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Das Café
Sie setzte sich an einen freien Tisch. Draussen begann es gerade zu Regnen. Zuerst fielen nur ein paar wenige Tropfen, doch dann als die erste Verzagtheit vorüber war, fielen die Tropfen grösser und schwerer vom Himmel.
Davon merkte Sophie jedoch nichts. Sie nahm zwar das dumpfe Tocktock! des aufklatschenden Regens an den Fensterscheiben des Cafés wahr, jedoch mehr hintergründig, da bereits etwas Anderes Sophies Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Sie liebte es, die Leute zu beobachten und heute war es wirklich ein guter Tag dafür. Wahrscheinlich lag es am Regen, dass sich so viele Menschen in ihrem Lieblingscafé versammelt hatten. Für Sophie hatte dieser Ort Atmosphäre. Es lag an den schon fast antik wirkenden massiven Kirschholztischen, den dazu passenden Stühlen, dem Zuckerstreuer gefüllt mit braunem Zucker, den grossen Mokkatassen, die im Kontrast zu den zierlichen Silberlöffelchen standen und der Jazz-Musik, die nicht zu laut, aber trotzdem angenehm hörbar den Raum beschwingte.
Sophie bestellte sich eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen und streifte gemächlich ihre Jacke und den Schal ab. Als der nach Kräutern duftende Tee dampfend vor ihr stand, zog sie die Tasse zu sich und wärmte ihre kalten Hände daran. Sie atmete tief durch und kuschelte sich zurück in den Stuhl. Das Gefühl, das sie dabei empfand, wollte sie für nichts auf der Welt eintauschen. Hier fühlte sie sich einfach zu Hause.
Mal sehen, wer heute hier ist, dachte sie sich, als sie ihren Blick im Raum umherwandern liess. Viele neue Gesichter, aber auch ein altbekanntes sah sie. Ein wenig versteckt im hinteren Teil des Raumes sass Ernesto. Eigentlich wusste Sophie nicht, wie er hiess, oder was er tat. In ihrer Fantasiewelt war er jedoch Ernesto, der Opernsänger. Und zwar war er nicht irgendein Opernsänger. Ernesto stand gerade an der Schwelle zur Bekanntheit. Deshalb war er auch oft ein wenig unter Druck, so kam er ihr zumindest vor, wenn sie ihn im Kaffe sah. Er gehörte auch nicht zu den eigentlichen Stammgästen dieses Cafés. Ein- bis zweimal pro Woche kam er hierher, um ein Bier oder eine heisse Schokolade (je nach Jahreszeit) zu trinken und die Tageszeitung durchzublättern. Eigentlich wusste Sophie gar nicht, ob der Mann dort hinten in der Ecke Ernesto hiess und ob er Opernsänger war. Sophie hatte seit jeher eine blühende Phantasie und liebte, sich die verschiedensten Dinge auszudenken. Sie war eine richtige Tagträumerin. Wenn die Realität ihr zu langweilig erschien, dann flüchtete sie sich in ihre eigenen Welten. So eine Welt hatte sie sich auch in ihrem Lieblingskaffe erbaut. Für sie war es viel unterhaltsamer und spannender, sich etwas über die Leute zusammen zu reinem, anstatt sie nur als Gesichter mit Wiedererkennungswert wahrzunehmen.
Bei Ernesto z.B. war es ein Telefongespräch gewesen, welches er sehr temperamentvoll und mit lauter, knarrender Stimme geführt hatte, was sie auf ihn aufmerksam gemacht hatte. So ein Organ muss jahrelang geschult worden sein, dachte sie sich damals. Auch der Rest seiner Erscheinung schien völlig mit ihrem Bild von einem Musiker übereinzustimmen. Da war das volle Gesicht mit den leicht geröteten, rundlichen Backen, der kleine Schnurrbart, der seine schmal-geschwungene Oberlippe betonte, die dunklen Augen, die stets wachsam um sich blickten. Zudem neigte er dazu, helle Hemden und dunkle Buntfaltenhosen zu tragen, was seine imposante Erscheinung noch mehr unterstrich. Wenn das nicht ein Opernsänger wie aus dem Bilderbuch war!
Sophie dachte sich im Geheimen Gespräche mit ihm aus. Sie überlegte sich, über was sie reden konnten, welche gemeinsamen Interessen sie haben mochten, wie sie ihn zum Lachen bringen könnte, welchen Film sie sich gemeinsam ansehen könnten und Vieles mehr. Sie würden sich richtig gut verstehen und Ernesto würde sie zu der Aufführung von Carmen einladen, in welcher er natürlich seinen grossen Auftritt haben würde. Am Schluss, wenn dann das Publikum in Begeisterung ausbrechen und ihm den angemessenen Beifall zollen würde, wäre es Sophie, zu der er blicken und die ihm eine Rose zuwerfen würde. Sophie malte sich alle Einzelheiten bis ins kleinste Detail aus.
So ganz versunken in ihren Träumereien, bemerkte sie gar nicht, wie Marcel in Begleitung eines Freundes das Café betrat. Auf Marcels Gesicht erschien ein verschmitztes Lächeln. „Weshalb lachst du?“, wollte sein Freund wissen. „Siehst du die junge Frau dort sitzen?“ „Welche meinst du? Die, die gerade so verträumt dreinschaut? Meinst du die, mit dem weissen Schal und dem grünen Mantel?“ „Genau die meine ich. Das ist Isabelle. Isabelle ist Schriftstellerin. Sie kommt regelmässig hierher, um sich Notizen für ihren neusten Roman zu machen. Sie beobachtet sehr genau und scheint eine verschlossene Person zu sein. Obwohl wir uns schon ein paar Mal hier trafen, haben wir noch kein Wort miteinander gewechselt. Lediglich unsere Augen haben sich schon ein paar Mal getroffen.“ „Und woher weißt du denn, dass die Frau Isabelle heisst und Schriftstellerin ist, wenn du noch nie mit ihr gesprochen hast?“ „Sieh sie dir mal genau an. Sieht sie nicht genau so aus, wie du dir eine Schriftstellerin vorstellen würdest?“
Die beiden Männer sassen noch einige Zeit schweigend nebeneinander und hingen ihren Gedanken über die unbekannte Frau nach, bis die Bedienung an ihren Tisch kam, um ihre Bestellung aufzunehmen.