlich zugetan, denn ich bewege mich lieber in dem Metier, wo diese Leute verachtet bis verprügelt werden.
Doch an jenem Morgen war es anders. Mit einem Sakko stand vor den Schaufenstern ihrer Lässigkeit und versuchte auf die Schnelle noch einige neue Gepflogenheiten auszumachen. Ich spekulierte wohl auf einen speziellen Handschlag, wie die der Cribs oder Bloods in den USA, aber nach einigen Minuten bemerkte ich, wie sich mein Gesicht in faltiger Missgunstmiene verzog und keine Anstalten machte sich zu erholen, als ihre Gespräche mit Blick auf mich verebbten. Doch ich musste hinein zu diesen Menschen. Ich war verliebt in die Schönste von ihnen.
Um elf Uhr Brunch im Café der schönen Leute. Sie wollte mich wieder sehen. Den Typen mit der lässigen Trainingsjacke und dem acht Jahre alten Poloshirt am Oberkörper über den Baggyjeans: mich. Es schien mir schon Wunder genug zu sein, im selben Club seine Flaschen mit Becks Gold zu leeren und nicht durch eine dicke, rote Seemannskordel von ihr getrennt zu werden. Mit einem Lächeln, das jede ihrer Fasen zum Leuchten verwendete, half sie mir über die ersten Minuten hinweg, wo Hirn und Herz ihre Erscheinung verarbeiten mussten. Sie erzählte von unzugänglichen Themen wie Kant und Hegel und fand in Freud nur Interesse, als sie sich eine Zigarette anzündete und blitzend feststellte, dass jener sich auf Grund seines Pfeifenkonsums den Unterkiefer hatte entfernen lassen müssen. Als sie über den Nachwuchs der sozial Schwachen sinnierte, und in diesem Kontext von Fickzellen mit Fernwärme sprach, hatte sie mich wieder.
Doch nicht ich, sondern sie bemerkte es und brach ihrem Monolog unvollendet ab. Magst diese Swingmusik, denn ich bewegte meinen Kopf Richtung Tanzfläche, wo der DJ die Cherry Poppin’ Daddies sein Tanzvolk instrumental berieseln ließt. „Japp…äh…“ „Hey, deine Augen leuchten voll krass! Kontaktlinsen?“ „Haftschalen.“, versuchte ich einen Anglizismenwitz. „Ach so“, schallte es zurück. Humortest nicht bestanden. Egal. Sie konnte es sich jetzt schon erlauben. Ihr edel getrimmtes Köpfchen neigte sich sanft gen rechts und die ihrerseits haftbeschalten Augen durchdrangen meine Seele. „Also ich bin ja stark kurzsichtig. Ist schon eine tolle Erfindung, findest du nicht? Mit Brille sah ich früher ziemlich Scheiße aus.“ Sie löste den nächsten stummen Alarm in mir aus, denn sie reduzierte sich nun eigenwillig auf ihr Äußeres. Doch meine Bewunderung riss nicht ab, und ich griff diese Bemerkung auf. „Wahrscheinlich hast du auch eine Zahnspange getragen, fest?“ „Ja, genau. Toll, wie du so was raushaust. Aber zum Glück ist das vorbei. Ist doch ein schöner Schwan aus mir geworden, oder?“ Ihre Arroganz schrie danach, gebrochen zu werden, und mit dem Reflex der jahrelangen Routine schoss ich zurück: „Du weißt schon, warum du eine rhetorische Frage daraus gemacht hast.“ Ich bereute den Satz schon während ich ihn sprach, denn zu meinem Entsetzen gefiel ihr natürlich der überflüssig aufgesetzte, schnippische Intellekt. Aber ich konnte mir nicht mehr vorstellen, diesen Club ohne ihre Nummer zu verlassen. Sie wollte ich nicht einfach flachlegen, ich wollte sie wieder sehen und ihren Namen nicht vergessen, wenn sie morgens meine Wohnungstür schloss.
Selbstverständlich habe ich das nicht durchgehalten, nachdem die Ehrlichkeit in dieser Absicht ihrer Prüfung standhielt, stand sie Augenblicke später in meiner Wohnungstür und zog mich an der Kette ihres flüchtenden Kusses weiter. Mit letzter Not kamen wir ins Schlafzimmer und als mich die Sonnenstrahlen weckten, war ein Zettel mit ihrer Nummer in einem geschwungen Herz alles was ich fand.
Nun stand ich im Sakko vor ihrer Welt. Ich erkannte ihre zarten Hände, die den Blick auf mich vor der grellen Sonne schützte. Plötzlich fächerte sie sich damit aufgeregt ins Gesicht, und es dauerte eine Weile bis ich begriff, dass sie mich damit meinte. In ihrem dünnen Rock überschlug sie die Beine und stützte ihr Kinn auf ihre Hand mit einem dicken Brillantring, der geerbt sein musste, damit sie schon morgens tragen durfte. Ich setzte mich. Sie kicherte.
Hier saß ich nun. Im Café der schönen Leute. Ihr gegenüber. Und es passierte. Sie schmatzte! Hielt die Gabel falsch. Und köpfte das Ei mit ihrem Marmeladenmesser. Ich war außer mir!
Wie konnte sie dieses Klischee beschmutzen? Wie konnte sie nur? Da öffnet man sich dieser Welt und erwartet Perfektionismus. Oberflächlichen Perfektionismus. Und keinen Funken mehr. Doch sie nicht. Sie trug den Ring, weil sie es nicht besser wusste. Und noch schlimmer. Sie hatte mich durchschaut. Mein Ekel dieser Welt gegenüber hatte mich verraten. Und durch die letzte Nacht zwang sie mich zu bleiben. So ist nun mal die Etikette. Die Kette. Ich kenne die Regeln, die Gespräche, ja sogar die Modezeitschriften.
Denn meine Trainingsjacke, meine tiefen Jeans, mein altes Poloshirt waren wirklich zu dick aufgetragen. Dies war meine Welt, bevor meine studentische Auszeit im Retrolook anrollte. Und ich werde wohl wieder dorthin zurückkehren, wenn die Reise Studium vorbei ist. Sie wollte in diese Welt und hatte mich als Schlüssel ausgesucht. Doch sie kam zu früh. Mein Ausflug Studium war noch nicht beendet. Ich ließ sie sitzen und brach die Etikette. Ich lief. Doch ich wusste: sie wird hartnäckig sein. Sie kennt meine renovierte Altbauwohnung. Dort wird sie mich finden.