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Das Comeback
Das Comeback
Die weiße, gut 10 Zentimeter lange Linie schlängelte sich wie eine erotische Versuchung direkt vor ihm auf dem Garderobentisch, während die 50-Pfund-Note leicht zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand zu zittern begann. Durch die mehrfach verriegelte Tür seines spartanisch eingerichteten Aufenthaltsbereiches tief in den Katakomben der Londoner Royal Albert Hall schlichen und drängten sich die gedämmten Geräusche, die nicht nur aus über 10.000 Kehlen und Körpern sondern auch aus den gigantischen Boxen- und Lautsprechertürmen rechts und links neben der Bühne kamen.
The Skull zwang sich mit aller Kraft, seine brennenden Augen von der Linie des Vergessens in Richtung Spiegel zu bewegen. Mein Gott, dachte er beim Anblick des müden und nachlässig geschminkten Totenkopfes angewidert. Mein Gott. Erwartest du mich nun auf der Bühne oder hast du mich längst verlassen?
Außerhalb seines Verließes stampfte der dumpfe Drumcomputer der Sisters of Mercy zu „Temple of Love“ und The Skull fragte sich beim Vernehmen des tausendfach mitgesungenen Refrains, wer hier eigentlich Vorgruppe von wem war. Mit einem tiefen Seufzer beugte er sich hinunter und zog das Koks binnen einer Sekunde tief in seinen Schädel hinein.
Ein wütendes Dröhnen an der Tür ließ ihn zusammenfahren.
„Mike, alles in Ordnung mit dir? Die sind schon bei ihrer Zugabe.“
The Skull hob den grinsenden Totenkopf, der ihm tief auf die Brust gefallen war. Vor seinen Augen tanzten das Universum und eine Million Blitze einen Reigen der Verbrüderung und er musste sich beherrschen, um nicht direkt auf sein maßgeschneidertes Bühnenkostüm zu kotzen.
„Alles im grünen Bereich“, lallte The Skull seinem Manager leise durch die Tür zu. Und dann etwas lauter: „Bin gleich soweit!“
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Der Bach plätscherte träge und gemütlich durch den Wald und es roch nach Frühling, Ruhe und dunkler, feuchter Erde. Michael hatte den Kopf auf das weiche Moos gelegt und beobachtete das kleine Stückchen Blau, welches die dichten Baumkronen dann und wann preisgaben. Er genoss die neue Sucht, die Leben hieß.
Das Geschäft, das Business und somit auch die Hölle auf Erden lagen nun mehr als vier Jahre zurück und er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Seit seiner Therapie war er clean und seine Kräfte waren Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat in seinen toten, ausgemergelten Körper zurückgekehrt und mit ihnen auch das Lachen, der Glaube und die Hoffnung.
Anfangs hatten die Medien noch hungrig nach Informationen gebrüllt, doch nach einigen Monaten war auch das passé. Sein letztes Album erreichte nach dem endgültigen Aus noch kurzzeitig eine Top-10 Positionierung, doch nach fünf Wochen war es bereits nicht einmal mehr unter den Besten 100 zu finden. Und dann endlich senkte sich langsam aber sicher der Nebel des Vergessens über die verwöhnte und restlos ausgereizte Zielgruppe und er war Vergangenheit. Zwar verewigten sich täglich immer noch mehrere Duzend Fans aus aller Welt im Gästebuch seiner Homepage, doch letztlich nahmen auch diese Kondolenzbekundungen von Woche zu Woche mehr ab.
The Skull hatte nach über 10 Jahren, sechs Alben, vier Deutschland-, drei Europa- und einer Welttournee und über 19 Millionen verkaufter Tonträger weltweit die Bühne endgültig verlassen. Sein Abschied aus der Musikwelt hatte es am ersten Tag bis in die Tagesschau der ARD geschafft und er wurde dort als erfolgreichster deutscher Heavy-Metal-Sänger seit Klaus Meine von den Scorpions bezeichnet. In den Einspielern konnte man hunderte aufgelöster Skull-Fans mit Totenkopfgesichtern und schwarzen Mänteln sehen, die in Hamburg vor den Toren von Michaels Plattenfirma Kerzen und Blumen niederlegten und lauthals ihrer Trauer Luft machten.
Michael bekam von alledem nicht viel mit, denn er befand sich nach einer Überdosis Kokain, Amphetaminen und Alkohol in einem künstlichen Koma, in welches ihn die Ärzte der Berliner Charité nach einem physischen und psychischen Totalzusammenbruch für sechs Tage versetzt hatten. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er die nächsten vier Monate auf Anraten seines Managers, der ihn noch immer betreute, gemeinsam mit einem der Baldwin Brüder und anderen mehr oder weniger prominenten Patienten auf der berüchtigten „White Farm“ unweit von Hollywood verbracht und dort endlich wieder zu leben gelernt. Und aus The Skull war langsam aber unaufhörlich wieder Michael geworden.
Gänzlich abgeschlossen wurde seine Metamorphose aber erst, als er zurück zu seinen Eltern in ein kleines Dorf bei Kiel kam, um sich mit 34 Jahren für ein halbes Jahr wieder in seinem alten Jugendzimmer einzuquartieren und zwischen alten Queen-Postern als mehrfacher Millionär einfach nur so in den Tag hinein zu träumen, gute Hausmannskost und vor allem die Liebe und Fürsorge seiner Mutter zu genießen.
Und schließlich fand er auch die Kraft und den Mut wieder, sich bei Birgit zu melden.
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Der Porsche schoss wie ein Blitz durch die Nacht. Die Scheinwerfer bohrten gleißende Lanzen in die Dunkelheit der Holsteinischen Schweiz und dann und wann war die Ostsee durch einige lichte Baumreihen hindurch weit unter ihnen im fahlen Licht der Sterne zu erkennen. Mike lachte wie ein Besessener und musste immer wieder seine Augen schließen, um den drohenden Schwindelanfällen vorzubeugen.
Der Wagen war der Wahnsinn und die Tour war es auch gewesen. 8 Monate, fünf Kontinente, 103 Shows und über 1,5 Millionen Fans. Der Trip quer durch die Welt war ein einziger Eroberungsfeldzug gewesen und verloren hatten alle anderen. Er stand als Sieger ganz oben auf dem Treppchen, die Konkurrenz meilenweit abgeschlagen.
The Skull hatte mit seinem harten Rock und den theatralischen Bühnenshows, gegen die die von Kiss oder Alice Cooper wie blasse Schulaufführungen wirkten, die seichte und gestylte Pop- und Technowelt der 90er kräftig durchgerüttelt und revolutioniert. Seine Songs wurden bei MTV rauf und runter gespielt und eine amerikanische Firma verhandelte bereits mit seinem Manager Robert Neuhaus darüber, ob man von The Skull Spielpuppen im Barbie-Design anfertigen solle.
Nun war er seit zwei Tagen wieder in Deutschland und er war noch nicht in der Lage gewesen, sein Denken, Fühlen und Handeln wieder in einen einigermaßen gleichmäßigen Rhythmus zu bekommen.
„Könntest du bitte ein wenig langsamer fahren, Michael?“
Birgits Stimme klang in Mikes Ohren ängstlich und verärgert zugleich.
„Calm down, baby, calm down. Immer schön cool bleiben. Der Wagen ist noch nicht mal bei 50 Prozent seiner Power angelangt. Das ist ´ne Rakete, wart`s mal ab.”
Mike fingerte in der Innentasche seiner Lederjacke herum, beförderte eine dicke Selbstgedrehte hervor und steckte sie sich zwischen die Lippen.
„Würdest du bitte im Auto nicht rauchen.“ Diesmal hörte Mike die Verärgerung deutlich aus der Stimme seiner Freundin heraus.
„Baby, sorry. Ist schon in Ordnung. Man bist du spießig und verkrampft. Solltest mal ein paar Züge nehmen. Vielleicht wirst du dann lockerer.“
Während der Sportwagen mit 150 Stundenkilometer auf eine enge Kurve zuraste, wand Mike seinen Blick von der engen Landstraße hin zu Birgit und versuchte ihr lachend, den Joint in den Mund zu stecken. Birgit wehrte sich, indem sie seinen Arm wütend wegstieß, wobei Mike die Zigarette aus der Hand fiel und irgendwo im Fußraum zwischen seinen Stiefeln landete.
„Sag mal, spinnst du jetzt total, du blöde Ziege. Weißt du eigentlich, wie viele Girls jetzt gerne hier an deiner Stelle wären. Frigide Schlampe!“ Mike hatte die letzten Worte in einem Anflug von plötzlich aufkeimendem Zorn fast gebrüllt und beugte sich wütend nach vorn, um blind nach der Zigarette zu tasten.
Als er den Kopf senkte, verschwamm plötzlich wieder alles vor seinen Augen und als er sich drehend und trudelnd im leuchtenden Kosmos wieder fand, schleuderte der Porsche mit der rechten Seite donnernd in die Leitplanke. Wie von einer unsichtbaren Hand getragen, flog das Gefährt anschließend über diese hinweg, um dann unendlich langsam eine mit Fichten bewachsene Böschung hinunterzurollen. Der Porsche blieb schließlich mit noch drehenden Rädern auf dem Dach liegen … nur wenige Meter vom Strand des Meeres entfernt.
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Die Sisters of Mercy spielten bereits die dritte Zugabe. Die ehrwürdige Halle kochte und Robert klopfte erneut gegen die Tür.
„Mike, könntest du dich bitte ein wenig beeilen. Die Band würde ganz gerne noch ein paar Sachen mit dir besprechen, bevor es raus auf die Bühne geht. Schließlich ist der Auftritt heute Abend nicht ganz unwichtig für uns alle.“
Keine Reaktion. Langsam wurde er wütend. Da arrangierte er das Comeback des Jahrzehnts und dann so etwas. Mike war schon während der Proben in den letzten Wochen auffallend unkonzentriert und starrsinnig gewesen und nun, 20 Minuten vor dem Gig, diese Scheiße hier.
„Mike, mach hinne. Denk` einmal nicht nur an dich und mach endlich auf!“
Aus der Garderobe von The Skull drang kein Laut. Robert Neuhaus ballte die Fäuste und schrie:
„Entweder du machst jetzt auf oder ich trete die verdammte Tür ein!“
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Michael setzte sich langsam auf, zog Schuhe und Strümpfe aus und ging barfüßig über den Waldboden langsam zum Bach. Dort angekommen, steckte er vorsichtig einen Zeh in das klare Wasser, um die Temperatur zu testen. Dann tauchte er erst den ersten, dann den zweiten Fuß komplett in den Bach und atmete tief ein. Gott, war das eisig. Er hatte die Kälte des Wassers deutlich unterschätzt. Doch er blieb stehen. Auch als sich das kalte Wasser langsam anfühlte wie Feuer und zeitgleich das Gefühl in seinen Zehen abnahm, bewegte er sich keinen Millimeter. Er stand einfach nur da und atmete gleichmäßig ein und aus. Und er spürte, wie sich ein tiefes Gefühl des Glückes in seiner Seele breitmachte.
Vor seinem inneren Auge sah er plötzlich Birgit, wie sie vor einem Monat in ihrem Brautkleid durch den Mittelgang der Kirche auf ihn zugerollt kam. Und er sah das Glänzen in ihren Augen und die Liebe zu ihr durchfuhr ihn wie glühendes Eisen.
Queen`s „Another one bites the dust“ durchdrang die Stille des Waldes und das Plätschern des Baches und Michael stöhnte aus Ärger darüber, dass er sein Handy nicht ausgeschaltet hatte, laut auf. Erst wollte er es einfach klingeln lassen, doch dann stieg er doch aus dem Wasser. Schließlich könnte es ja Birgit sein. Er nahm das Telefon aus dem Rucksack und drückte auf den grünen Knopf.
„Schröder, Michael Schröder.“
„Mike, hey alter Knabe, ich bin´s. Robert.“
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Er hatte sie einfach angerufen und das Telefonat war angenehmer ausgefallen als erwartet. Michael hatte damit gerechnet, dass sie vielleicht sofort auflegen würde, doch sie verhielt sich völlig anders als erwartet. Sie wirkte fröhlich und offen und sie war es auch, die ein Treffen zwischen ihnen vorschlug.
Er steht auf dem Parkplatz des Restaurants. Gegen seinen Wagen gelehnt, eine Zigarette rauchend. Es ist kurz vor sieben und die Maisonne scheint noch hell und warm vom Himmel herab. Eine sanfte Brise weht vom Meer herüber und er kann das Salz riechen. Und dann kommt da dieser dunkelblaue Golf auf den Parkplatz gefahren. Er erkennt von weitem ihr Gesicht, ihre kurzen blonden Haare. Der Parkplatz ist gut gefüllt, sie hat ihn noch nicht gesehen und parkt etwa 100 Meter von ihm entfernt in einer Parklücke. Er tritt die Zigarette aus, verschließt seinen Mercedes und schlendert langsam auf sie zu. Die Tür des Golfs öffnet sich und ein schlanker Arm befördert ein Gestell mit Rädern aus dem Wageninneren. Wenige Handgriffe später wird aus dem seltsamen Ding ein Rollstuhl und dann hebt sich eine schlanke, wunderschöne Gestalt grazil und gelenkig in diesen hinein. Birgit schließt die Tür ihres Wagens, dreht den Rollstuhl und kommt zügig auf ihn zugefahren. Michael ist noch zu weit entfernt, doch er ist sich sicher, dass sie lächelt.
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The Skull vernahm das Klopfen an seiner Tür nur stark gedämpft. Das Kokain wirkte direkt und wesentlich heftiger als er es in Erinnerung hatte. Langsam spürte er, wie Nervosität und Unsicherheit aus ihm entwichen und Kraft und Power an ihre Stelle traten. Sein Fuß wippte zum Beat der Sisters of Mercy und er öffnete die Augen. Vor sich sah er einen grinsenden Totenkopf und er verhieß das pure Leben.
Verflogen war die Wut auf Birgit und ihr Unverständnis ob seiner Entscheidung. War doch seine Sache, was er tat. Und schließlich würde auch ihr dieses Comeback den einen oder anderen Euro einbringen. Die würde schon noch begreifen, dass er stärker und klüger geworden war und dass er die Fehler von damals nicht noch einmal machen würde. Jetzt würde er erst einmal dieses Konzert hier spielen, von dem zugleich eine Live-CD und DVD aufgenommen werden würde. Und dann wäre er binnen eines Monats wieder in den Charts und der Totenschädel würde wieder die Welt regieren. Ach, er würde Birgit überall mit hinnehmen; er würde ihr die Welt zeigen – und natürlich würde sie ihm verzeihen.
The Skull griff nach seiner Brieftasche, die auf dem Garderobentisch lag, und holte ein Photo heraus. Das Bild zeigte ihn und seine Frau am Tag ihrer Hochzeit. Birgit in ihrem traumhaften Kleid aus 30 Meter Seide und er, wie er ihren Rollstuhl aus der Kirche schob.
„Mike, ich warn` dich jetzt zum letzten Mal. Mach` die Scheiß Tür auf, sonst hol` ich den Sicherheitsdienst! Mein Gott, du Arsch! Denkst du, ich investier` so viel Kohle, um mich dann von einem wie dir hinhalten und verarschen zu lassen! Ich habe fast eine Million in die Band, die Produktion und die Werbung gesteckt und du kommst jetzt gefälligst und erfüllst deinen Fuck-Vertrag!“
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Als er zu sich kam, wusste er im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Alles was er hörte war ein Rauschen. Es klang in seinen Ohren fast so wie das Rauschen des Meeres. Und es war dunkel. Schrecklich dunkel.
Er versuchte sich zu bewegen und erst jetzt realisierte er, dass er mit dem Kopf nach unten hing. Und dann war er plötzlich mit einem Schlag da, wo er war. In einem völlig zerstörten Porsche 911, auf dem Autodach liegend und neben sich eine leblose Birgit.
Er versuchte verzweifelt, sich aus seiner Position zu befreien, doch er war festgeklemmt. Er konnte weder seinen Kopf, noch seinen Oberkörper, noch seine Arme bewegen und dann hörte er Birgits Stöhnen:
„Oh Gott, Michael. Michael, hilf mir doch. Ich kann meine Beine nicht mehr spüren, Michael. Tu doch was. Bitte!“
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„Robert hat alles organisiert, das wird einfach nur großartig.“ Mike lief im Wohnzimmer vor Birgit auf und ab und wirkte wie ein begeistertes Kind.
„Er meint, dass ich in nur zwei Jahren mehr Geld machen kann als in den zehn Jahren meiner Karriere. Ein Konzert in der Royal Albert Hall in London mit den Sisters als Vorband, eine direkt dort aufgenommene Live-DVD und CD mit zwei neuen Stücken und dann drei Wochen später eine zeitgleiche Veröffentlichung auf der ganzen Welt.“
Mike kniete sich vor den Rollstuhl seiner Frau und legte ihr die gefalteten Hände auf den Schoß.
„Schatz. Das wird einschlagen wie eine Bombe. The Skull is back. Danach gehe ich noch einmal auf Welt-Tournee und Ende nächsten Jahres ist dann endgültig Schluss. Du, dann haben wir für immer und ewig ausgesorgt.“
Birgit sah ihn nur verständnislos an. Dann schüttelte sie den Kopf, drehte den Rollstuhl in einer einzigen Bewegung um 180 Grad und fuhr langsam aus dem Zimmer. Im Türrahmen blieb sie noch einen Moment stehen.
„Ich dachte, wir hätten eine Abmachung, Michal“, sagte sie leise. Und dann noch leiser: „Wenn du mit diesem Scheiß, dieser Hölle, diesem ganzen Wahnsinn wieder anfängst, brauchst du niemals wiederzukommen. Das ist mein voller Ernst.“
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Seine Hand begann plötzlich wieder zu zittern und sein Geist schrie nach der Flasche, die er für den Notfall ganz unten in seiner Reisetasche deponiert hatte.
In der Halle war es jetzt ruhiger geworden, die Sisters hatten ihren Auftritt anscheinend erfolgreich beendet. Und jetzt war er an der Reihe. Er, der King, Er, der Meister der Massen. Er, der Totalversager.
Draußen klopfte irgendetwas gegen seine Tür, doch er wusste nicht genau, was das sein könnte. Mit dem Photo in der Hand schleppte er sich in die Ecke der Garderobe, wo seine Tasche stand. Hastig und mit Schweißtropfen auf der Stirn wühlte er in seinen Sachen herum. Wo war nur die beschissene Flasche. Als er sie nicht fand, schleuderte er die Tasche mit voller Wucht durch das Zimmer. Dann stand er auf und trat außer sich vor Zorn gegen den Stuhl, den Garderobentisch, den Kleiderständer.
In Schweiß gebadet und vor Angst und Panik schlotternd ließ er sich an einer Wand auf den Boden gleiten und begann hemmungslos zu weinen. Während der ganzen Zeit hatte er sein Hochzeitsphoto krampfhaft in der Hand gehalten. Nun faltete er es mühsam wieder auseinander und versuchte es, Rotz und Wasser heulend, mit fahrigen Fingern auf seinem Oberschenkel wieder zu glätten.
„Birgit“, schluchzte er unverständlich. „Birgit, verzeih`!“
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Die Masse hatte den Auftritt der barmherzigen Schwestern genossen und wartete nun auf die Sensation, den Höhepunkt des Abends. Man wusste, dass The Skull noch ein wenig auf sich warten lassen würde und schließlich war die Tour-Crew mit dem Aufbau der Bühne auch noch nicht fertig. Man nutzte die Chance, um noch schnell auf die Toilette oder zu einem der zahlreichen Getränkestände zu drängen. Überall Totenköpfe und erwartungsvolle Mienen. Es roch nach Zigarettenrauch, Gras, Schweiß, Deodorant, Bier und Erregung. Und überall das Warten auf die Sensation. Die Spannung war fast greifbar und als ein Bühnentechniker probehalber eine E-Gitarre anspielte, gab es kein Halten mehr und die Menge drängte sich mit einer überirdischen Kraft in Richtung Bühne. Jetzt ging es gleich los und wer brauchte in diesem magischen Moment noch ein Bier oder eine Toilette? Denn jetzt würde es geschehen – jetzt würde er kommen. ER!!!
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Birgit hatte ihren Stuhl ganz dicht an den offenen Kamin gerollt und sah gedankenverloren in die lodernden Flammen. Trotz der von ihnen ausstrahlenden Hitze fror sie erbärmlich.
Vor einer Stunde hatte sie den Fernseher, der ihr den halben Tag als Gesprächspartner und Geräuschelieferant zur Verfügung gestanden hatte, voller Verzweiflung ausgeschaltet – just in dem Moment, in dem irgend so ein stumpfes Promi-Journal über das Comeback von The Skull am heutigen Abend berichtete und im Verlauf der Reportage ein Interview mit Michael vom Vormittag ausgestrahlt hatte. Michael hatte aufgedreht und glücklich gewirkt und als sie seine Augen auf dem Fernsehschirm gesehen hatte, wusste sie, dass er für immer aus ihrem Leben getreten war.
Die Tränen liefen ihr in Bächen über die Wangen, und sie hob nicht einmal die Hand, um sie wegzuwischen.
Sie hatte ihn verloren und der Schmerz wütete wie ein glühendes Messer in ihrer Brust.
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Robert stand mit einer Mischung aus Wut und tiefer Sorge hinter dem Hausmeister der Royal Albert Hall und beobachtete, wie dieser Mikes Garderobentür mit einem Generalschlüssel öffnete.
Innen erwartete sie das totale Chaos. Sämtliche Möbelstücke waren umgeworfen, der Spiegel mit Lippenstift völlig beschmiert und der Inhalt aller Taschen und Schubladen im ganzen Raum verteilt worden. Zudem roch es säuerlich nach Erbrochenem.
Und dann nahmen die Männer noch etwas wahr – und zwar jeder für sich im selben Moment, in derselben Sekunde. Und für jeden hatte das offene Fenster der Garderobe eine andere Bedeutung.
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„Und nun noch etwas für die Rocker unter Euch. THE SKULL, der bis vor ca. fünf Jahren weltweite Erfolge als lebender Totenschädel feierte und der vor einigen Wochen sein großes Comeback angekündigt hatte, lieferte heute Abend den Stoff für einen der wohl ungewöhnlichsten Auftritte – oder besser gesagt Nichtauftritte der Rockgeschichte, indem er ein schon begonnenes Konzert in der ausverkauften Londoner Royal Albert Hall in letzter Sekunde platzen ließ. Nach Aussagen seines Managers befand sich der Weltstar wenige Minuten vor dem Auftritt noch in seiner Garderobe, um sich auf den Gig vorzubereiten. Als er dann jedoch auf die Bühne geholt werden sollte, fand man seine Garderobe völlig verwüstet und verlassen vor. Es scheint fast so, als hätte THE SKULL im letzten Moment kalte Füße bekommen und die Halle durch ein enges, aufgebrochenes Kellerfenster heimlich verlassen, wohingegen sich unter seinen Fans ebenfalls noch das Gerücht hält, er sei von dunklen Mächten aus der Unterwelt entführt worden. Die Polizei musste mit mehreren Einsatzteams in die Halle vorrücken, um die wütenden Massen davon abzuhalten, die altehrwürdige Konzertstätte in Schutt und Asche zu legen. Nach Polizeiangaben gab es bis zu 50 Festnahmen. Robert Neumann, der Manager von THE SKULL, betonte in einem Interview mit unserem Sender, dass er jetzt gerichtliche Schritte in Erwägung ziehe, um den entstandenen Verlust von seinem Schützling wieder erstattet zu bekommen.“
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Der alte Taxifahrer wunderte sich schon lange über gar nichts mehr. Und so kümmerte er sich auch nicht sonderlich um den seltsamen Fahrgast, der da mit fürchterlich geschminktem Gesicht auf seiner Rückbank saß und zum Flughafen gefahren werden wollte.
Und so fuhr er. Souverän fädelte er sich in den noch immer dichten Stadtverkehr ein und steuerte seinen Wagen durch das nächtliche London, während sein Kunde in der einen Hand eine gerollte 50-Pfund-Note und in der anderen ein zerknittertes Photo hielt, welches er ohne Unterbrechung anstarrte.
ENDE