Das D-Wort
Mein Problem ist, dass ich kein Problem habe. Sagt meine Mutter. Was sie damit meint, ist, dass ich mir aufgrund einer Ermangelung jener ernster und schwerwiegender Tragödien, die von mir abzuhalten sie und mein Vater ihre gesamte Elternschaft allzu erfolgreich sich bemühten, mir Ersatzprobleme ausdenke. Ihr zufolge haben selbige Konsistenz und Beschaffenheit einer Luftmatratze: eigentlich klein und kompakt, von der Größe nicht einmal eines Schuhkartons und damit problemlos und unauffällig verstaubar, werden sie, gibt man sich nur genug Mühe und pumpt viel Luft hinein, unhandlich, unpraktisch, sind überall im Weg und niemand möchte oder kann so richtig etwas mit ihnen anfangen.
In der Welt meiner Mutter haben auch Probleme ihren festen Platz, indem sie einem vorgegebenem System folgen. Dieses sieht vor, dass sich zunächst einmal als Problem zu erkennen geben (Phase der Identifizierung), anschließend ihre Zweckmäßigkeit oder das Ziel darlegen (Phase der Analyse) und schließlich mithilfe einer entsprechend zugeordneten Strategie überwunden werden können (Lösungs- und Endphase). Bei meiner Mutter existieren keine Probleme, die in sich nicht a) den Kern des Vorankommens („Aus Schaden wird man klug“ usw.) und b) die Möglichkeit der Beseitigung tragen, also unlösbar sind. Folglich leide ich auch nicht unter „Problemen“, sondern allenfalls unter mir selbst.
Da trifft sie wiederum auf die Meinung meines Vaters, der bei mir das „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“ diagnostiziert hat: „Du bist viel zu sensibel und nimmst immer alles gleich persönlich!“ Was er im Übrigen auf die gleiche Ursache zurückführt wie meine Mutter: ich habe einfach zu wenig echte Schwierigkeiten in meinem Leben durchmachen müssen. Als Nachkriegsnachkriegsgeneration ging es mir eigentlich immer schon zu gut und was Hunger und Not ist, weiß unsereins doch schon gar nicht mehr! In seinen Ausführungen vermischen sich Großvaters Erinnerungen mit seinen eigenen und gelegentlich muss ich ihn daran erinnern, dass die zwei abgestorbenen Zehen („dunkelschwarz, sage ich nur! Dunkelschwarz!“) nicht vor ihm im sibirischen Schnee gelegen haben. Aber daran, dass die 50er/60er der jungen BRD auch kein Zuckerschlecken („im wahrsten Sinn des Wortes! Wann gab es für uns schon mal was Süßes!“) gewesen sind, komme ich wohl nicht vorbei, wie sollte ich das Gegenteil beweisen. Dass ich als Kind auch nur mit Honig gesüßte Gummibärchen, aus einer Papiertüte vom Reformhaus und einzeln auf die Hand abgezählt, bekommen habe, lässt er nicht gelten. Allein die Tatsache, dass ich sie hätte haben können, die Zuckerdröhnung, die jedes Kind an der Supermarktkasse brüllen lässt, schafft den fundamentalen Unterschied zwischen uns. Klar, ich will nicht tauschen, schließlich hat Omma mir jeden Samstag eine ganze Tafel Ritter Sport ganze Nuss zugesteckt, aber wann hat unsere Diskussion eigentlich angefangen, sich um Schokolade zu drehen? Begonnen hat sie jedenfalls mit dem Schein in meinem Nebenfach, den ich dieses Semester wohl nicht bekommen werde, weil ich gar nicht erst zur Klausur erschienen bin. So genau habe ich das meinen Eltern nicht erzählt, aber mein Vater hat natürlich sofort gemerkt, dass ich nur einen einzigen Hauptseminarschein erworben habe und dass da auch nur eine gute Drei drauf steht. Ob ich nicht ein bisschen mehr Energie in die Hausarbeit hätte stecken können? Wo ich doch ganz offenbar schon keinen weiteren Schein – Pause – keinen weiteren Schein dieses Semester gemacht habe? Mein genuscheltes „Mir ging es nicht so gut.“ führte zu einem jener Blickwechsel meiner Eltern, die sich schriftlich stets nur unangemessen wiedergeben lassen. Hochgezogene Augenbrauen. Gerunzelte Stirn. Und eine Luft, deren Sauerstoffmangel mich an die letzte Folge „Dr. House“ denken lässt: „Sie kann nicht mehr atmen, sofort intubieren!“
Ich hüstele ein wenig in die säuerliche Stille hinein, ehe meine Mutter damit beginnt, mein „Problem“ definieren zu wollen. Nur um festzustellen, dass es ja an sich gar nicht existent ist, was eine Lösung überflüssig macht.
Meine Eltern lieben mich. Sie machen sich Sorgen, weil es mir ganz offenkundig nicht gut geht und sie möchten mir gerne helfen.
Nie würden sie mir einfach ein Unverständiges und Rohes: „Reiß dich halt ein bisschen zusammen/am Riemen!“ hinknallen.
Stattdessen sagen sie Sätze wie: „Wenn du doch nicht alles so schwer nehmen würdest! Denk doch einfach nicht so viel nach! Geh mal ein bisschen spazieren, wenn du einen blöden Tag hast, schau den Enten (!!) auf dem Teich (!!) zu – und wenn du heimkommst, schaut alles gleich viel freundlicher aus!“
Ich liebe meine Eltern. Ich würde ihnen nie etwas Undankbares und Rohes entgegnen wie: „Ihr redet gequirlte Kacke!“
Stattdessen brülle ich: „Ihr habt ja keine Ahnung!“ und breche in Tränen aus.
Manchmal breche ich auch gleich in Tränen aus.
Als ich das Erste mal vor ihnen derart zusammenklappte, waren sie ehrlich erschüttert, denn seit ich über das Alter aufgeschürfter Knie und Ellenbogen hinausgewachsen war, hatte ich in ihrer Gegenwart nicht mehr geweint. Was folgte, waren liebevolle Umarmungen und Tröstversuche, auch wenn ihnen bereits damals die eigentliche Ursache meines Unglücks verborgen blieben. Mittlerweile reagieren sie mit dem Gleichmut gestandener Soldaten in einer Schlacht, die bereits zu viele Verwundete gesehen hat. Es mag hartherzig klingen und im tiefsten Innern fühle ich mich von ihnen zurückgestoßen, wenn sie mir routiniert ein Taschentuch reichen und mitteilen, dass ich bitte entweder sprechen oder schluchzen möge, weil beides Gleichzeitig ihre Konzentration zu sehr fordere. Aber vermutlich muss man es ihnen nachsehen bei einer Tochter, die 20 Minuten ununterbrochen weinen kann, weil Knut der Eisbär von seiner Mutter im Stich gelassen wurde. (Was übrigens in selbiger Situation äußerst identifikationsstiftend zwischen mir und dem Tierkind wirkte – wir beide, ich sah es glasklar, verlassen und verstoßen, allein in einer Welt der Fremde und Kälte. Mit dem Unterschied, dass er fortan auf dem Bauch seines Pflegers schlafen durfte und von ihm die Blähungen weggestreichelt bekam. Selbst die Zootiere dieses Landes wurden besser versorgt als ich.)
Damit wir uns recht verstehen: Ich bin alles andere als nah am Wasser gebaut. Ich weine nur, wenn es auch einen Grund dafür gibt. Nur welcher das ist, das möchte ich dann doch bitte schön noch selbst entscheiden dürfen!
Seltsamerweise fand ich 74 Paracetamol auf eine Viertel Flasche Whiskey keine derartige Berechtigung. Damals waren es meine Eltern, die, soviel erkannte ich auch mit halb verklebten Augen und Drehschwindel, an meinem Bett saßen und eindeutig geweint hatten. Alternative wäre gewesen, dass sie beide zeitgleich an einer äußerst heftigen Form der Allergie erkrankt waren oder die komplette Nacht zuvor durchgezecht hatten. Ich konnte beides recht schnell ausschließen (nicht, dass es je ernstlich zur Debatte gestanden hätte!), denn als sie meine Versuche, die Augen zur Gänze zu öffnen und den Kopf zu bewegen (keine gute Idee, gar keine gute Idee!) bemerkten, liefen ihnen die Augen und, so unschön es aussah, auch die Nasen bereits wieder über. Ich hatte nicht gerade damit gerechnet, ihnen sobald wieder zu begegnen, schon gar nicht unter derartigen Umständen und mein allmählich ins Diesseits zurück torkelnde Bewusstsein wurde von abgrundtiefer Scham durchströmt. Weniger, weil ich meinen Eltern derartigen Kummer bereitete als vielmehr angesichts der Schmach, dass ich meine Fähigkeiten in dieser Welt zu versagen ganz offenbar noch unterschätzt hatte und nicht einmal im Stande war, einen anständigen Selbstmord über die Bühne zu bringen.
Also schloss ich meine Augen lieber wieder, es ist das Eine, sich seine Eltern gramgebeugt und schmerzerfüllt unter trauerumflorten Himmel vorzustellen, während man selbst unter tausenden von Blumen begraben längst einer besseren Welt zustrebt, etwas anderes, in die vertrauten Gesichter sehen zu müssen, die vor Sorge, Angst und Müdigkeit nur noch wie leere Masken wirken. Außerdem tat mir das helle Licht weh.
Später am Tag, nachdem meine Eltern von einem ernst dreinblickenden Stationsarzt mit Hinweis auf mein Ruhebedürfnis nach Hause geschickt worden waren, verdrückte ich dann doch einige Tränen, allerdings eher aus der Peinlichkeit heraus geboren, dass zuhause auf meinem Schreibtisch mein Abschiedsbrief frei zugänglich herum lag, immerhin hatte ich diesen mit der Aussicht verfasst, mir nie mehr über ungeschickte oder allzu freizügige Äußerungen den Kopf zerbrechen zu müssen. Zwar lag er bei meiner Rückkehr noch an selber stelle, aber aus der Tatsache, dass der Bogen verkehrt herum im Umschlag steckte musste ich schließen, dass sie den Inhalt kannten.
Gesprochen haben wir darüber nicht. Überhaupt wird das ganze Geschehen bei uns kaum thematisiert und wenn niemals namentlich sondern stets nur als diese Sache, mit bedeutungsschweren Kursivlettern. Nicht, dass sich meine Eltern nicht gekümmert hätten. Beinahe ein halbes Jahr lang danach, achteten sie peinlich darauf, dass immer einer von ihnen zuhause war, sie stimmten ihre Arbeitszeiten aufeinander ab und gingen abends nur noch einzeln weg, mein Vater zum Tennis und „Orientalisch kochen“, meine Mutter zum Yoga und dem Französischauffrischkurs. Außerdem hatte ich zwei Wochen nach dem Krankenhaus meinen ersten Gesprächstermin bei einem Psychologen. Herr Klüngelen, war analytisch ausgerichteter Kinder- und Jugendtherapeut, in dessen Metier ich mit meinen 17 Jahren gerade eben noch fiel. Sein Sprechzimmer war vollgestopft mit Spielzeug und wir saßen auf großen Rattanstühlen, die mit Schafsfell ausgelegt waren, auf die ich eigentlich allergisch war, was ich mich aber nicht zu sagen getraute. Überhaupt redeten wir ziemlich wenig und weil ich logischer Weise auch nicht mit Bauklötzen spielen wollte, verliefen unsere Sitzungen reichlich inaktiv. Schließlich ließ er mich aus diversen Gründen regelmäßig Mandalas ausmalen und nachdem ich bei drei Bildern hintereinander nicht mehr zum schwarzen Buntstift gegriffen hatte, stellte er meinen Eltern und mir ein Abschlussgespräch in Aussicht.
Nun, natürlich war es nicht ganz so einfach. Wir haben uns schon gelegentlich auch unterhalten, gleich zu Beginn fragte er mich, warum ich mich umbringen wollte und ob ich froh sei, dass man mich noch rechtzeitig gefunden hatte. Zwei Fragen, auf die ich nicht so schnell Antworten zu finden im Stande war. Ich hatte sterben wollen weil ich des Lebens übersatt war, eine Formulierung, auf die ich irgendwann einmal gestoßen war und die ich selten treffend fand. Ich war einfach der Überzeugung, dass ich die beste Zeit im Leben allmählich hinter mir ließ – die letzten zwei Jahre bis zum Abitur als eine reine Schufterei, der Kampf mit NC und ZVS um einen Studienplatz, die Suche nach sozialer Anerkennung und dem eigenen Platz in der Gesellschaft erschienen mir nur noch anstrengend und abschreckend. Außerdem hatte ich das Gefühl im Alltag bereits an Kleinigkeiten weitaus häufiger zu scheitern als meine Umwelt und das ermüdete mich.
Dennoch war ich nicht zwangsläufig unglücklich darüber, weiterleben zu dürfen und zwar ohne gravierende Folgeschäden weiterleben zu dürfen. Was sagte das nun wieder aus? War meine Handlung nicht mehr gewesen als der Affekt eines Teenagers im Hormonüberschwang oder der Hilferuf einer traurigen Seele? Beide Möglichkeiten erschienen mir demütigend.
Meine Eltern waren erleichtert als die Stunden bei Herrn Klingelen zu Ende waren und die Krise überstanden. Unser Hausarzt hatte mir einen leichten Stimmungsaufheller verschrieben, ich ging wieder zur Schule und meine Mutter achtete nun darauf, dass ich wenigstens einen Toast aß und eine Tasse Tee trank ehe ich aufbrach, denn sie hatte gelesen, dass ein mangelhafter Ernährungszustand Depressionen begünstigen kann. Nicht, dass sie das D-Wort je in den Mund nehmen würde. Bereits damals löste die Vorstellung ihre Tochter könne an einer Krankheit leiden die im ICD-10, dem Diagnoseschlüssel für psychische Erkrankungen, aufgelistet ist bei meinen Eltern akute Hautausschläge und Schwindel aus. Auch sechseinhalb Jahre, drei ambulante Therapien und einen fünftägigen Aufenthalt auf der allgemeinpsychiatrischen Station des Landeskrankenhauses später hat daran nicht wirklich etwas geändert. Natürlich ist es keine Schande und auch gar nicht schlimm, in Therapie zu sein, aber es muss ja nun auch nicht jeder wissen. Genaugenommen darf es eigentlich niemand wissen und wenn wir meine Großeltern besuchen erinnert meine Mutter mich immer daran, nur ja nichts zu erzählen, „was die Omi aufregen könnte. Du weißt ja, wie sie ist!“
Und die wöchentlichen Telefongespräche mit meinen Eltern werden nicht gerade entspannter durch eine Liste von Signal- und Reizworten (schlechter Tag/Zeit/Phase, Rezept, Apotheke, Hausarzt, traurig, einsam, weinen....usw.) die einen befangenen Schweigemoment nach sich ziehen. In der Regel ist es durchaus einfacher, zu behaupten, dass es schon so gehe. Irgendwie und letztendlich trifft das ja auch zu - denn es geht schließlich immer genau so lange, bis es nicht mehr geht.
Jetzt und hier zuhause muss ich aber ein bisschen mehr Ehrlichkeit aus mir herauspressen, auch wenn die Folge für uns drei unangenehm und peinlich wird. Aber nur so erspare ich meinem Vater eine Diskussion über Studiengebühren, den Hauskredit, Inflation und steigende Benzinpreise.
„Gehst du denn noch zu deinen...deinen Terminen?“ fragt meine Mutter. Ihre Stimme hat jenen Klang, der ausschließlich für Gespräche dieser art reserviert ist: betont fürsorglich, leicht heiser und insgesamt so angespannt, als verhandelten wir hier eine Bewährungsstrafe. Was sie meint sind meine Therapiesitzungen bei Frau Sansibaar, deren Namen auch nur im Kurzzeitgedächtnis abzuspeichern sie sich weigert.
„Ja, doch, klar.“ Das ist Teil meiner Bringschuld, der ich stumm zugestimmt habe, dafür dass meine Eltern mir ein immer längeres und längeres Studium finanzieren. Einerseits bedeutet diese Therapie zwar, dass ich nicht so reibungslos funktioniere wie die Söhne und Töchter ihrer Bekannten („Der Burger Johannes hat jetzt dann sein Diplom in Architektur in der Tasche und die Alexandra Wiehießsienoch macht im Juni Staatsexamen.“), andererseits offeriert sie aber auch die Möglichkeit einer Besserung, die mich doch noch die Kurve kriegen lässt. Stellt in Aussicht, dass ich mich, zwar verspätet aber immerhin, eines Tages einreihen werde in den Zug alljener fröhlich-freien Uniabsolventen, die ihren Eltern nicht mehr auf der Tasche liegen und endlich wirklich eigenständig ein selbst finanziertes Leben führen. Die in Schritt zwei drei und vier Trauring, Eigenheim und Kinder vorzuzeigen im Stande sind.
Ich verstehe meine Eltern. Sie sind jetzt beide Anfang fünfzig und vermutlich wünschen sie sich nichts mehr, als dass endlich Ruhe einkehrt in ihr Haus, das sie in vier, fünf Jahren hoffentlich abbezahlt haben werden und das sie nun nur noch zu zweit bewohnen. Sie haben es mehr als alles andere verdient, sich um nichts Größeres mehr Sorgen machen zu müssen als um die Ernte ihrer Reben an der Garagenwand oder der Mäusefamilie im Garten. Und natürlich wünsche ich ihnen, dass sie irgendwann einmal Enkelkinder auf dem Schoß schaukeln können und Familienfotos in der Nachbarschaft herumzeigen. Im Moment bin ich aber noch nicht so weit.
„Wie viele Stunden sind denn noch offen?“ erkundigt sich mein Vater, um seinen Part an Teilnahme beizutragen.
„19“
„Na, das ist doch noch eine ganze Menge!“ sagt er und ich sehe ihm an, dass er sich fragt, was ich nach all der Zeit noch einmal fast fünf Monate lang bloß besprechen will. Er ist nicht gerade der große Redner und einer Therapie würde er sich vermutlich nur unter Androhung von physischer Gewalt oder ähnlichem unterziehen. Solange er da nicht reden muss.
Meine Eltern haben nichts gegen Therapeuten oder Menschen, die sich therapieren lassen, es ist schließlich nichts dabei, wenn man ein Problem hat. Und wenn man sich das Bein bricht, geht man ja auch zum Arzt, warum soll man bei einem seelischen Problem sich nicht auch helfen lassen.
Dennoch komme ich nicht umhin zu denken, dass ihre Einstellung diesbezüglich toleranter war, ehe sie mich eines Abends alkoholisiert und mit einer Überdosis Schmerzmittel im Blut zu der Endlosschleife von Bon Jovis „Always“ auf dem Sofa vorfanden. Es leuchtet ihnen nicht ein, warum gerade ihre Tochter, ihr Krabbelkäfer, ihr Küken, das Leben so traurig findet, dass es phasenweise das Bett nicht zu verlassen im Stande ist, nichts isst, nichts trinkt, als Nichtraucherin Packungen von Zigaretten vernichtet und nicht aufhört zu weinen. Das D-Wort.
Nachdem sie mit inquisitorischer Genauigkeit Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Misshandlung und Mobbing bei mir ausschließen konnte, blieb ihnen als einzige Möglichkeit ihr Weltbild wieder gerade zu rücken die Relativierung meines Problems bis hin zur Leugnung seiner Existenz.
Aber weil meine Eltern kluge, liebende und mittlerweile in Psycholiteratur belesene Menschen sind, respektieren sie, dass ich dennoch eines habe. Es findet nur im allgemeinen Sprachgebrauch seinen Platz in einem untergeordneten Nebensatz. „Ich weiß zwar nicht genau, was daran so schlimm ist, ABER WENN DU DAMITNICHT ZURECHT KOMMST....“
Nach einigen Wochen Semesterferien bei ihnen weiß ich wieder, warum wir die Telefonate auf einmal wöchentlich beschränken.
„Wenn du jetzt hier bist....gehst du dann mal zu Dr. Berg?“ will meine Mutter wissen. Dr. Berg ist der Familienhausarzt, der nach dem ende meiner ersten Therapie und anderthalb Jahre bis zu meinem nächsten ernsthaften tief die rolle des therapeutischen Freundes einnahm. Er bestellte mich alle drei bis vier Wochen zu sich in die Praxis und nahm sich ein wenig Zeit um mit mir mir über Schule, Familie, Alltag und das Leben schlechthin zu sprechen. Da er aber seinen Facharzt nur in internistischer Medizin gemacht hat, darf sein Name ruhig auch in Gegenwart meiner Eltern im Munde geführt werden, meine Mutter erkundigt sich sogar nach unseren Gesprächen oder lässt ihm Grüße ausrichten. Während der Semesterferien mindestens einmal bei ihm vorbei zu gehen gehört zu meiner Pflicht meine Eltern zu entlasten, zu verhindern, dass sie wieder damit beginnen, mich zu kontrollieren, zu beargwöhnen oder nachts dreimal aufstehen um nachzusehen, ob ich noch lebe. All diese Phasen gab es, wir sprechen nicht mehr darüber, weil „die Vergangenheit vorbei“ ist, aber die Erinnerungen daran ruhen in den Hinterzimmern unseres Gedächtnisses wie der Staub auf den obersten Regalbrettern des Bücherbords.
„Ja, mach ich.“
„Gut.“ Meine Mutter ist beruhigt, zufrieden, sie wendet sich meinem Vater zu: „Sag mal, Hans-Georg, hast du eigentlich das Schweinefilet für morgen zum Auftauen rausgelegt?“
Wir sind noch einmal davon gekommen.