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Das dunkle Erbe

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24.03.2005
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Das dunkle Erbe

Das dunkle Erbe

1. Kapitel
Das seltsame Häuschen im Park

Der Wind frischte auf. Ein leises Rauschen durchdrang die nächtliche Stille, als sich die Blätter dem Tanz, zu dem sie der Wind aufforderte, hingaben.
Die glühenden Augen eines kleinen fremdartigen Geschöpfes huschten suchend auf der einsamen Waldlichtung umher. Seine Silhouette hob sich im Mondschein sichtbar von allen anderen Umrissen ab. Lauernd und witternd stand es da, völlig reglos. Nur seine gespenstischen Augen, die wie kleine feurige Funken in der Dunkelheit zu sehen waren, wanderten unstet umher. Jeden ihm erreichbaren Winkel versuchte es zu erforschen, solange, bis alle Geheimnisse sein waren.
Hin und wieder stieß es ein leises, boshaftes Zischeln aus, das dem Mädchen einen eiskalten Schauer über den Rücken rieseln ließ. Sein kleiner, rattenähnlicher Schwanz peitschte bei jedem Rascheln oder Knacken, der sich im nächtlichen Wind wiegenden Äste, wild umher. Es war, als suchte es etwas, doch Melissa sollte erst viel später erfahren, was es gewesen war.
Sie stand wie jede Nacht unter der großen, knorrigen Buche am entgegengesetzten Ende der Lichtung und konnte ihren Blick nicht von dem bizarren Geschöpf lösen.
Wie immer war es, als zöge es sie magisch an. Sie war nicht imstande sich von seiner Erscheinung zu lösen, obwohl ihr Herz bei seinem Anblick zu rasen begann.
Das Geschöpf züngelte leise. Sein Blick blieb an der Stelle haften, an der sie stand. Melissa spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Soviel Boshaftigkeit lag in diesem Blick, soviel Hass und etwas anderes, etwas Dunkles, dass sich wie eine finstere Aura um seinen kleinen Körper schloss. Melissa schluckte krampfhaft und versuchte ihren Blick abzuwenden, doch sie konnte es nicht. Auch dieses Mal war es, als halte es sie mit seinen glühenden Augen gefangen.

Noch bevor die leise, glockenhelle Melodie in der Nacht erklang, ahnte Melissa, dass es geschehen würde. Das Wispern der Bäume hatte sich verändert. Es wirkte sanfter, wie ein beruhigendes Lied. Auch das kleine Geschöpf musste die Veränderung gefühlt haben, denn sein kantenförmiger, schwarzer Kopf bewegte sich ruckartig hin und her.
Mit dem Wissen, was sie sehen würde, ließ Melissa ihren Blick auf den Weg schweifen, der auf diese Lichtung führte.. Trotz dieses Wissens war sie wie gebannt. Eine Woge von Wärme und Licht durchfloss ihren Körper und breitete sich aus. Melissa konnte sehen, wie jeder kleine Grashalm, der mit diesem Licht in Berührung kam, noch um ein kleines Stückchen zu wachsen schien; als wolle er den Kommenden eine würdige Begrüßung bereiten.
Das kleine Geschöpf begann schrill zu kreischen. Das Peitschen seines zottigen Schwanzes wurde nervöser und seine Fledermaus ähnlichen Ohren begannen unkontrolliert zu zucken.
Es sah sich panisch um, suchend nach etwas Dunkelheit, in die es sich zurückziehen konnte und in der es sicher war. Doch wie jede Nacht wurde es ihm verwehrt. Melissa spürte etwas Mitleid mit dem kleinen Wesen, dass sich wie ein eingekreistes Raubtier, ohne Aussicht auf Rettung, hastig hin und her bewegte, doch sie konnte ihm nicht helfen.

Als die Narsani auf der Lichtung erschien, war es, als ob das Licht noch ein wenig heller würde. Wie zuvor bei dem kleinen Geschöpf, waren Melissas Augen mit einem Blick auf dieses anmutige Wesen, wie in einem Bann gefangen.
Sie stand wie angewurzelt unter der Buche und wartete auf das, was nun kommen würde.

Die Narsani trat auf das kleine Geschöpf zu und streckte ihre zarte, milchig weiß schimmernde, Hand aus, zog sie dann aber mit einer fast hastig wirkenden Bewegung zurück, als der Sznaerl mit einem Fauchen den Kopf hob und eine kleine, gespaltene Zunge aus seinem, mit spitzen Zähnen umrandeten Maul, schoss. Das Licht schien für einen Moment gleißend hell zu werden und Melissa musste blinzeln, als sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Als sie diese wieder öffnete und die Tränen weggewischt hatte, konnte sie erkennen, dass sich die helle Gestalt etwas zurückgezogen hatte, den Sznaerl aber weiterhin aus ihren gutmütigen, weisen Augen ansah.
Eine weitere Gestalt war hinter ihr aufgetaucht, deren Lichtschein den der Narsani bei weitem übertraf.
Das kleine Geschöpf duckte sich wie unter einem Peitschenhieb. Es wich, kleine trippelnde Schritte machend, leise wimmernd zurück.

Melissa beobachtete den Narsanan ehrfürchtig. Sie fragte sich, woher sie plötzlich wusste, zu welchem Volk diese Wesen gehörten, aber sie vergaß den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Neugierig trat sie einen Schritt auf die Lichtung hinaus, doch bevor sie wirklich einen Fuß auf den moosigen Boden setzen konnte, begann sich ein nebliger Schleier auf die Lichtung zu legen. Alles um sie herum schien zu verwischen und die Narsanah, ebenso wie der Sznaerl verschwanden langsam im weißen Dunst.

Eine Hand berührte unsanft ihre Schulter. Melissa schreckte mit einem überraschten Keuchen hoch. Verwirrt blinzelnd sah sie in das Gesicht ihrer Freundin Kristin. "Was- was ist?“, murmelte sie verschlafen und strich sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. Die jadegrünen Augen ihrer Freundin deuteten beschwörend nach oben. Melissa runzelte die Stirn und sah sie fragend an. Kristin stieß sie nun mit Nachdruck in die Rippen und Melissa wandte den Kopf. Erschrocken machte sie eine hastige Bewegung nach hinten, die sie fast das Gleichgewicht verlieren und vom Stuhl fallen ließ. Direkt vor ihrem, war das zornesgerötete Gesicht ihres Mathelehrers aufgetaucht, der sie wütend ansah.
"Gut geschlafen, Fräulein?“, fragte er süffisant.
„Wenn dem so ist, dann wird es ihnen doch bestimmt sehr leicht fallen, die Aufgaben an der Tafel zu lösen, nun da sie so gut erholt sind.“, fuhr er etwas lauter fort.
Die Klasse begann zu kichern und zu flüstern. Melissa schluckte. Sie wurde rot vor Verlegenheit. In ihrem Hals war mit einem Mal ein sehr dicker Kloß. Kristin flüsterte ihr die Antwort auf die erste Aufgabe zu, doch Melissa verstand nicht, was sie sagte. Ihr Mathelehrer hob eine Augenbraue. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich bedrohlich. „Auf deine Note in der Arbeit bin ich wirklich sehr gespannt, Melissa.“, sagte er ruhig. Mit diesen Worten ging er zurück zur Tafel. Kristin atmete neben ihr erleichtert auf, doch bei Melissa wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen. Den Rest der Stunde verbrachte sie damit, sowenig wie möglich aufzufallen, was jedoch ziemlich fehlschlug. Sie konnte noch so tief in ihren Stuhl hinabrutschen. Mr. Carter nahm sie bei fast jeder zweiten Aufgabe dran und nach der Stunde gab er ihr sieben Aufgaben über die Differentialrechnung zusätzlich zu den Hausaufgaben dazu. Damit sie die verlorene Zeit des Unterrichts aufarbeiten konnte, wie er ihr lächelnd mitteilte. Der Tag war für sie gestorben und alles nur wegen diesem Traum.
Dem Traum, der sie jede Nacht heimsuchte, seit nun fast einem Jahr, seit dem Tod ihres Onkels. Zu Beginn hatte sie nur von der Lichtung geträumt. Dann waren mit der Zeit immer mehr Details hinzugekommen, bis zum heutigen Tag.
Kristin stieß sie an und begann zu lachen, sowie einige andere aus ihrer Stufe, die sich um die Beiden nach dem Unterricht versammelt hatten. Melissas Verhalten war natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Noch keiner war in Mr. Carters Unterricht eingeschlafen und gerade sie hatte es natürlich wieder geschafft.
Das konnte ja noch ein wundervoller Tag werden, dachte sie. Fünf Stunden lagen noch vor ihr und sie stöhnte bei dem Gedanken daran, dass sie in den übernächsten Stunden die Gelegenheit hatte, ein zweites Mal Mr. Carter ´s Unterricht beizuwohnen. Mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass sie dann Chemie haben würde und sie in diesem Fach noch schlechter war, als in Mathe. Daran zu denken, ob und wie sie diese beiden Stunden überleben würde, vermied sie lieber. Selbst die aufmunternden Sprüche von Kristin konnten sie nicht aufheitern und so wartete Melissa mit einem unguten Gefühl auf die Dinge, die da kommen würden.
Hinterher hatte sie sich in der Tat gefragt, wie sie es geschafft hatte, die beiden Stunden zu überleben. Hätte ihr jemand vorher gesagt, dass Mr. Carter nachtragend war, dann hätte sie sich das mit dem Einschlafen im Unterricht dreimal überlegt. Nur leider gab es an der Sache einen winzigen Haken. Vor der Stunde war sie hellwach gewesen. Angestrengt überlegte sie, wie sie so müde hatte werden können, dass sie eingeschlafen war. Sie seufzte.
Jetzt war es zu spät daran noch etwas zu ändern.
Drei Tage vergingen wie im Flug und Melissa hatte wenig Zeit, sich über den Traum Gedanken zu machen, obwohl sie ihn auch in den drei folgenden Nächten weiterhin träumte. In der Schule hatte sich nicht viel geändert. Der Unterricht verlief wie immer in ruhigen und unspektakulären Bahnen. Die Abschlussprüfungen rückten näher und Melissa versuchte sich ganz auf den Lernstoff zu konzentrieren.
Kristin hatte sie noch nichts von ihren seltsamen Träumen erzählt, obwohl sie beste Freundinnen waren und sonst über alles redeten. Irgendwie war es aber, als ob etwas sie warnte Kristin einzuweihen. Also tat sie es nicht.

Am nächsten Morgen fühlte sich Melissa müde und ausgelaugt, wie schon lange nicht mehr. Sie hatte wieder geträumt, aber irgendetwas war in dieser Nacht anders gewesen. Melissa konnte schwören, dass sie den Wind im Traum gefühlt hatte, ebenso wie die eisige Kälte des Sznaerl, die er verbreitet hatte und später die wärmende, trostspendende Aura der Narsanah –als wäre es real. Schon oft hatte sie sich die Frage gestellt, was wohl vor der Lichtung an Geschehen stattfand oder ob es überhaupt davor etwas gab, geschweige denn danach. Ihr Traum begann immer nur auf der Lichtung und endete mit ihrem Wunsch diese zu betreten. Einerseits war sie neugierig, wie der Traum wohl weitergehen würde, doch andererseits bereitete es ihr ein wenig Unbehagen, dass sie nicht wusste, wie sie auf die Lichtung gekommen war und was wohl danach kommen könnte.
„Du wirst verrückt.“, murmelte sie leise und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie sah übermüdet aus, unter den blauen Augen lag ein dunkler Ring. Einzig ihre Haare schienen angriffslustig, wie eh und je. Sie griff nach der Bürste, versuchte die widerspenstigen Locken wenigstens ein bisschen zu ordnen, doch es war aussichtslos. Mit einem Mal stockte sie. Ein winziger Kratzer lief von der rechten Seite der Stirn hinab zum Ohr. Sie legte die Bürste beiseite. Verwirrt tastete sie an die Stelle und betrachtete den Tropfen Blut, der an ihrem Zeigefinger zu sehen war.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich gestoßen hatte. Nachdenklich musterte sie den Schnitt und fragte sich, woher sie ihn haben konnte. Jetzt, da sie sich genauer betrachtete, bemerkte sie nach und nach weitere Schrammen, die am Hals und an den Armen zu sehen waren. Sie spürte, wie sie unruhig wurde.
Irgendwie sahen sie aus wie die Kratzer, die sie sich früher immer geholt hatte, als sie draußen im Wald herumgeturnt war.
Melissa schluckte und wich einen Schritt vom Spiegel zurück. Dann drehte sie sich um und hastete aus dem Bad.

Als sie die Küche betrat, sah ihre Mutter überrascht aus der Zeitung auf. „Guten Morgen, Meli. So früh heute?“ Melissa sah zur Küchenuhr und registrierte, dass es erst sieben Uhr war. Sie hatte noch fast eine halbe Stunde Zeit, bis ihr Bus fuhr. Sie murmelte ein leises „Guten Morgen“ und ließ sich auf den Stuhl sinken. Ihre Mutter zog fragend die Augenbrauen hoch. „Ist etwas, Schatz?“ Ihre Stimme klang besorgt. Melissa schüttelte den Kopf und murmelte etwas von furchtbar müde. Sie hatte keine Lust zu reden.
Irgendwann erhob sie sich und griff nach ihrer Schultasche. Es war mittlerweile kurz vor halb Acht.
Sie nahm den Weg durch den kleinen Park, denn so hoffte sie Kristin noch erwischen zu können, bevor diese den Bus nehmen würde.
Die Sonne war schon vor einigen Stunden zwischen den Bäumen aufgetaucht, dennoch war es kühl. Melissa zog die grüne Cordjacke enger zusammen. Ihr Blick schweifte nachdenklich über den menschenleeren Park. Dieser Traum ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Was verbarg sich dahinter. Woher hatte sie diese Kratzer?
Vor ihr schlängelte sich der kleine sandige Weg am Ufer eines großen Sees vorbei, auf dem ein paar Enten lautstark darum stritten, wer den Morgen als erstes begrüßen durfte. Ein Hase hoppelte vor ihr über den Weg, auf den Wald zu, an einem kleinen runzligen, von verdorrten Ästen umrankten Häuschen vorbei und... .

Melissa stutzte und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Mit einer Mischung aus Unglauben und Staunen sah sie zu dem kleinen Haus, dass dort, völlig von verdörrtem Geäst und Efeu bedeckt, einige hundert Meter vor ihr aus dem Wald ragte. Sie blinzelte verwirrt und rieb sich über die Augen, doch das Häuschen blieb wo es war.
Sie starrte mit offenem Mund auf die winzigen Fenster, die kleine, mit ihr unbekannten Zeichen verzierte Holztür und den sich in verschnörkelten Bahnen kräuselnden Rauch, der aus dem Schornstein zwischen den Wurzeln hervorströmte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Neugierig ging sie näher heran, bis sie direkt davor zum Stehen kam.
Stirnrunzelnd streckte sie die Hand aus, zog sie dann jedoch zurück und schaute zurück auf den Weg, den sie gekommen war. Wie war das möglich? Wie kam dieses seltsame Häuschen hierher. Vor drei Tagen war es noch nicht hier gewesen. Gehörte es vielleicht zu einer Attraktion des Bauernmarktes, der in zwei Tagen in der Innenstadt sein würde?
Melissa drehte sich um und ließ ihre Augen über den See schweifen. Dahinter lag die Stadt und die Kirche mit dem Turm aus dem 14. Jahrhundert. Melissa zuckte zusammen. Der Kirchturm, er war nicht zu sehen. In ihrem Magen breitete sich ein dumpfes Beben aus, das langsam aber stetig von ihrem Körper Besitz ergriff. Als ihr Herz wild zu pochen begann, wusste sie, was es war - Angst.
Sie zählte in Gedanken bis zehn. Mit einem Ruck wandte Melissa sich um und starrte wie gelähmt auf das Häuschen, das immer noch vor ihr stand, eingebettet in den Schoß des Waldes. Ein eiskalter Schauer rieselte über ihren Rücken herab. Was war hier los? Träumte sie vielleicht erneut? Noch einmal kehrte sie dem Häuschen den Rücken zu, in der Hoffnung, der Kirchturm könnte in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht sein, doch er blieb verschwunden.

Etwas zupfte energisch an ihrer Jacke.
Melissa erstarrte. Das Zerren wiederholte sich. Hinzu kam ein leises Plappern, von dem sie kein einziges Wort verstand. Melissa schloss einen Moment die Augen. Dann drehte sie sich um.
Das letzte, was sie sah, bevor sie vor Schreck in Ohnmacht fiel, war das grüne, schuppige Gesicht eines gedrungenen Wesens mit übergroßen Fledermausohren, welches sie mit großen, gelben Augen neugierig anstarrte.

Firäll blickte verwirrt auf das vor ihm liegende Mädchen. Das war ihm in seinem Leben, das mittlerweile 245 Jahre,26 Tage und 3 Stunden umfasste, auch noch nicht passiert: jemand, der bei seinem Anblick in Ohnmacht fiel. Sicher, er war kleiner als die anderen seiner Art, vielleicht auch nicht übermäßig ansehend durch diese übergroßen Ohren, aber so hässlich war er nun doch auch wieder nicht. Er schnaufte und sah sich dann unschlüssig um. Sollte er sie einfach hier liegen lassen? Vielleicht wachte sie ja gleich wieder auf. Er beugte sich über Melissa und stupste sie an.
Nachdenklich kratzte er sich mit seinen kleinen Krallen hinter den Fledermausohren, als sie sich nicht regte. Er konnte sie doch nicht einfach hier liegen lassen. „Passt sie überhaupt durch die Tür?“, fragte er sich, als sein Blick zum kleinen Holzeingang schweifte.
Er grummelte. Warum musste ihm das wieder passieren, ihm, dem stets hart arbeitenden, frommen Firäll.
Von welchem sonderbaren Stamm kam die Fremde überhaupt. Ihre Kleidung war so seltsam. Seit wann trugen weibliche Nasanah denn an jedem Bein Stoff und wo waren die spitzen Ohren? Der Kobold runzelte die von Falten durchzogene Stirn.
Konnte sie etwa eine von diesen Kurzohren sein?
Wenn sie eine von ihnen war, dann musste er sie so schnell wie möglich loswerden. Am Besten schickte er Raszi zu den Narsanah. Die kannten sich mit denen aus und er war das Problem los. Sollten sie sich doch mit ihr herumschlagen.
Firäll sah sich um, ob auch niemand ihn beobachtete und begann dann unter ächzenden Geräuschen den bewusstlosen Körper Melissas zum Haus zu bewegen. Nach einem halben Meter gab er schimpfend auf, holte tief Luft, um dann noch lauter vor sich hin brabbelnd einen zweiten Versuch zu starten.
Die Sonne hatte sich mittlerweile etwas weiter auf die andere Seite des Horizontes verlagert, als Firäll völlig erschöpft an seiner Haustür hinunterglitt und schnaufend auf dem Erdboden sitzen blieb. Seine Laune hatte sich um einiges verschlechtert. Wieder einmal, wie so oft in den vergangenen zwei Stunden, fragte er sich, warum gerade ihm so etwas passieren musste, vor allem aber, warum er es nicht schaffte, auch nur einmal "nein“ zu sagen, wenn jemand nach seiner Hilfe fragte. Andererseits hatte sie ihn nicht gefragt.
Ein leises Stöhnen ließ ihn hochschrecken. Soso, nun wurde das Kurzohr also wieder wach, wenigstens musste er sie nun nicht mehr tragen.
Neugierig, aber auch etwas nervös, erhob er sich.

Melissa hatte sich inzwischen aufgesetzt und blinzelte verwirrt.
Als sie Firäll vor sich sah, wurde ihr Gesicht blass. Sie rutschte hastig ein paar Meter zurück.
"Wer ,nein, WAS bist du?“, brachte sie hervor. Sie fasste sich an die Stirn. War sie krank? Hatte sie vielleicht etwas an den Kopf bekommen? Der Kobold sah sie nicht weniger verwirrt an, doch auf seinem Gesicht breitete sich immer mehr ein amüsiertes Grinsen aus.
Er trippelte auf sie zu und sah sie mit schiefgelegtem Kopf an. Seine Fledermausohren berührten fast den Boden. "Du wissen willst meinen Namen?“ Er reckte sich ein kleines Stück höher, was ihn noch komischer aussehen ließ. "Ich Firäll der Kobold bin“ Er nickte ernst.
Melissa sah ihn weiter ungläubig an, rieb sich die Augen und begann dann laut zu lachen.
"Ein Kobold? Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Firäll blinzelte, schien einige Sekunden zu überlegen. Dann trat er einen Schritt an sie heran und versuchte sie auf seinen Rücken zu heben. Melissa keuchte auf. “Was machst du denn da? Bist du verrückt?“. Der Kobold sah sie fragend an, runzelte schließlich die Stirn und grummelte dann leicht. "Du mir gesagt, Firäll dich hochheben soll, also Firäll gemacht, was du gesagt.“

Melissa sah ihn mit einer solchen Verständnislosigkeit an, dass der Kobold unter ihrem Blick nach vorn und hinten zu wippen begann. Seine grüne Nase zuckte leicht.
Melissa begann zu schmunzeln "Das sollte ein Scherz sein, das war nur ein Sprichwort.“, sagte sie grinsend.
Firälls dunkelgrüne Schuppen über den Augen schoben sich etwas näher zusammen, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich um. Er war beleidigt. Erst fiel dieses Kurzohr vor ihm in Ohnmacht und er durfte sich den halben Tag damit abmühen, es fünf Meter weiter zu bewegen und dann machte es sich auch noch über ihn lustig. Er brabbelte lauter Flüche vor sich hin, die ihm in den Sinn kamen, streckte die Hand nach seiner Haustür aus und verschwand ohne sich noch einmal umzublicken in seiner Hütte.
Melissa blieb verwirrt sitzen. Ein Kobold? So etwas gab es doch gar nicht. Sie waren nur in Sagen und Geschichten zu finden. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Als der Kobold aber im Haus verschwand, wurde ihr mulmig. Wo war sie hier? Wer war er und vor allem, wie kam sie wieder zurück? Die Schule musste doch bestimmt jede Minute anfangen und ihre erste Stunde hatte sie bei Herrn Carter. Er würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie nun auch noch seinen Unterricht schwänzen würde.
Melissa legte den Kopf in den Nacken und ließ ihren Blick über den sich der Dämmerung zuneigenden Himmel schweifen. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Sprung. Die Schule war seit Stunden zu Ende, es musste bereits nach fünf sein. Unsicher stand sie auf. Die Umgebung des Häuschens hatte sich nun, da sie sich aufmerksamer umsah, noch weiter verändert. Der See war kleiner und von Laubbäumen umringt. Es war keine Ähnlichkeit mehr mit dem englischen Garten festzustellen, durch den sie zuvor gegangen war. Melissa stand auf und ging auf die Holztür zu.
Ewig konnte dieser Firäll doch nicht beleidigt sein. Ob er sie draußen sitzen lassen würde?
Melissa klopfte zaghaft. Keine Regung.
Nachdem sie noch mehrmals geklopft hatte, öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt breit. Firäll lugte heraus. Als er sie sah, knallte er die Tür wieder zu.
Melissa seufzte leise und klopfte dann erneut. " Bitte, es tut mir leid. Ich will nur mit dir reden, du kannst mich doch nicht einfach hier draußen stehen lassen. Ich kenne mich hier nicht aus.“
Es dauerte nicht sehr lange, bis sich die Tür erneut öffnete und der Kobold sie mit nachdenklich wirkendem Gesicht ansah. " Du dich nicht mehr machen lustig über kleinen Firäll?“ Melissa beeilte sich zu nicken. Firäll sah sie noch einen Moment lang scheinbar grübelnd an und öffnete dann die Tür ganz, so dass Melissa eintreten konnte.
Kaum war sie über die Schwelle getreten, fiel die Tür hinter ihr mit einem leisen Klicken zurück ins Schloss.
Melissa lächelte den Kobold dankbar an und sah sich um. Das Innere dieser seltsamen Behausung war ganz aus Holz. Es schien, als ob das Haus einfach aus dem Boden gewachsen war. Zweige und Blätter rankten sich über die Wände und wurden als Regale genutzt. Ein kleiner Tisch und zwei Stühle, ebenfalls aus Holz standen mitten im Raum, im Hintergrund waren zwei Türen zu sehen.
Melissa stellte ihre Schultasche neben sich auf das Holz. „Wow“, war das einzige, was sie herausbrachte. Firäll gluckste. „Es sehr gemütlich ist. Du dich setzen kannst auf Stuhl, dann wir reden.“
Melissa nickte. Vorsichtig ließ sie sich auf einen der Stühle nieder. Er war viel zu niedrig, aber sie war so sehr ins Staunen versunken, dass sie diesen Umstand gar nicht wahrnahm. Firäll nahm ihr gegenüber Platz und beobachtete sie mit unverhohlener Neugier. Er hatte den breiten Kopf auf die Pfoten gestützt. Melissa betrachtete ihn zum ersten Mal ihrer Ankunft genauer. Er wirkte drollig, wie eine dieser norwegischen Trollfiguren, nur dass die Proportionen nicht so ganz zusammenzupassen schien. Die knollige Nase war überzogen von Schuppen, die den gesamten Körper überzogen. Sie schimmerten grünlich, je nachdem, wie das Licht darauf viel. Die gelben Augen leuchteten, wie Sonnenblumen, die von der Sonne erhellt wurden. In ihnen lag ein schelmischer Ausdruck. Die Ohren erinnerten sie an eine Fledermaus. Das einzige, was ihr an diesem Kerl einigermaßen bekannt vorkam, war die Kleidung, auch wenn sie solch eine Latzhose noch nie zuvor gesehen hatte. Anstatt der beiden Träger, die normalerweise die Hose tragbar machten, schienen Pflanzen den moosgrünen Stoff zu halten. Sie gingen nahtlos in die Hose über.
Firäll räusperte sich übertrieben. „Du fertig sein damit, armen Firää anzustarren?“ Er zog seine Nase kraus. Melissa lachte auf und nickte. Der Kobold nahm dies mit einem zufriedenen Nicken zur Kenntnis. „Gut, dann du mir sagen, was du hier willst in unserer Welt“, sagte er und sah sie fragend an.
Melissa zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie ehrlich. „Eigentlich war ich auf dem Weg zur Schule...“
Schon als sie geendet hatte, wusste sie, dass es ein Fehler war die Schule zu erwähnen, denn Firälls Augen weiteten sich neugierig. „Was sein Schule?“, fragte er prompt.
Melissa seufzte. Das konnte ein langer Abend werden, wenn er sie nach jeder Sache fragte, die sie erzählte. Vor allem war doch eigentlich sie diejenige, die über diese Welt etwas wissen wollte.
Firäll sah sie mit solch bittendem Blick an, dass sie erneut lachen musste. Und so begann sie zu erzählen.

Der Sleyrinel hob ruckartig den Kopf. Seine dunklen Augen glitzerten boshaft und so etwas, wie ein Lächeln durchzog seine schwarzgefurchten Wangen.
Er richtete sich zu voller Größe auf. Der Blick seiner Augen ruhte noch immer auf dem hellerleuchteten kleinen Häuschen, doch seine Aufgabe war erfüllt. Er hatte gefunden, was er zu suchen beauftragt worden war.
Mit einem leisen Knirschen falteten sich seine pechschwarzen Flügel auseinander. Er stieß einen schrillen, rabenähnlichen Schrei aus, erhob sich in die Luft und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war.


2. Kapitel
Traum oder Wirklichkeit

Meringon sah die alte Frau vor sich durchdringend an. Sein Blick war kalt, noch kälter, als Eis es jemals hätte sein können. Wut brodelte in seinen Adern, Zorn über die unverschämte Ruhe, welche diese Frau zu erfüllen schien. Erneut stellte er ihr die Frage, die sie zuvor verneint hatte. Die Alte schüttelte nur in stummen Zorn ihren Kopf. Vergeblich suchte er in ihren erblindeten Augen nach Angst. Sie blickten stur geradeaus. Meringons Hand ballte sich zu einer Faust. Seine Hand schlug eine Rune in die Luft.
Sogleich schlängelte sich etwas Dunkles im Raum heran, nichts greifbares, nur ein Schatten, aber sein Gegenüber spürte die Veränderung und wandte sich um.
Ihre runzligen Hände begannen zu zittern, doch sie bemühte sich, ihre aufrechte Haltung beizubehalten.
Sie hatte sich geschworen, sich nicht zu ergeben, niemals. Der Schatten bewegte sich weiter, immer näher auf die Stelle zu, auf der die Alte sich befand. Es war, als ob er jeden ihrer Gedanken aufnahm.
Das Lächeln im Gesicht des Fürsten breitete sich weiter aus. "Nun, wie lautete deine Antwort Arinda? Noch einen Aufschub gewähre ich dir nicht, Weib. Denke an das, was denen vor dir geschehen ist. Willst du ihr Schicksal teilen?“ Er lehnte sich zurück, knetete beobachtend seine, in schwarze Handschuhe gehüllten, Finger und genoss die Situation.
Die Greisin hob den Blick und sah ihn an. Ihr trüben Augen sahen durch ihn hindurch. Sie schüttelte den Kopf.
"So sei es“, die Stimme des Fürsten war leise, doch sehr scharf und verständlich. Sein Gesicht zeigte nicht die geringste Regung.
Es war, als ob der Schatten nur auf diesen Moment gewartet hatte. Er bewegte sich schneller, fließender, wie ein Raubtier, auf die Alte zu. Als er sie erreichte, verschmolz er mit ihr, wurde eins mit ihrem Geist. Mit einem lautlosen Seufzer sank die Alte in sich zusammen. Das kalte, an den Wänden widerhallende Gelächter des Fürsten in den Ohren.

Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, doch Melissa und Firäll waren immer noch wach.
Sie saßen an einem kleinen Feuer in einer Ecke seiner winzigen Hütte.
Melissa hatte ihn mit Fragen gelöchert. Immer noch erschien ihr alles erlebte wie in einem unsinnigen Traum. Doch Firäll hatte sich als gesprächiger Zeitgenosse herausgestellt.
Er hatte ihr so viele Fragen gestellt, wie sie gefragt hatte.
Irgendwann war Firäll dann eingefallen, dass er Raszi zu den Narsanah hatte schicken wollen, doch dieser war nirgends aufzufinden und so verschob er sein Anliegen auf den kommenden Tag.

Doch auch am folgenden Tag kam er nicht dazu, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, denn etwas anderes sollte ihn daran hindern.
Als der Morgen anbrach hatte sich grauer Nebel um die kleine Hütte des Kobolds gelegt. Er war so dicht, dass er wie ein dunkler, nasser Vorhang vor den Fenstern und Türen hing.
Melissa sah Firäll verwirrt an, als dieser mit vor Angst weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster starrte. Wie am Tag zuvor, begann er nach vorn und hinten zu wippen, doch dieses Mal zitterten seine übergroßen Ohren so stark, dass er fast das Gleichgewicht verlor.
Die grüne, schuppige Haut bekam einen leicht milchigen Farbton. "Oh, armer Firäll ich bin, warum mir das immer passieren muss, ohhh, oooooh. Nicht gut das sein, nicht gut.“ Er schüttelte den Kopf, so dass seine Fledermausohren in alle Himmelsrichtungen flogen.
Als Melissa ihn fragend ansah, verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse.
„Alles deine Schuld sein. Wieso du ausgerechnet auftauchen müssen bei Firäll dem Kobold? Warum? Er mich mit Ohren an die Wand hängen wird.“
Melissa lächelte beruhigend. " Aber das ist nur Nebel, nichts weiter ,nur Nebel!“, sagte sie leise.
Firäll schüttelte langsam den Kopf und sah sie mit seinen gelben Augen ernst an. Etwas an diesem Blick beunruhigte sie.
"Das nicht normaler Nebel sein, ER wissen das du hier. Du müssen gehen, jetzt gleich. Was du haben angestellt, dass er Auge auf dich geworfen?“ Seine Nase zuckte. „Ich Raszi werde rufen. Er wissen den Weg zu den Narsanah, sie dir allein weiterhelfen können und du nicht fragen mich, warum ich helfen dir.“
Melissa starrte ihn mit offenem Mund an. „Narsanah?“, stotterte sie. Ein eisiger Schauer rann ihren Rücken herab. Das konnte nicht sein. Sie setzte zum Sprechen an, brachte aber kein Wort hervor, so aufgewühlt war sie.

Firäll war auf einer Treppe verschwunden, die sich in die Krone der riesigen Eiche empor schlängelte.
Als er polternd die Stufen hinuntergehüpft kam, nahm sie wie in Trance ihre Jacke und die Umhängetasche.
Er bedeutete ihr ihm zu folgen und trippelte in Richtung eines dunklen, nur von Fackeln erleuchteten Ganges davon, von dem Melissa schwören konnte, dass er eben noch nicht da gewesen war.
Stumm folgte sie ihm in den Gang. Es kam ihr vor, wie ein stundenlanger Marsch durch Wurzeln und Erdreich. In Wirklichkeit war es noch nicht einmal eine Minute, die sie dort verbrachte.
Draußen angekommen seufzte Melissa unmerklich erleichtert auf. Sie atmete tief ein und sah sich dann um.
Die Tür, aus der sie der Kobold geführt hatte, war eine Hintertür in Richtung des Waldes gewesen. Bis hierher war der Nebel nicht vorgedrungen, bei genauerem Hinsehen konnte man sogar erkennen, dass er direkt vor Firälls Haus wie abgeschnitten aufhörte. Sie fröstelte. Was ging hier vor?
Ein seltsamer, durchdringender Laut, der sich wie der Schrei eines Raben anhörte, ließ sie zusammenzucken. Auf einem Ast, nicht weit von ihnen entfernt, saß ein Vogel. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Raben, doch irgendwie wirkten die Proportionen merkwürdig verformt, so als habe ein Kind versucht aus Knete einen Raben zu formen. Außerdem, wer hatte je einen Raben mit hellblauen Federn gesehen, die in den Spitzen gelb schimmerten? Ein wenig glich er einem Papagei, fand sie.
„Nun komm....du gehen musst, schnell!“ Firäll tauchte neben ihr auf und drängte sie zum Gehen. Melissa nickte nur, ohne die Augen von dem Vogel abzuwenden. Sollte dieses Tier der Raszi sein, von dem Firäll gesprochen hatte? Würde er sie zu den Narsanah bringen? Sie fühlte sich unwohl. Hier war alles so anders und nichts war, wie es sein sollte. Diese Wesen durfte es gar nicht geben.
Firäll stieß ein Krächzen aus.
Als der seltsame Vogel die Flügel spreizte und davonflog, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Sie waren lange unterwegs. Melissas Füße begannen zu schmerzen, doch der Vogel gönnte ihr keine Pause. Er flog immer voraus, so dass sie sich beeilen musst, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Hin und wieder warf sie einen Blick zurück über die Schulter. Sie fühlte sich beobachtet und nicht selten hört sie es in ihrer Nähe im Gebüsch rascheln. Auch etwas anderes vergrößerte ihre Unsicherheit: Der Nebel folgte ihr. Nicht wirklich sichtbar, aber immer mehr Bäume verschwanden nach und nach in seinem grauen Dunst.
Dies war eine Erkenntnis, die sie erschreckte. Sie schritt weiter aus. Auch Raszi schien die Gefahr, die vom Nebel ausging zu spüren, denn er krächzte laut und beschleunigte seine Flügelschläge.
Sie waren nicht schnell genug. Der Nebel kam unaufhaltsam näher, verschlang Bäume und Sträucher. Bis auf wenige Schritte reichten seine Fänge bald heran. Schließlich waren Melissas Kräfte vollends erschöpft. Sie sank auf die Knie nieder. Den Vogel, der auf sie hinunterstieß und an ihrem Haar zog, wohl um sie zum aufstehen zu bewegen, nahmen ihre Sinne nicht wahr. Als der Nebel sie erreichte, war es ihr, als ob eine kalte Hand nach ihrem Herz griff, um es herauszureißen. Es tat weh, ein stechender, brennender Schmerz, der sie aufschreien ließ.
Der Vogel krächzte erneut. Seine Flügel verwandelten sich in einen auf- und abschwingenden Wirbelwind, einige Sekunden schien er sie vor dem Nebel schützen zu wollen, flatterte vor ihr umher, dann stob er davon.
Das letzte, was Melissa aus tränenverschleierten Augen sah, war der schwarze Schatten des Vogels, der in der Ferne verschwand. Sie war allein.

Etwas streifte ihren Arm, ließ sie zusammenzucken. Der Schmerz hatte von einem auf den anderen Moment aufgehört, doch sie spürte die Anwesenheit von etwas anderem.
Hinter ihr erklang ein leises Zischeln. Als sie sich herumdrehte sah sie nichts, nur dichten, grauen Nebel. Das Zischeln ertönte erneut, dieses mal direkt vor ihr.
Melissa schloss die Augen und versuchte ihre aufkeimende Angst zu verdrängen, sich zu konzentrieren. Das konnte nur ein Traum sein. Es musste einfach so sein.
Noch einmal atmete sie tief ein. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah direkt in das Gesicht einer Gestalt, die aus einem Alptraum erstanden zu sein schien. Stechend gelbe Augen loderten vor ihrem Gesicht. Lederartige Haut spannte sich über einen grotesk verzerrten Schädel. Mehrere Herzschläge starrte Melissa nur mit schreckgeweiteten Augen auf ihr Gegenüber, unfähig auch nur einen Schritt zu tun. Mit einem Mal erwachte sie aus ihrer anfänglichen Lähmung. Schreiend wich sie zurück, stolperte und fiel hin. Immer weiter rutschte sie zurück. Ihren Blick konnte sie nicht abwenden, obwohl sie nichts lieber getan hätte.
Das furchtbare Wesen folgte ihr, langsam, wissend, dass seine Beute ihm nicht entkommen konnte.
Melissa presste sich zitternd in die Mulde einer großen Eiche. Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Augen des Dämons glitzerten spöttisch. Seine krallenbewehrte Klaue kam näher. Mit einem Mal stockte er. Ein helles Flüstern und der Klang eines Hornes erklangen. Der Dämon fuhr mit einer ruckartigen Bewegung herum. Er fixierte die neblige Wand vor sich. Seine schwarzen, knochigen Nüstern hoben und sengten sich witternd. Noch einmal erklang der ferne Laut und Melissa glaubte das ferne Krähen eines Raben zu erkennen, doch das alles kam ihr sehr verschwommen vor.
Der Dämon kreischte schrill und wütend. Seine ledrigen Flügel öffneten und schlossen sich nervös. Seine schlitzartigen Augen sahen auf Melissa hinab und sie hörte eine zischende Stimme in ihrem Kopf. " Sss, glaube ja nissst , dassssss duu vor mir ssssicher bissst. Beim nässssssten Mal, kriege ich dissss.“
Er schlug mit seinen dunklen Flügeln und wurde zu einem Schatten, bis er sich schließlich ganz in den Schwaden des Nebels verlor.
Kaum war der Dämon verschwunden, löste sich der Nebel auf, war von einem Atemzug zum anderen einfach nicht mehr da. Melissa zitterte immer noch. Tränen liefen über ihre Wangen und sie wollte nur noch nach Hause. Wenn das alles ein Traum war, dann wollte sie ihn nicht mehr weiter miterleben. Sie wollte aufwachen und zwar sofort.

Ein wütender Schrei hallte von den steinigen Wänden der endlosen Gänge einer verlassenen Burg hoch im Norden, wieder. Ein fremdartiger Vogel flatterte erschreckt von dem Fenstervorsprung, auf dem er zuvor noch gesessen hatte auf und stieg in Spiralen am grauen Himmel empor. Die Halle, zu dem der Fenstersims gehörte, war leer bis auf zwei Gestalten, die sich am anderen Ende lautstark unterhielten. Der Stein in dieser Halle war tiefschwarz. Weder Teppiche noch andere Schmuckstücke verschönerten den Raum. Einzig ein imposanter, in sich verschlungener Thron wuchs aus dem Boden herauf.
"Sie ist dir entwischt? DU hast sie entwischen lassen, du Narr?“ Die scharfe Stimme des Fürsten schallte dröhnend von den Wänden wieder und brach sich vielfach, so dass sie wie ein Chor von gewaltigen Stimmen zurück auf die beiden Gestalten im Thronsaal hallte.
Der Sleyrinel schlitzte die Augen zusammen. Seine Schwingen falteten sich mit einem Knistern auseinander.
"Du hasssssst mir nisssst gessssagt, dasss diese Lichtwessssen kommen würden,ssss.“, zischelte er leise.
Der Fürst kniff die Augen zusammen. "Wärest du schneller gewesen, dann hättest du deine Aufgabe kurz und präzise ausgeführt.“ Er lächelte kalt „Möchtest du zurück? Ich habe noch viele, die diese Aufgabe lösen können, dazu brauche ich dich nicht.“ Seine Stimme hatte einen drohenden Klang angenommen und die Haltung des Sleyrinels wurde geduckter.
Er wirkte mit einem Mal sehr nervös. Als er den Kopf schüttelte, schien diese Bewegung fast hastig.“ Nein sssss, ich werde aussssführen, wasssss du mir befohlen hasst, Herr. Noch einmal enttäusssssse ich euch nissssttt.“ Der Fürst nickte zufrieden und kostete noch einen Moment das fast panische Flackern im Blick dieser sonst so starken Kreatur aus, dann wandte er sich um und verschwand.

Als dicht neben ihr ein Zweig zerknackte, fuhr Melissa ein weiteres Mal schreiend zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Irgendetwas packte sie am Handgelenk und zerrte daran. Melissa schlug um sich und traf. Der Treffer wurde begleitet von einem erstaunten Aufschrei und einem plumpsenden Geräusch, dann folgte wirres Geplapper, welches ihr nur allzu gut bekannt war.
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Firäll saß vor ihr benommen auf dem Boden. Er presste eine seiner krallenbesetzten Pfoten auf das linke Auge und wimmerte nun leise vor sich hin.
"Du armen Firäll umbringen willst? Das dein Dank für meine Hilfe sein tut? Ooohhhhh, ohhhhh armer Firäll, armer Firäll“ Er wippte vor und zurück. Melissa blickte ihn verdattert an. Ihre Angst war mit einem Mal wie weggeblasen.
"Lass gut sein, kleiner Firindenbewohner, das Mädchen hat dich mit jemandem verwechselt, der du nicht bist.“
Melissa zuckte beim Klang der sanften Stimme zusammen. Sie blinzelte.
Helles Licht strahlte ihr entgegen, in dessen Inneren sie die anmutige Gestalt einer Frau ausmachen konnte. Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen traten, so gleißend war die Helligkeit. Als ob das Licht gespürt hatte, dass es ihren Augen wehtat, zog es sich zurück. Voller Schrecken starrte Melissa ihr Gegenüber an, nun da sie es erkannte. Vor ihr stand die Frau aus ihrem Traum, die Narsani.
Die Fremde lächelte sie verstehend an und bedeutete ihr aufzustehen. „Komm Melissa, mein Vater wird wissen, was zu tun ist.“, sagte sie ruhig.
Melissa nickte unsicher und stand mit wackeligen Beinen auf.
Firäll jammerte immer noch vor sich hin, lugte aber hin und wieder zwischen seinen Krallen hervor, ob man ihm auch genügend Beachtung schenkte. Als dies nicht der Fall war, sondern die Narsani sich sogar umwandte und los ging, sprang er hoch und trippelte neben Melissa her. "Raszi gut war, nicht? Er Arinathiel gefunden hat. Sie dich schon gesucht.“ Melissa nickte nur.
Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, was jedoch gar nicht so einfach war. Arinathiel. War das der Name dieser seltsamen Frau?
"Was war das für ein Wesen, dass mich angegriffen hat?“. Ihre Stimme bebte bei der Erinnerung an das vergangene Geschehen.
„Es war ein Dämon. Wir nennen sie Sleyrinel . Aber schweig. Ihre Ohren sind überall. Mein Vater wird dir alles erklären, wenn die Zeit gekommen ist.“ Die Narsani ging weiter, ohne sich umzudrehen. Nachdenklich und schweigend folgten Firäll und Melissa ihr. Ein Sleyrinel also, diesen Namen hatte sie noch nie gehört.

Sie wanderten lange durch den Firindenwald. Einmal tauchte hinter einem Busch ein weiteres seltsames Geschöpf auf, dass ihnen eine Weile hinterher hoppelte.
Es erinnerte Melissa entfernt an einen Hasen, aber auch nur sehr vage. Es war schwarz. Statt des Felles hatte es eine schuppige Haut und seine Ohren ähnelten eher denen einer Katze, als einem Hasen. Außerdem hatte es den Schweif eines Eichhörnchens und rote, neugierige , kleine Augen.
Firäll geriet beim Anblick dieses kleinen Geschöpfes völlig aus dem Häuschen. Er sprang wild umher und versuchte ein Gespräch mit dem Firinsi aufzubauen, wie er das kleine Tier nannte. Der Firinsi schien jedoch an keinem Gespräch interessiert und flitzte, kaum dass Firäll ihm näher als zwei Schritte kam, in die Büsche zurück.
Beleidigt drehte der Kobold sich um und tapste die nächste Stunde stumm und mit mürrischem Gesicht neben Melissa her.
Die Narsani wandte sich einmal zu ihm um und warf ihm einen amüsiert wirkenden Blick zu, sprach jedoch kein Wort.
Nach einer Weile lichtete sich der Wald vor ihnen. Sie traten einen Schritt auf eine weite Ebene hinaus, die von Felsen und grünem Gras übersäht war.
Ihre Führerin hob die Hand und bedeutete sie stehen zu bleiben. Sie wirkte mit einem Mal sehr wachsam. Ihre Augen suchten die Ebene ab. Raszi krähte laut und erhob sich nach einem Blick von ihr in die Lüfte. In der Ferne stieg eine Rauchsäule in den blauen Himmel auf. Die Narsani seufzte schwer, als der Vogel zurückkehrte und sich auf einem Stein direkt vor ihr niederließ. „Was ist?“, fragte Melissa unsicher.
Die Narsani sah sie an. Ihre goldenen Augen schimmerten traurig. „Es ist wieder passiert.“ Melissa runzelte fragend die Stirn.“ Was ist passiert?“ Sie verstand nicht, über was die Narsani sprach. Sie folgte ihrem Blick in die Ferne, wo Rauch sich in kreiselnden Bahnen dem Horizont entgegen bewegte. „Das alles ist eine lange Geschichte, die Vater dir erzählen wird. Wichtig ist nur, dass es, jetzt da du hier bist, bald enden wird.“ Die Narsani wandte sich um und sah sie durchdringend an. Diese wurde unter ihrem Blick nervös. „Was endet? Und was hat das mit mir zu tun? Was meinst du damit, jetzt da ich hier bin?“
Die Narsani lächelte. "Weil du, du bist. Du bist die Erbin, die letzte der Generation." Melissa sah sie verständnislos an. Ihr Gegenüber lächelte erneut. "Später.“
Noch immer stieg Rauch in den sich mittlerweile dem Abend zuneigenden Himmel auf.
Die Sonne hatte sich bereits lange Schlafen gelegt und der Mond seinen Spaziergang über den nächtlichen Himmel begonnen, als sie an ein steinernes Tor gelangten. Die Narsani hob die Hand und begann in einer Melissa unverständlichen, aber wohlklingenden Sprache zu sprechen. Ein leises Klicken erklang, dann begannen die Steine um die eigene Achse zu rotieren, drehten sich und gaben schließlich einen Durchgang frei. Als sie hindurch gingen, blieb Melissa mit offenem Mund stehen Die Ebene, auf die sie traten, schien unendlich weit. Wie ein wunderschönes Gemälde lag die Landschaft vor ihnen. Das silberne Band eines glitzernden Flusses zog sich, umsäumt von Blumenfeldern in den verschiedensten Farben, durch das Tal. Die Narsani bemerkte Melissas Bewunderung und lächelte. "Es ist wunderschön, nicht? Bevor der neue Herrscher Xanors kam, sah es überall so aus. Bis jetzt hat er den Eingang zu diesem Tal noch nicht gefunden. Unsere Druiden haben ihn mit ihrer Magie verschlossen.“
Sie ging weiter, bis vor ihnen ein imposantes Gebäude auftauchte, das ganz in weiß gehalten war. Es schien sich in die Natur einzufügen, als sei es mit ihr verwachsen. Der Eingang wurde von zwei Statuen eingerahmt, welche gewaltige Schwingen besaßen. Sie ähnelten Engeln, so wie sie dort in hocherhobener Haltung thronten. Doch sie waren wie Krieger gekleidet. Melissa spürte, dass sie am Ziel angekommen waren. Fasziniert betrachtete sie das Symbol auf Schild und Banner, welches seltsam geschwungen und ineinander verrankt war, aber dennoch kein Ende zu nehmen schien. Als sie gerade die Frage nach deren Bedeutung stellen wollte, bemerkte sie, dass Firäll mit trippelnden Schritten auf die Statuen zu tapste und eine fast ehrfürchtige Verbeugung machte, die ihn mehr als drollig wirken lies. Beim Wieder aufrichten stolperte er fast über seine großen Ohren, die ihm bei der Verbeugung über den Kopf gefallen waren. Melissa unterdrückte ein Kichern. "Was sind das für Wesen?“, fragte sie ehrfürchtig. Firäll sah sie mit großen Augen an „Das alte Wesen sind. Sie die Ahnen des ersten Geschlechts der Narsanah. Große Krieger und Beschützer. Sie Goranah genannt.“ Melissa sah erneut zu den Statuen. Der Klang von Schritten ließ sie sich umdrehen. Ein in weiß gekleideter Mann tauchte unter dem Türbogen auf und gesellte sich zu ihnen, mit ihm drei andere. Ihre Gewänder ähnelten den Roben von Priestern. Auf ihnen prangte dasselbe Symbol, das Melissa schon auf den Schilden der Goranah gesehen hatte. Arinathiel grüßte die drei Narsanah in der fremden Sprache, die Melissa bereits beim Öffnen des geheimen Tores gehört hatte. Ein kurzer Wortwechsel folgte, bei welchem sie ihren eigenen Namen fallen hörte. Interessiert drehte sie den Kopf und versuchte vielleicht doch etwas zu verstehen. Aber es war vergeblich. Unruhe ergriff sie. Was hatte Arinathiel gemeint, als sie gesagt hatte, dass sie die Erbin war. Hatten die Narsanah vielleicht darüber gesprochen. Melissa sah, wie Arinathiel sich verneigte. Scheinbar war das Gespräch zu Ende. Neugierig, aber auch etwas ängstlich, was wohl noch alles auf sie wartete, trat Melissa zu der Narsani. Diese wandte ihr den Kopf zu und bedeutete ihr, ihr zu folgen. Sie stiegen die Stufen zum Gebäude empor, um dann in einen marmornen Gang zu gelangen. Überall standen Statuen, solche, wie sie Melissa schon vor dem Eingang gesehen hatte, aber auch andere, deren Gestalt so bizarr wirkte, dass Melissa nicht wusste, ob sie sich das Ganze nur einbildete. Der Gang endete vor einer imposanten Flügeltür, auf dessen Türhälften eine gewaltige Schlachtszene abgebildet war. Ein goldener Drache ragte dort mit ausgebreiteten Flügeln über einem Geschöpf auf, dessen Gestalt von schwarzem Rauch umgeben war. Melissa konnte zwei Schwingen erkennen, die in dolchartigen Klauen ausliefen. Sie zwang sich den Blick abzuwenden, denn die schattenhafte Kreatur erinnerte sie an den Dämon, dem sie vor kurzem begegnet war.
Nachdem sie durch die Flügeltür getreten waren, die sich wie von Zauberhand geöffnet hatte, gelangten sie in eine riesige Halle, von deren Mitte zwei Türen abzweigten. Die Helligkeit in diesem Raum war blendend, obwohl es keine Fenster gab und Melissa gewöhnte sich nur langsam an sie. Die linke der beiden Türen öffnete sich. Heraus trat ein Mann, in weißem Gewand, wie es die anderen trugen. Doch seine Säume waren mit goldenen und silbernen Fäden durchwoben und kunstvoll bestickt. Die Narsani wechselte einige Worte in der fremden Sprache mit ihm. Der Fremde lächelte und sah nun zu Melissa. Seine Augen waren von einem strahlenden blau, so intensiv, wie sie es noch nie gesehen hatte. „Sei willkommen, mein Kind, auch du mein lieber Freund.“ Seine Stimme hatte einen beruhigenden Klang. Er wandte den Kopf zu Firäll. Sein langes silbernes Haar folgte diese Bewegung. „Du hast klug gehandelt, Firäll, sie hierher zu bringen. Doch nun lasst uns reden. Es gibt viel zu besprechen.“
Die Augen des Sleyrinels glitzerten triumphierend, als die drei Gestalten im steinernen Tor verschwanden. Diese Nachricht würde seinen Herrn mehr als zufrieden stellen.
Nicht nur, dass er ihm das Menschenkind bringen würde. Nein, auch das Versteck der Narsanah war nun kein Geheimnis mehr. Sein Herr würde mit dieser Nachricht sein Werk vollenden und ihn belohnen.
Das höhnische Lachen der Kreatur ließ einen Firinsi angsterfüllt davonhuschen.
Dann wurde es wieder still. Der Dämon hob den Kopf und erhob sich in die Nacht, seinem Herrn diese Nachricht zu überbringen.

Der Mond war schon fast hinter dem Wald verschwunden, als die große Flügeltür sich öffnete und Durwethian, welcher der Älteste und somit der Regent der Narsanah war, nach einer Wache schickte, um Melissa in ihr Zimmer zu geleiten.
Der Narsanan hatte ihr freigestellt, bis zum nächsten Morgen zu warten, sich auszuruhen, doch Melissa hatte viele Fragen. Sie war voller Ungeduld gewesen und so hatte ihr Gespräch mehrere Stunden gedauert. Melissa merkte erst jetzt, wie müde sie war. Das Erlebte und auch das, was sie erfahren hatte, lastete auf ihr, wie ein nasses Kleidungsstück. Das meiste von dem, was der Narsanan ihr erzählt hatte, schien ihr so absurd, dass sie es nicht hatte wahrhaben wollte. Sie kam sich vor wie in ihren Träumen.
Die Wache führte sie eine geschwungene, weiße Marmortreppe empor, bis sie in einen Gang gelangten, von welchem drei Türen abzweigten.
Die Wache wies auf die letzte und wünschte ihr eine ruhige Nacht. Melissa schenkte ihm ein dankbares Lächeln und stolperte mehr, als das sie ging in das Zimmer.
Es war gemütlich eingerichtet, mit einem kleinen Ebenholztisch und zwei Stühlen. Doch das Bett, welches am Fenster stand, schien ihr noch verlockender. Mit einem müden Seufzer ließ sie sich darauf fallen und schlief ein, noch bevor ihr Gesicht das weiche Federkissen berührte.

Der Schatten des Astes warf sich wie ein langer Greifarm auf das Seeufer. Der Mond schien zwar, doch dunkle Wolken wälzten sich über den schwarzen Nachthimmel.
Melissa stand am Ufer des Sees und versuchte ihren heftigen Atem zu beruhigen .Sie fühlte sich, als sei sie stundenlang gerannt. Ihre Füße schmerzten. Der aufgekommene Wind riss an ihrer Kleidung, ihren Haaren und ließ die Blätter und Äste der umstehenden Bäume bedrohlich rascheln.
Ein glühendes Paar Augen starrte sie aus der Schwärze zwischen den Bäumen an.
Lange stand sie da, hielt den Blickkontakt, obwohl ihre Knie wie Espenlaub zitterten.
Als der Sznearl mit einem hinkenden Schritt auf die Lichtung trat, schloss Melissa für einen Moment die Augen. Erst als das kleine Geschöpf mit einem schrillen Aufschrei sich in ihre Richtung zu bewegen begann, drehte sie sich herum und rannte so schnell sie konnte blind in den Wald hinein. Hinter sich hörte sie das Knacken der zerbrechenden Äste, die platschenden Geräusche, die der Sznearl mit jedem Schritt tat. Die Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen versuchte sie zu ignorieren, aber der lange Kratzer, den sie sich am Handgelenk zuzog, brannte bei jedem weiteren Ast, der ihn berührte. Etwas warmes, klebriges begann an ihren Fingern hinunterzurinnen, doch Melissa achtete nicht darauf, sondern hastete weiter, immer weiter durch den Wald, bis sie schließlich auf einer Lichtung ankam. Gehetzt sah sie sich um. Vom Sznearl war keine Spur zu sehen, aber Melissa wusste, dass er nicht weit sein konnte.
Als ein Ast in ihrer Nähe zerbrach, schreckte sie zusammen und verbarg sich hinter einem hohen Felsen. Zitternd suchte sie die Lichtung ab, doch das Geschöpf blieb verschwunden.
Eine leise, kalte Stimme hallte in ihrem Kopf wieder, flüsterte ihr zu, was sie für ein dummer und feiger Narr war.
Was hatte Durwethian gesagt? Sie habe die Kraft , den Herrscher Beringors zu vernichten? Sie? Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Sie war nur ein Mensch und hatte in dieser Welt nicht das geringste verloren. Sie kannte diesen Herrscher, von dem der Narsanah gesprochen hatte doch nicht einmal.
„Du hättest bei ihnen bleiben sollen, kleine Melissa. Bei deinen Freunden.“ Wieder erklang die Stimme und ließ ihren Mut immer weiter schwinden. „Sei auf der Hut, lass dich nicht fangen, meine Kleine. Doch dein Bemühen ist vergebens. DU kannst mir nicht entkommen, du nicht, ebenso nicht, wie die Generationen vor dir. Lauf nur, lauf“...und Melissa rannte...

Mit einem Schrei fuhr Melissa aus dem Bett hoch. Ihr Herz pochte und sie hatte das Gefühl es müsse zerspringen. Ihr Atem ging schwer. Sie sah aus dem Fenster. Die Sonne schien und es musste schon sehr spät sein.
Immer noch benommen stand sie auf und trat ans Fenster. Unter ihr erstreckte sich ein blühender Garten, gesäumt von marmornen Torbögen, in denen sich das Licht des Tages widerspiegelte. Jetzt, da die Sonne schien, strahlte dieser Ort noch mehr Harmonie und Frieden aus. Melissa seufzte. Sie wusch sich in der Schale mit frischem Quellwasser, die neben ihrem Bett stand und aß von dem Frühstück, welches auf dem kleinen Tisch stand.
Das Gespräch mit dem Narsanah hatte sie nicht weitergebracht, nur noch mehr verwirrt und ihr klar gemacht, dass alles nur ein schlechter Traum sein konnte, aus dem sie so schnell wie möglich herauswollte.
Am Anfang war ihr alles so neu und fantastisch erschienen, doch mit dem Auftauchen des Fyrems und der Prophezeiung, welche die Wesen in dieser Welt mit ihrem Erscheinen, ihrem Leben verbanden, hatte dieses Fantastische ein jähes Ende gefunden.
Sie wollte diese ganze Verantwortung, die alle in sie legten nicht. Jeder erwartete große Taten von ihr. Sie als die Erbin, die letzte der verfluchten Generation, die den Fluch über die Länder Erinor und Beringor brechen sollte und welche die Möglichkeit hatte, das Tor zur Dunkelheit für immer zu schließen. Melissa legte den Apfel, in den sie gebissen hatte, mit einem Ruck auf den Teller zurück. Was für ein Unsinn das alles war. Es hörte sich an wie eine Sage in einem Kinderbuch.
Bis jetzt war sie sehr gut ohne all dies zurechtgekommen. Selbst der sich immer wiederholende Traum, der schlagartig aufgehört hatte, seit sie in dieser Welt war, schien ihr nebensächlich. Sie hatte alles vergessen, wollte es vergessen. In ihr reiften die Argumente gegen ihr Hier bleiben und sie legte sich eine Ausrede zurecht, die sie Durwethian erklären würde, um ihm ihren Standpunkt darzulegen.
Mit dem Ziel: die Narsanah und diese Welt hinter sich zu lassen, ging sie zur Tür, nicht wissend, dass nicht sie es war, die ihre Bewegungen steuerte.

Meringon lächelte und machte eine leichte Handbewegung. Der Raum und Melissa verschwanden in weißem Nebel. Jetzt waren alle Vorbereitungen getroffen. Die letzte Erbin würde ihre Sicherheit verlassen und zu ihm kommen, ob sie wollte oder nicht.
Das Gesicht der alten, neben ihm stehenden Frau blieb während der ganzen Zeit regungslos. Ihre Augen waren matt und glanzlos. Sie hatte verloren und dem Herrscher Beringors unter Einfluss der Schatten einen Teil Melissas Identität preisgegeben: Sie hatte ihre Enkelin verraten und Meringon so die Möglichkeit gegeben, sich in seinem verwandten Blut einzunisten, es zu manipulieren.

3. Kapitel
Bittere Erkenntnis

Melissa hatte das Tal der Narsanah nach Einbruch der Dunkelheit verlassen. Der Abschied war ihr sehr schwer gefallen, doch der Einfluss Meringons in ihren Gedanken hatte sie die Worte zu ihrem Entschluss mit Bedacht und überzeugend wählen lassen und so das Gefühl des Weggehens gemindert . Durwethian hatte keine andere Wahl gehabt, als sie gehen zu lassen. Doch insgeheim hatte er das Dunkle gespürt, mit dem Melissas Seele in Kontakt gekommen war.
Melissa bemerkte den blaugefiederten Vogel nicht, der ihr seit dem Verlassen des Tales beharrlich gefolgt war. Sie setzte, ohne es zu merken, ihre Schritte in Richtung Beringor.
Erst als sie vor einem weiteren steinernen Tor zum Stehen kam, realisierte sie ihre Umgebung und sah sich verwirrt um. Wo war sie?
Mit einer gewissen Neugier betrachtete sie das Tor genauer. Es war mit blauem Moos bedeckt und völlig verwittert. Keine Pforte oder Tür war zu sehen. Einfach nur ein Durchgang. Dahinter sah die Landschaft genauso aus wie an der Stelle, auf der Melissa stand.
Nur ein winziger Unterschied bestand und den erkannte sie erst durch Zufall auf den zweiten Blick. Das Gras, durch welches sich ein dunkelbrauner Trampelpfad schlängelte war grau, nicht grün. Es sah alt und krank aus.
Hinter Melissa ertönte ein missmutiges Fauchen, dass sich mit einem ihr bekannten Krächzen verband. Als Melissa sich umdrehte sah sie sich dem Wesen aus ihrem Traum gegenüber. Es züngelte mit seiner gespaltenen Zunge und blickte sie aus seinen roten, kleinen Augen an. Melissa war so schockiert, dass sie noch nicht einmal einen Schrei ausstieß. Raszi flatterte über dem Sznearl und stieß von Zeit zu Zeit auf die Ohren des Geschöpfs hinunter, was dem Sznearl nicht zu gefallen schien, denn das kleine Wesen peitschte nervös mit seinem Schwanz und fauchte jedes Mal bedrohlich, wenn der Vogel in seine Nähe kam.

Melissa musterte das Wesen ängstlich. Suchend sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um.
“Ez iztt zwegloz, duh kanzt unz eh nizt entkommen zzz.“ Melissa schluckte und wandte den Blick wieder zurück auf das ausdruckslose, schwarze Gesicht des Sznearls. Es war das erste Mal, dass sie dieses kleine Wesen sprechen hörte, doch der Klang seiner Stimme stimmte mit seinem Aussehen überein. Ein eisiger Schauer rieselte über ihren Rücken. Was tat sie eigentlich in dieser Gegend? Wieso hatte sie die Narsanah verlassen? Verwirrung machte sich in ihr breit, doch alle Versuche, tiefer in ihre eigenen Gedanken einzudringen, schlugen fehl.
Alles erschien ihr verschwommen, seit dem Zeitpunkt ihres zu Bett Gehens.
Ein drohendes Züngeln des Sznearls und der Schrei Raszis ließen sie ihre Gedanken verdrängen. Mit wachsender Nervosität beobachtete sie den ungleichen Kampf, der zwischen den beiden Geschöpfen entbrannt war. Immer und immer wieder stieß der Vogel auf den Sznearl nieder, hackte mit seinem spitzen Schnabel auf ihn ein. Doch der Sznearl war nicht schutzlos. Mit einem wütenden Fauchen versuchte er nach Raszi zu greifen, sprang ihm hinterher, wenn der Vogel wieder in die Luft aufstieg. Lange Zeit, so kam es Melissa vor, versuchten die beiden Wesen einander zu schwächen, aber schließlich kam das, was Melissa befürchtet hatte. Mit einem triumphierenden Kreischen schloss sich die Klaue des Sznearls um den rechten Flügel des Vogels und brach ihn durch. Mit einem Ruck schleuderte er ihn auf einen der Felsen am Rand des Waldes, wo Raszi mit wimmerndem Krächzen hart aufschlug und reglos liegen blieb.
Melissa sah wie gelähmt auf die Szene, die sich ihr bot. Mit Tränen in den Augen starrte sie auf den verdrehten Haufen von Federn, hoffend, dass er sich wieder regen würde. Doch alles blieb still. Selbst die Natur um sie herum schien den Atem anzuhalten.
Erst viel zu spät realisierte sie, wie der Sznearl sich aufrichtete, sich zu ihr umwandte und sie mit seinen roten Augen durchdringend ansah. “Duh hättezt nizt flihn dürfenn. Ez izt dine Zuld“ zischelte er und wies mit seiner ausgestreckte Klaue auf den toten Vogel.

Melissa schloss die Augen, doch das Bild, wie der Rabe auf den Stein aufschlug, blieb bestehen.
„Was willst du von mir? Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ Ihre Stimme klang gepresst und ein bitterer Unterton schwang in ihr mit.
„Weil du meine Erbin bist“ Beim Klang der kalten Stimme zuckte Melissa zusammen und öffnete ruckartig die Augen. Ihr Blick fiel auf den Sznearl, doch dieser sah auf einen Punkt hinter ihr.
Sie wandte sich um und sah ihr Gegenüber an. Meringon erwiderte den Blick kühl und lächelte schließlich. Doch das Lächeln machte Melissa eher Angst, als dass es sie beruhigte.
Sie begann zu zittern. Der schwarze Fellmantel des Mannes rauschte bei jeder Bewegung bedrohlich und die weißen Haare, welche sein Gesicht einrahmten, ließen die grünen Augen stechend und hinterhältig wirken.
„Wer bist du?“ Melissas Stimme klang nicht halb so sicher, wie sie es sich gewünscht hätte, doch der Blick in die Augen des Mannes, hatte ihre Selbstsicherheit zerstört.
Wieder lächelte Meringon, doch es war eine Grimasse. Die Augen blieben hart.
„Ich bin dein Großvater.“

Melissa wich einen Schritt zurück. Ungläubig sah sie auf den Mann vor sich. Dann begann sie zu lachen, doch das Lachen klang hohl in ihren Ohren. Wieder wich sie einen Schritt zurück und schüttelte fast hastig den Kopf „ Sie, sie können nicht mein Großvater sein.“ ,brachte sie stockend hervor, „ Mein Großvater ist tot und das seit über fünfzig Jahren. Er ist nach der Geburt meines Vaters gestorben, bei einem Autounfall.“
Der Mann lächelte erneut „ Tot ist relativ, Melissa. Wie hätte ich sonst eure unselige Welt verlassen können?“ Seine Hand streckte sich nach ihr aus
„Komm meine kleine Melissa. Es ist nebensächlich wer ich war und wer ich nun bin. Ich werde dir meine Welt zeigen. Nicht dieses grüne etwas, dass du hier siehst. Komm mit mir, lass mich dir zeigen, was Macht bedeutet, jene Macht, die nur dir zusteht, die du zu deiner Freude nutzen kannst. Komm, meine Erbin.“
Etwas regte sich in Melissas Innern, doch dieses neue Gefühl gefiel ihr ganz und gar nicht, mehr noch, es erschreckte sie zu tiefst. Immer weiter wich sie vor dem Alten zurück, doch er folgte ihr beharrlich immer näher. Das Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich, wie zuvor erreichte es die Augen nicht „Melissa, was hast du? Du wirst doch nicht vor mir erschrecken, vor deinem Großvater, deinem eigenen Fleisch und Blut. Willst du nicht mit mir kommen? Du musst dich doch nur ein wenig verändern. Ich verspreche dir Macht und Ansehen. Ist es nicht das, was du dir wünscht?“
Melissa schüttelte den Kopf. Als hinter ihr das Fauchen des Sznearls erklang, blieb sie mitten im Schritt stehen. Die Hand ihres Großvaters berührte ihr Gesicht und die Woge des beklemmenden Gefühles kehrte zurück, doch auch etwas anderes. Eben dieses Gefühl, welches ihr solche Angst einjagte. Es war wie ein Raubtier, dass aus seinem Käfig herauswollte, aus ihrem Körper. Doch auf der anderen Seite fühlte sie sich zu diesem Gefühl hingezogen. Ihre Hand hob sich, um die Hand des dunklen Fürsten zu umfassen.
Der Schrei eines Raben drang erst langsam, dann immer tiefer in ihr Bewusstsein ein. Der Schleier, welcher sich um ihren Blick gelegt hatte, klärte sich und ihr Blick fiel auf den Haufen Federn, welcher einmal ein Freund gewesen war.
Tränen traten zum zweiten mal an diesem Tag in ihre Augen und sie riss sich los „Nein, ich will es nicht. Nicht um diesen Preis.“
Das Lächeln im Gesicht Meringons erstarb „Dann wählst du den Weg, wie ihn deine Großmutter bevorzugte.“

Melissa wich zurück. Die Angst kehrte schlagartig zurück. Diese hatte reglos verharrt, wissend, dass das junge Mädchen sie nicht bezwingen konnte. Sie spürte, wie seine Worte ihre Selbstbeherrschung immer weiter untergruben. Die dunkle Drohung in seinen Worten war unüberhörbar und was hatte ihre Großmutter mit allem zu tun? Ihre Großmutter war bei ihnen zu Hause und trank nun wahrscheinlich gerade mit ihren Eltern Tee.
Hinter ihr fauchte der Sznearl erneut leise. Melissa hörte das Peitschen seines Schwanzes, mit welchem er die kleinen Sträucher neben sich zerriss. Ein eisiger Schauer lief ihren Rücken hinab, ließ die Angst nur noch mehr wachsen. Was hatte dieser Mann damit gemeint, als er sagte, sie würde den Weg wählen, den ihre Großmutter gegangen war?
Meringon betrachtete das Mädchen vor sich, seine Enkelin. Sie hatte viel zu viele Züge ihrer Großmutter geerbt, doch auch diese war nun seine Gehilfin und hatte sich seiner Macht nicht entziehen können. Nicht anders würde es Melissa ergehen. Wenn sie erst einmal gespürt hatte, was Machtbesitz bedeutete, dann würde sie sich ihm treu ergeben und wie die Generationen vor ihr seine Macht festigen, auch wenn ihr eine andere Position in seinem Reich zugedacht werden würde. Seine Macht würde grenzenlos sein, jetzt da er auch um den Aufenthalt der Narsanah wusste und das Tor der Macht für immer offen halten würde.

Ein weiteres Lächeln glitt über sein Gesicht. Das Triumphgefühl in seinen Adern nahm immer weiter zu. Seine Unbesiegbarkeit stand greifbar vor ihm. Keiner würde ihn mehr aufhalten können. Doch nun wurde es Zeit, seine Enkelin endgültig für sich einzunehmen. Seine Hände hoben sich und beschrieben einen ovalen Kreis vor seinem Körper. Ein leises Sirren erfüllte die Luft, schwoll immer mehr zu einem tobenden Brausen an.
Melissa spürte mit einem mal ein leichtes Schwindelgefühl. Das steinerne Tor, die Lichtung und der Stein mit Raszis leblosem Körper begannen sich um sie zu drehen. Was geschah hier? Sie versuchte einen Schritt zu tun, doch ihr Körper war wie festgenagelt.
Immer schneller und schneller riss das Umfeld die drei Gestalten mit sich und Melissa schloss gequält die Augen. Doch so schnell, wie es gekommen war, hörte es auch wieder auf.
Sie taumelte und fiel auf die Knie. Alles drehte sich um sie, ließ sie leise stöhnen. Ihr war übel und nur langsam ließ die schwere Dunkelheit, die sich um ihre Sinne gelegt hatte, von ihr ab.
Als sie die Augen nach ein paar Minuten wieder öffnen konnte und sich umblickte, spürte sie, wie ihr Magen sich erneut zusammenzog.
Sie waren nicht mehr auf der Lichtung. Alles was sie nun umgab, war aus Stein, so tiefschwarzem Stein, dass man nicht einmal mehr die feinen Linien erkennen konnte, an denen die Steine zusammengemauert worden waren – waren sie es überhaupt? Dieser Gedanke erschreckte sie, wandelte sich schließlich beim Anblick der zwei großen geflügelten Kreaturen neben ihr an der Wand in Panik um. Mit einem Schrei prallte sie zurück und starrte die beiden riesigen Sleyrinel vor ihr wie gelähmt an. Diese sahen starr zurück und es dauerte eine zeitlang, bis sie erkannte, dass es sich nur um zwei Statuen handelte, die aber ihren lebendigen Geschwistern mehr als ähnlich sahen.
Melissa zwang sich den Blick abzuwenden und wandte sich mit klopfendem Herzen um.
Ihr Großvater stand einige Schritte von ihr entfernt und lächelte. „Willkommen in meiner und deiner neuen Heimat, meine Enkelin. Es scheint auf den ersten Blick nicht sehr gemütlich, nicht? Aber du wirst dich daran gewöhnen – wie deine Großmutter.“ Bei der Erwähnung ihrer Großmutter runzelte Melissa die Stirn, doch als Meringor einen Schritt beiseite trat, hatte sie das Gefühl ihr Herz müsse stehen bleiben.
Völlig gelähmt schaute sie auf die alte Frau, die neben ihm stand.
Eine Sekunde sah sie ihre Großmutter einfach nur an, dann lief sie mit einem Schrei auf sie zu und fasste sie am Arm. „Großmutter? Großmutter, was tust du hier.“
Melissa wandte sich zum Gehen, doch die Hand ihrer Großmutter schloss sich wie eine eiserne Klaue um ihr Handgelenk und hinderte sie daran, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Melissa drehte sich fassungslos zu ihr um und sah in die matten Augen, die wie leblos zurückschauten. Ihr Blick richtete sich auf das kalt lächelnde Gesicht Meringors. „Was hast du mit ihr gemacht? Was hast du ihr angetan, du Scheusal?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen des Zorns und sie begann auf den Mann der sich ihr Großvater nannte mit beiden Fäusten einzuschlagen. Doch kaum hatte sie den ersten Schlag getan, wurde sie grob gepackt und zurückgerissen. Die beiden Sleyrinel hatten sich von der Wand gelöst und standen nun direkt neben ihr, des einen Klaue auf ihrer Schulter. Dieses Mal hatte sie jedoch keine Angst. Bitter blickte sie auf ihre Großmutter. Wieder spürte sie dieses dunkle Gefühl , dass sich wie ein gefangenes Raubtier in ihrem Körper bewegte, doch dieses Mal versuchte sie nicht es zu unterdrücken. Müde erkannte sie, was es war – Hass. Tiefer, abgrundtiefer Hass auf den Mann, der ihren Freund getötet hatte, ihrer Großmutter dieses Leid antat und Melissa selbst das Leben zerstörte.
„Was willst du von mir? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“ Ihre Stimme klang leise und resigniert. Irgendetwas in ihr hatte aufgegeben. Ihr fragender, müder Blick ruhte auf ihrer Großmutter, wich dann jedoch zu ihrem Großvater aus, als sie es nicht mehr ertragen konnte, in die glanzlosen Augen zu schauen, die keine Reaktion auf die Enkelin zeigten. Meringons Hand legte sich auf die Schulter seiner Frau, woraufhin diese zusammenzuckte. Einen kurzen Augenblick war es Melissa, als ob Leben in die Augen ihrer Großmutter zurückkehren würde, die nebligen Schleier vertreiben würde, die sich ihres freien Denkens beraubt hatten und deren Geist ihr nun zuflüsterte von hier zu fliehen. Melissa blinzelte und sah weiterhin zu der Gestalt neben Meringon, doch nun hatte sich der Glanz wieder in die Tiefen der Seele dieser alten Frau zurückgezogen und der Mattigkeit der Besessenheit Platz gemacht. Hatte Melissa sich das eben nur eingebildet? Sie blinzelte noch einmal, doch alles blieb, wie es war.
Tief in ihrem Inneren regte sich ein leichtes, aufkeimendes Gefühl von Hoffnung. Etwas in ihrer Großmutter war noch da. Ihr Großvater lächelte unwissend. „Um auf deine Frage zurückzukommen Melissa. Du weißt die Antwort.“
Melissa nickte abwesend. In ihr entwickelte sich ein Plan.
Auch so etwas wie Trotz gesellte zu ihren Gedanken. Ebenso wie der Zorn auf das Schicksal zurückkehrte, so wie es schon beim Gespräch mit dem Naranan der Fall gewesen war. Sie wollte nicht Spielball zwischen diesen beiden Parteien sein. Jede versuchte sie auf seine Art für sich zu gewinnen. Sicher, die Narsanah hätten sie nie gewaltsam festgehalten so wie es der Herrscher von Beringor jetzt tat, aber auch sie hätten es lieber gesehen, sie auf ihrer Seite zu wissen. Sie, die Erbin, die beiden Seiten von Nutzen war und in deren Hand das Schicksal der Zukunft lag.
Aber wenn sie schon einer Partei helfen musste, dann sollten es eher die Narsanah sein, so entschied sie. Irgendwie musste sie es also anstellen, aus dem Einfluss ihres Großvaters zu fliehen.
Meringon beobachtete die Gesichtszüge seiner Enkelin misstrauisch. Diesen Gesichtsausdruck hatte er schon bei Arinda mehr als oft gesehen, wenn sie dabei war etwas auszuhecken. Er nahm sich vor, auf der Hut zu sein und sie zu bewachen.

Die Narsani öffnete die Augen. Trauer lag in ihrem Blick. Langsam erhob sie sich und sah über die Ebene. Der Wind ließ die grünen Gräser sacht hin wiegen und der Schein der Sonne war hell und warm. Ihr Blick suchte den Himmel ab, doch Raszi erschien nicht. Ein Schatten huschte über das Gesicht der Narsani. Warum wartete sie? Sie wusste, dass er nicht zurückkommen würde, hatte sie das Geschehen doch durch ihr geistiges Auge gesehen. Aber es war eine Angewohnheit, eine schöne Erinnerung an die Tage, in denen sie noch im Glauben an das Gute gelebt hatte – in Ungewissheit darüber, was die ferne Zukunft ihr wohl bringen mochte. Doch nun war es geschehen. Die Erbin, von der ihr Vater geglaubt hatte, sie wäre stark, stärker als ihre Vorfahren, war wie die anderen zuvor schwach geworden und hatte den Weg der Irdischen verlassen, war nach Beringor gelangt, in das Land des Vergessens. Wieder würde sich der Fluch erfüllen. Mit Grauen dachte Arinathiel an die alten Schriften. Noch niemand aus ihrem Volk hatte sich dorthin gewagt, in das tote Land und viele andere, die verschleppt worden waren, kehrten nie zurück. Meringon allein trug an allem die Schuld, ein einfacher Mensch, der durch seine Ankunft alles verändert hatte und nun seit über zweihundert Jahren in jenem Teil des Landes lebte, welcher vor seiner Ankunft eine blühende Landschaft gewesen war. Wäre er nicht gekommen, so hätten die Geister nie befreit werden können. Aber er tat es. Er, ein Mensch, dem auch ihr Vater einst Gastfreundschaft gewährt hatte.
Der Blick der Narsani veränderte sich, wandelte sich von Trauer zu Zorn. Sie fühlte eine Leere in sich, die sie noch an keinem Tag in ihrem langen Dasein gespürt hatte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie erkannte was es war, einfache Wut. Ein solches Gefühl war ihr unbekannt. Sie hatte viel davon gelesen, doch gespürt hatte sie es noch nie. Es bereitete ihr Unbehagen.
Vergeblich versuchte sie wieder zur Ruhe zu kommen. Selbst ihre Umgebung konnte sie nicht von den Gedanken ablenken, die in ihrem Geist kreisten und keine Antwort fanden.
Die Zeilen aus dem Sagandum kamen ihr wieder in den Sinn.„Zwei Zwillinge, verschieden wie Tag und Nacht, der eine geboren aus Licht, der andere aus Dunkelheit. Vereint in einer Gestalt. Zwei verschiedene Völker entstanden, geleitet durch den Wunsch der Zwillinge, lebten beisammen, ohne einander zu vernichten. Doch mit der Zeit entstand der Neid und wandelte sich in Hass, bis sie sich gegenseitig verrieten und die Seele sich trennte, um ihr zweites Ich zu bekämpfen.“ Arinathiel sah nachdenklich auf die Ebene hinaus.
Dieser Verrat lag nun schon viele, viele Jahrtausende zurück, doch das Buch hatte ihn nicht vergessen, ebenso nicht wie die Geister der verratenen Geschöpfe. Sollte sich nun der Fluch erfüllen? Sollte ein einfacher Mensch den Stein ins Rollen gebracht haben, um dem Schlechten der Zwillinge den Weg in die Welt zurück zu ermöglichen? Würde sich das Tor für immer öffnen und die Dunkelheit ihre Welt zerstören?
Die Narsani seufzte und erhob sich. Langsam verdrängte sie die Gedanken, die ihren Geist umnebelten und ging zurück zum steinernen Tor.

4. Kapitel
Ein Weg mit Hindernissen

Melissa schlug die Augen auf und versuchte sich in dem dunklen Raum zu orientieren. Einige Sekunden vergingen, bis sie erkannte, wo sie sich befand und mit diesem Wissen kehrten auch die anderen Erinnerungen an die Geschehnisse der vergangenen Stunden zurück.
Ruckartig schlug sie die dünne Decke zurück und setzte sich auf. Wut stieg in ihr auf, als sie das Innere ihrer Zelle betrachtete, denn um nichts anderes handelte es sich bei dieser Kammer. Ihr Großvater hatte zwar gesagt, dass es ihr hier an nichts fehlen würde, doch sie war eine Gefangene und der Sleyrinel, welcher vor ihrer Tür auf und ab ging, war die auffälligste Tatsache, die für diese Schlussfolgerung sprach.
Ihr Blick fiel auf die Früchte und die hölzerne Schale voll Wasser, die seit dem vorigen Abend auf einem schwarzen, kleinen Steintischchen unter dem Fenster standen. Viele der Beeren und Obststücke waren ihr unbekannt und dufteten so gut, dass ihr hungriger Magen zu knurren begann. Doch sie hatte sich gezwungen ihr Hungergefühl zu ignorieren. Sie hatte nicht vor, auch nur eine Speise in diesem Gemäuer zu sich zu nehmen, selbst wenn sie verhungern würde. Dieses Versprechen hatte sie sich im Stillen gegeben, als sie vor drei Tagen in dieses Zimmer befördert worden war. Sie wusste, dass es albern war, aber es war das einzigste, mit dem sie noch Widerstand leisten konnte.
Nachdenklich starrte sie vor sich hin. Wie sollte es weitergehen? Melissa hatte keine Ahnung, wie sie aus ihrem Gefängnis fliehen konnte, ohne ihren Wächter auf sich aufmerksam zu machen. Bereits gestern hatte sie die Fluchtmöglichkeit durch das Fenster wieder verworfen, nachdem sie einen Blick hindurch geworfen hatte. Unter dem Fenster war nichts, was sie auffangen konnte. Der Stein fiel steil ab und das soweit, dass Melissa den Boden noch nicht einmal mehr erahnen konnte. Außerdem hatte sie kein Seil.
Aber irgendwie musste sie einfach hier heraus kommen. Das Problem war nur, dass ihr leider nicht einfiel, wie sie es anstellen sollte.
Nach einiger Zeit, die so langsam verging, dass es Melissa vorkam, als hätte sie Stunden in dieser Zelle verbracht, erklangen draußen auf dem Gang hallende Schritte. Es wurde unruhig vor ihrer Zelle. Sie hörte, wie der Sleyrinel vor ihrer Tür leise zischelnd auf eine leise Stimme antwortete. Melissa stand auf und ging zur Tür. War ihr Großvater zurückgekommen?
Sie versuchte zu lauschen, doch die dicke Holztür verhinderte, dass sie die Worte verstand. Als der Riegel mit einem lauten Klicken zurückgeschoben wurde, wich sie erschrocken ein paar Schritte zurück.
Die Tür schwang mit einem quietschenden Geräusch auf.
Ihre Großmutter kam langsam herein. Melissa tat einen Schritt auf sie zu, ihr Blick war hoffungsvoll. Vielleicht stand sie nicht mehr unter seinem Einfluss...
Mitten im Schritt stockte sie und blieb wie angewurzelt stehen. Eine Gestalt war hinter ihrer Großmutter erschienen, trat in die Kammer und schloss mit einem amüsierten Lächeln die Tür. Eine Weile sahen sich Melissa und ihr Großvater nur stumm an, bis seine Stimme die eisige Stille im Raum durchbrach. „Ich hoffe du bist mit deinem Zimmer zufrieden, meine Enkelin. Ich habe es selbst ausgesucht.“ Melissa funkelte ihn an, machte aber keine Anstalten auch nur mit einem einzigen Wort auf sein Gesagtes einzugehen. In ihr tobten die widersprüchlichsten Gefühle. Sie schwankte zwischen dem Wunsch ihre Großmutter zu umarmen und auf der anderen Seite sich auf diesen scheußlichen Mann, der sich für ihren Großvater ausgab, zu stürzen.
Meringon hob eine Augenbraue, als sie immer noch keine Anstalten machte zu sprechen und ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen, bis er bei dem noch vollen Teller auf dem Tisch hängen blieb. „Ich sehe, du hast die Früchte auch noch nicht angerührt. Das wird meinen Koch aber gar nicht freuen“, tadelte er sie mit vorwurfsvollem Blick. „Ist das deine Art Dankbarkeit zu zeigen?“ Melissa stieß einen schnaubenden Laut aus, mit einem Mal konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Dankbarkeit?“, platzte sie los, „Was erwartest du von mir? Das ich vor dir auf die Knie falle, dich umarme und das, was du getan hast, vergesse? – Darauf kannst du lange warten“
Meringons aufgesetztes Lächeln verschwand. „Du scheinst immer noch genauso widerspenstig zu sein, wie am Anfang. Es tut mir leid, Melissa, ich dachte du wärest endlich zur Vernunft gekommen. Du wirst für lange Zeit hier bleiben, also finde dich damit ab.“ Er musterte sie einen Augenblick lang, zuckte schließlich mit den Schultern und wandte sich um. Im Gehen sagte er: „Es ist deine Sache. Ich komme in ein paar Tagen wieder. Vielleicht hast du dann ja deine Meinung geändert.“ Er machte ein Zeichen in Richtung von Melissas Großmutter und wartete, bis diese seiner Aufforderung gleichkam und zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann verließ er, ohne Melissa auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen, das Zimmer.

Die Holztür fiel mit einem schweren Klicken ins Schloss und ließ Melissa aus der Erstarrung aufwachen, die im Laufe des Gespräches von ihr Besitz ergriffen hatte. Stumm starrte sie die verschlossene Tür an. Sie spürte, wie ihre Hände in hilflosem Zorn zu zittern begannen. Langsam ließ sie sich auf die Bettkante sinken.
Wie konnte ein einzelner Mensch so gemein sein, so verabscheuend und feindlich gegenüber allem Leben. Was würde wohl nun mit ihr geschehen? Sie hatte ihrem Großvater offen gezeigt, dass sie nicht bereit war, ihm auch nur ein Stück entgegenzukommen, geschweige denn ihm zu helfen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Würde er sie vielleicht nun für immer hier sitzen lassen? Allein und abgeschottet, ohne Wesen, die ihr Gesellschaft leisteten? Der Gedanke war so unsinnig, dass Melissa ihn sofort wieder verdrängte, doch so ganz wollte es ihr nicht gelingen. In ihrem Inneren blieb ein bohrendes Gefühl der stillen Angst, bereit ihr auch weiterhin den Gedanken in Erinnerung zu halten, gerade soweit, dass sie diese beängstigende Möglichkeit nicht völlig verdrängen konnte.
Erst spät in der Nacht konnte sie Schlaf finden, obwohl er ihr keine Erholung brachte.

Sie irrte schon seit Stunden durch einen scheinbar endlosen Felstunnel aus schwarzem Lava Gestein, an dessen Wänden eine klebrige, ölige Flüssigkeit schimmerte und einen bestialischen Gestank verbreitete. Melissa wagte kaum noch zu atmen. Ihre Füße schmerzten von den kleinen, spitzen Zacken, die aus dem Boden ragten und die Schrammen von ihrem Sturz brannten wie Feuer. Wie lange sie schon in diesen Gängen herum irrte, von denen einer wie der andere aussah, wusste sie nicht mehr. Ihr Zeitgefühl war ihr völlig abhanden gekommen und die dunkelblaue Armbanduhr, die sie von ihrem Vater zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte, war stehen geblieben, seit sie in diese seltsame Welt eingetaucht war. Sie wusste noch nicht einmal mehr, welche Richtung die Freiheit bedeutete. Melissa stolperte, konnte den Sturz gerade noch vermeiden und hastete weiter. Plötzlich blieb sie wie gelähmt stehen. Ihr Herz begann noch heftiger zu schlagen, als es schon vom anstrengenden Laufen der Fall war. Sie presste die Lippen zusammen und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Tunnel vor ihr. Jemand stand dort, verhüllt von der Schwärze. Nicht mehr als ein Schatten, aber dennoch erkennbar als ein zweibeiniges Lebewesen. Melissa hielt die Luft an. Ob ihr Gegenüber sie bemerkt hatte? Vorsichtig wich sie in den dunklen Schatten einer kleinen Nische zurück und wartete. Auch der Schatten verharrte regungslos, so als schien er unschlüssig, in welcher Richtung er seinen Weg weiter fortsetzen sollte...

Melissa erwachte, langsam und mit vollem Bewusstsein dessen, was sie eben geträumt hatte. Sie richtete sich in ihrem Bett auf und starrte in die Dunkelheit vor sich. Wieder ein Traum, der so realistisch schien. Ob er etwas mit ihren anderen Träumen zu tun hatte? Fügte sich möglicherweise jetzt alles zusammen?
Melissa schlug mit klammen Händen die dünne Decke zurück und setzte ihre nackten Füße auf den Steinboden. Sie erschauerte. Unter der Decke hatte sie gar nicht gemerkt, wie kalt es in dieser Kammer wirklich war. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Schwärze, die sie umgab und so begannen die Konturen um sie herum schärfer zu werden.
Gähnend erhob sie sich entgültig aus der wohligen Wärme ihrer Decke und trat ans Fenster, durch das ein silberner Mondstrahl fiel. Der Lufthauch, der durch die Öffnung in den Steinen hereinwehte, war trocken und staubig, wie man es sonst aus heißen Ländern im Süden Europas kannte, doch dieser Wind war eiskalt. Melissa begann zu zittern und schlang ihre nackten Arme um ihren Körper. Ihr Blick fiel auf das entfernte Gebirge am Horizont, dass sich wie eine schwarze Wand aus Stein erhob. Wie sollte sie je hier heraus kommen. Es war einfach unmöglich. Es gab keinen Weg, den sie nehmen konnte. Ob sie einfach aufgeben sollte? Vielleicht war der Weg, den Meringon ihr angeboten hatte, ja gar nicht so furchtbar und abstoßend, wie sie dachte. So würde sie mit ihrer Großmutter beisammen sein können. Was war so schlimm an diesem Fürsten, dass die Narsani hofften, er würde von ihr vernichtet werden. Woher sollte sie wissen, dass nicht sie es waren, die versuchten das Land zu versklaven. Vor ihrem geistigen Auge tauchten die Silhouetten der beiden ungleichen Männer auf. Durwethian, eine schlanke Gestalt, auf der einen, ihr Großvater in seinem dunklen Fellmantel auf der anderen Seite. Die gutmütigen Augen des Narsans blickten nachdenklich auf sie herab, die Augen ihres Großvaters wiesen keine Freundlichkeit auf, nur eisige Kälte und einen Ausdruck, den Melissa nicht bestimmen konnte. Melissa biss sich auf die Lippe, bis ihr die Tränen in die Augen traten. Es war doch offensichtlich, alles was sie bis jetzt erlebt hatte ließ nur eine Erklärung zu. Ihr Großvater war der Böse in dieser Geschichte und sie die Heldin, die ihn vernichten sollte. Es war alles wie in einem ihrer vielen fantastischen Bücher, nur das sie es dieses Mal nicht einfach schließen und weglegen konnte, weil es ihr nicht gefiel. Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, sich diesem Mann anschließen zu wollen. Hatte sie sich nicht selbst schon so oft darüber geärgert, wie Menschen nur so machtgierig und skrupellos sein können? Warum sie ihre Mitmenschen andere manipulierten, um sich selbst den größtmöglichen Vorteil zu erschaffen? „...und jetzt willst du zu dem werden, was du am meisten verabscheust?“, fragte sie laut und ballte die Faust. Mit einem Stöhnen ließ sie sich auf den Steinstuhl neben sich nieder und stützte den Kopf auf die Hände. Dumpf starrte sie in die Schwärze vor sich. Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation blieb, egal für welche Seite sie sich entschied. Gefangen in dieser Zelle war sie nur Meringon nützlich, der sie jetzt nicht mehr zu fürchten brauchte und sie für alle Zeit in dieser Kammer eingesperrt lassen konnte, wenn er es wollte.
Als die ersten Strahlen der Sonne über die Ebene strichen, um schließlich auch durch die Ritzen ihres Fensters in die Kammer zu gelangen, stand Melissa auf und ging hinüber zu ihrem Bett, auf das sie sich setzte. Sie war unheimlich müde, doch sie konnte einfach nicht schlafen - wollte es nicht. Eine innere Unruhe hatte sie erfasst. Sie hatte die wildesten Fluchtpläne erfunden und wieder verworfen, weil sie nicht ausführbar oder völlig absurd waren. Sie reichten „vom aus dem Fenster klettern“ bis hin zum „Niederschlagen des Dämons“ vor ihrer Zelle und selbst ein Wahnsinniger wäre nicht auf die Idee gekommen auf diese Weise Selbstmord zu begehen.
Melissa war so in ihre Gedanken vertief, dass sie nicht merkte, wie die Tür zu ihrer Kammer geöffnet wurde. Erst als ein warzenübersätes Gesicht mit tiefhängenden Augenlidern über ihr auftauchte, reagierte sie. „Cohm miht mirr. Uhnser Hehrr ehrwahrteht dihc.“, sagte es gedehnt. Melissa nickte nur. Sie registrierte beiläufig, dass das Wesen, das vor ihr lief, zwei Köpfe hatte, von denen der eine sie den gesamten Weg anstarrte. Konzentriert richtete sie ihre Augen auf einen Punkt vor ihren Füßen. Was mochte Meringon von ihr wollen. Wahrscheinlich würde er sie wieder versuchen zu überreden. Ob er sie jetzt vielleicht zwingen würde ihr blindlings zu folgen, wie er es bei ihrer Großmutter getan hatte? Schließlich hatte sie ihm klargemacht, dass sie nicht gewillt war mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das verkrüppelte Wesen vor ihr humpelte aus der Tür auf den Gang. Zwei Sleyrinel warteten dort und reihten sich hinter Melissa ein. Ihr Weg führte sie durch einen durch Fackeln erhellten Gang, dessen Wände sich wie ein wolkenverhangener Sturmhimmel über ihnen aufbauschte. Am Anfang war Melissa gegen ihren Willen von dieser bizarren Welt aus Stein fasziniert, doch als sich ihre Umgebung auch die nächsten Minuten nicht änderte, begannen ihre Gedanken abzuschweifen und ihr Interesse verlor sich. Der Gang endete mit einem Mal abrupt vor einem riesigen Steintor, in dessen Mitte eine kleine Eisentür eingelassen war. Das Wesen steuerte direkt auf diese Öffnung zu, drückte mit seinen verformten Händen die Klinke herunter und verschwand in ihr. Melissa wurde von den Sleyrinel unsanft hinterher gestoßen. Als sie durch die Tür trat erkannte sie, wo sie sich befand. Es war die große Halle, in der sie auch bei ihrer Ankunft gestanden hatte. Ihr Blick schweifte umher, blieb für einen unbewussten Moment an einer Kristallkugel am Kopfende des Saales hängen und glitt dann weiter.
Für eine Sekunde kam ihr ein Gedanke in den Sinn, doch er entglitt ihr, noch bevor sie ihn fassen konnte und so vergaß sie, dass sie ihn überhaupt gehabt hatte. „Da bist du ja, meine Enkelin“, erklang die wohlbekannte Stimme ihres Großvaters und Melissa wandte sich mit einem um. Unbemerkt sah sie sich nach ihrer Großmutter um. Sie musste nicht lange suchen. Diese stand direkt hinter Meringon, mit gesenktem Kopf. Melissa seufzte leise. „Was willst du von mir“, fragte sie und richtete ihren Blick direkt auf ihren Großvater. Meringon sah sie ohne mit der Wimper zu zucken an, er lachte leise, ehe er antwortete: „Das weißt du immer noch nicht? Oder versuchst du mich mit vorgetäuschter Unwissenheit zu reizen.“ Seine Augen funkelten gehässig.
„Wenn du zu spielen wünschst. Bitte, spielen wir das Entscheidungsspiel. Ich gebe dir hier und jetzt deine letzte Chance. Du kannst frei wählen.“ Seine linke Hand legte sich wie beiläufig um die Schultern seiner Frau. „...entweder du wirst wie sie... oder..“ seine Hand deutete auf den Thron hinter sich „... du wirst meine rechte Hand. Überlege es gut. Ich verspreche dir Macht und Ansehen. Sei mein Diener oder mir ein ebenbürtiger Gehilfe.“ Melissa starrte ihren Großvater an. Also hatte sie recht gehabt. Sie würde sich jetzt entscheiden müssen. Mit Grauen dachte sie an den Ausdruck in den Augen ihrer Großmutter. Diese endlose Leere. Sie war nicht mehr als eine leblose Hülle, eine Marionette, deren Fäden ein anderer in der Hand hielt. Sie wollte nicht zu einer willenlosen Puppe werden, aber sie konnte doch nicht sich selbst verraten, indem sie das tat, was sie am meisten verabscheute, zu dem wurde, was sie am meisten an den Menschen gehasst hatte. Melissa sah zu ihrer Großmutter. Sieh mich an, dachte sie verzweifelt. Bitte, so schau mich doch an, hilf mir. Was soll ich tun. Ihre Großmutter hob in einer abgehackten Bewegung den Kopf. Ihr Blick flackerte. Melissa stand stocksteif da und traute ihren Augen nicht. „Die....Kristallkugel.....geh.....Kristallkugel...berühr sie....“ Die Stimme ihrer Großmutter klang wie ein heiseres Krächzen, so als ob sie seit Jahren nicht mehr gesprochen hätte, doch Melissa erkannte sie sofort. Hastig wandte sie sich um. Ihr Blick suchte die Kristallkugel und sie entdeckte diese auch sofort. Mit einem Mal huschten Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei, Meringon, der die Kugel berührte und verschwand, nur um wenige Minuten später wieder in Begleitung eines Mädchens mit dunkelblondem Haar und einer schwarzen Cordjacke aufzutauchen. Melissa rang nach Luft. Sie sah sich selbst dort stehen. Das war es. Der Kristall. Er war ein Portal. Er würde sie hier heraus bringen. Fast ohne ihr zutun begannen sich ihre Beine zu bewegen und sie stürmte auf die Kugel zu. Ein wütender Schrei erklang hinter ihr. „Neeeeeeeeein, fasst sie. Sie darf die Kugel nicht berühren.“ Ein Schatten tauchte urplötzlich neben ihr auf und eine lederartige Klaue versuchte sie zu packen. Melissa tauchte in letzter Sekunde unter ihr weg und rannte weiter. Die Kristallkugel war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie streckte die Hand aus und wurde mit einem Ruck zurückgerissen. Der Fyrem hielt ihren Knöchel umklammert. Seine Schnauze schien sich zu einem triumphierenden Lächeln verzogen zu haben. Melissa trat verzweifelt nach seinem Kopf. Ein schrilles Kreischen und ein dumpfer Schlag sagten ihr, dass sie getroffen hatte. Sie rappelte sich auf, doch bevor sie mit beiden Händen die Kugel umfassen konnte, griff die Hand ihres Großvaters nach ihr. Melissa schrie vor Enttäuschung auf und versuchte aus seiner Umklammerung zu entkommen, doch er stand unerbittlich neben ihr. Plötzlich wurde Meringon zurückgerissen, taumelte und fiel zu Boden. Fassungslos starrte er, wie auch Melissa, seine Frau an, die sich über ihm aufgebaut hatte. Sie zitterte stark und der Ausdruck in ihren Augen spiegelte pure Qual wieder. „Du wirst sie nicht bekommen. Niemals.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und versetzte Melissa einen unsanften Stoß, der sie rückwärts stolpern ließ. Melissa fiel und griff mit einer Hand ins Leere. Die andere berührte im Sturz die wabernde Oberfläche der silbrigen Kugel. Melissa spürte einen sanften Ruck und ein kühles Gefühl von herablaufendem Wasser auf ihrer Haut, dann wurde sie in einen nebligen Strudel hinabgesogen und der Saal mit ihren Großeltern verschwand in einem Gewirbel aus grauen Wolken.

5.Kapitel
Der Traum wird Wirklichkeit

Melissa schlug die Augen auf und versuchte sich in dem dunklen Raum zu orientieren. Einige Sekunden vergingen, bis sie erkannte, wo sie sich befand und mit diesem Wissen kehrten auch die anderen Erinnerungen an die Geschehnisse der vergangenen Stunden zurück.
Ruckartig schlug sie die dünne Decke zurück und setzte sich auf. Wut stieg in ihr auf, als sie das Innere ihrer Zelle betrachtete, denn um nichts anderes handelte es sich bei dieser Kammer. Ihr Großvater hatte zwar gesagt, dass es ihr hier an nichts fehlen würde, doch sie war eine Gefangene und der Sleyrinel, welcher vor ihrer Tür auf und ab ging, war die auffälligste Tatsache, die für diese Schlussfolgerung sprach.
Ihr Blick fiel auf die Früchte und die hölzerne Schale voll Wasser, die seit dem vorigen Abend auf einem schwarzen, kleinen Steintischchen unter dem Fenster standen. Viele der Beeren und Obststücke waren ihr unbekannt und dufteten so gut, dass ihr hungriger Magen zu knurren begann. Doch sie hatte sich gezwungen ihr Hungergefühl zu ignorieren. Sie hatte nicht vor, auch nur eine Speise in diesem Gemäuer zu sich zu nehmen, selbst wenn sie verhungern würde. Dieses Versprechen hatte sie sich im Stillen gegeben, als sie vor drei Tagen in dieses Zimmer befördert worden war. Sie wusste, dass es albern war, aber es war das einzigste, mit dem sie noch Widerstand leisten konnte.
Nachdenklich starrte sie vor sich hin. Wie sollte es weitergehen? Melissa hatte keine Ahnung, wie sie aus ihrem Gefängnis fliehen konnte, ohne ihren Wächter auf sich aufmerksam zu machen. Bereits gestern hatte sie die Fluchtmöglichkeit durch das Fenster wieder verworfen, nachdem sie einen Blick hindurch geworfen hatte. Unter dem Fenster war nichts, was sie auffangen konnte. Der Stein fiel steil ab und das soweit, dass Melissa den Boden noch nicht einmal mehr erahnen konnte. Außerdem hatte sie kein Seil.
Aber irgendwie musste sie einfach hier heraus kommen. Das Problem war nur, dass ihr leider nicht einfiel, wie sie es anstellen sollte.
Nach einiger Zeit, die so langsam verging, dass es Melissa vorkam, als hätte sie Stunden in dieser Zelle verbracht, erklangen draußen auf dem Gang hallende Schritte. Es wurde unruhig vor ihrer Zelle. Sie hörte, wie der Sleyrinel vor ihrer Tür leise zischelnd auf eine leise Stimme antwortete. Melissa stand auf und ging zur Tür. War ihr Großvater zurückgekommen?
Sie versuchte zu lauschen, doch die dicke Holztür verhinderte, dass sie die Worte verstand. Als der Riegel mit einem lauten Klicken zurückgeschoben wurde, wich sie erschrocken ein paar Schritte zurück.
Die Tür schwang mit einem quietschenden Geräusch auf.
Ihre Großmutter kam langsam herein. Melissa tat einen Schritt auf sie zu, ihr Blick war hoffungsvoll. Vielleicht stand sie nicht mehr unter seinem Einfluss...
Mitten im Schritt stockte sie und blieb wie angewurzelt stehen. Eine Gestalt war hinter ihrer Großmutter erschienen, trat in die Kammer und schloss mit einem amüsierten Lächeln die Tür. Eine Weile sahen sich Melissa und ihr Großvater nur stumm an, bis seine Stimme die eisige Stille im Raum durchbrach. „Ich hoffe du bist mit deinem Zimmer zufrieden, meine Enkelin. Ich habe es selbst ausgesucht.“ Melissa funkelte ihn an, machte aber keine Anstalten auch nur mit einem einzigen Wort auf sein Gesagtes einzugehen. In ihr tobten die widersprüchlichsten Gefühle. Sie schwankte zwischen dem Wunsch ihre Großmutter zu umarmen und auf der anderen Seite sich auf diesen scheußlichen Mann, der sich für ihren Großvater ausgab, zu stürzen.
Meringon hob eine Augenbraue, als sie immer noch keine Anstalten machte zu sprechen und ließ seinen Blick durch den kleinen Raum schweifen, bis er bei dem noch vollen Teller auf dem Tisch hängen blieb. „Ich sehe, du hast die Früchte auch noch nicht angerührt. Das wird meinen Koch aber gar nicht freuen“, tadelte er sie mit vorwurfsvollem Blick. „Ist das deine Art Dankbarkeit zu zeigen?“ Melissa stieß einen schnaubenden Laut aus, mit einem Mal konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Dankbarkeit?“, platzte sie los, „Was erwartest du von mir? Das ich vor dir auf die Knie falle, dich umarme und das, was du getan hast, vergesse? – Darauf kannst du lange warten“
Meringons aufgesetztes Lächeln verschwand. „Du scheinst immer noch genauso widerspenstig zu sein, wie am Anfang. Es tut mir leid, Melissa, ich dachte du wärest endlich zur Vernunft gekommen. Du wirst für lange Zeit hier bleiben, also finde dich damit ab.“ Er musterte sie einen Augenblick lang, zuckte schließlich mit den Schultern und wandte sich um. Im Gehen sagte er: „Es ist deine Sache. Ich komme in ein paar Tagen wieder. Vielleicht hast du dann ja deine Meinung geändert.“ Er machte ein Zeichen in Richtung von Melissas Großmutter und wartete, bis diese seiner Aufforderung gleichkam und zu ihm aufgeschlossen hatte. Dann verließ er, ohne Melissa auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen, das Zimmer.

Die Holztür fiel mit einem schweren Klicken ins Schloss und ließ Melissa aus der Erstarrung aufwachen, die im Laufe des Gespräches von ihr Besitz ergriffen hatte. Stumm starrte sie die verschlossene Tür an. Sie spürte, wie ihre Hände in hilflosem Zorn zu zittern begannen. Langsam ließ sie sich auf die Bettkante sinken.
Wie konnte ein einzelner Mensch so gemein sein, so verabscheuend und feindlich gegenüber allem Leben. Was würde wohl nun mit ihr geschehen? Sie hatte ihrem Großvater offen gezeigt, dass sie nicht bereit war, ihm auch nur ein Stück entgegenzukommen, geschweige denn ihm zu helfen und mit ihm zusammenzuarbeiten. Würde er sie vielleicht nun für immer hier sitzen lassen? Allein und abgeschottet, ohne Wesen, die ihr Gesellschaft leisteten? Der Gedanke war so unsinnig, dass Melissa ihn sofort wieder verdrängte, doch so ganz wollte es ihr nicht gelingen. In ihrem Inneren blieb ein bohrendes Gefühl der stillen Angst, bereit ihr auch weiterhin den Gedanken in Erinnerung zu halten, gerade soweit, dass sie diese beängstigende Möglichkeit nicht völlig verdrängen konnte.
Erst spät in der Nacht konnte sie Schlaf finden, obwohl er ihr keine Erholung brachte.

Sie irrte schon seit Stunden durch einen scheinbar endlosen Felstunnel aus schwarzem Lava Gestein, an dessen Wänden eine klebrige, ölige Flüssigkeit schimmerte und einen bestialischen Gestank verbreitete. Melissa wagte kaum noch zu atmen. Ihre Füße schmerzten von den kleinen, spitzen Zacken, die aus dem Boden ragten und die Schrammen von ihrem Sturz brannten wie Feuer. Wie lange sie schon in diesen Gängen herum irrte, von denen einer wie der andere aussah, wusste sie nicht mehr. Ihr Zeitgefühl war ihr völlig abhanden gekommen und die dunkelblaue Armbanduhr, die sie von ihrem Vater zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte, war stehen geblieben, seit sie in diese seltsame Welt eingetaucht war. Sie wusste noch nicht einmal mehr, welche Richtung die Freiheit bedeutete. Melissa stolperte, konnte den Sturz gerade noch vermeiden und hastete weiter. Plötzlich blieb sie wie gelähmt stehen. Ihr Herz begann noch heftiger zu schlagen, als es schon vom anstrengenden Laufen der Fall war. Sie presste die Lippen zusammen und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Tunnel vor ihr. Jemand stand dort, verhüllt von der Schwärze. Nicht mehr als ein Schatten, aber dennoch erkennbar als ein zweibeiniges Lebewesen. Melissa hielt die Luft an. Ob ihr Gegenüber sie bemerkt hatte? Vorsichtig wich sie in den dunklen Schatten einer kleinen Nische zurück und wartete. Auch der Schatten verharrte regungslos, so als schien er unschlüssig, in welcher Richtung er seinen Weg weiter fortsetzen sollte...

Melissa erwachte, langsam und mit vollem Bewusstsein dessen, was sie eben geträumt hatte. Sie richtete sich in ihrem Bett auf und starrte in die Dunkelheit vor sich. Wieder ein Traum, der so realistisch schien. Ob er etwas mit ihren anderen Träumen zu tun hatte? Fügte sich möglicherweise jetzt alles zusammen?
Melissa schlug mit klammen Händen die dünne Decke zurück und setzte ihre nackten Füße auf den Steinboden. Sie erschauerte. Unter der Decke hatte sie gar nicht gemerkt, wie kalt es in dieser Kammer wirklich war. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Schwärze, die sie umgab und so begannen die Konturen um sie herum schärfer zu werden.
Gähnend erhob sie sich entgültig aus der wohligen Wärme ihrer Decke und trat ans Fenster, durch das ein silberner Mondstrahl fiel. Der Lufthauch, der durch die Öffnung in den Steinen hereinwehte, war trocken und staubig, wie man es sonst aus heißen Ländern im Süden Europas kannte, doch dieser Wind war eiskalt. Melissa begann zu zittern und schlang ihre nackten Arme um ihren Körper. Ihr Blick fiel auf das entfernte Gebirge am Horizont, dass sich wie eine schwarze Wand aus Stein erhob. Wie sollte sie je hier heraus kommen. Es war einfach unmöglich. Es gab keinen Weg, den sie nehmen konnte. Ob sie einfach aufgeben sollte? Vielleicht war der Weg, den Meringon ihr angeboten hatte, ja gar nicht so furchtbar und abstoßend, wie sie dachte. So würde sie mit ihrer Großmutter beisammen sein können. Was war so schlimm an diesem Fürsten, dass die Narsani hofften, er würde von ihr vernichtet werden. Woher sollte sie wissen, dass nicht sie es waren, die versuchten das Land zu versklaven. Vor ihrem geistigen Auge tauchten die Silhouetten der beiden ungleichen Männer auf. Durwethian, eine schlanke Gestalt, auf der einen, ihr Großvater in seinem dunklen Fellmantel auf der anderen Seite. Die gutmütigen Augen des Narsans blickten nachdenklich auf sie herab, die Augen ihres Großvaters wiesen keine Freundlichkeit auf, nur eisige Kälte und einen Ausdruck, den Melissa nicht bestimmen konnte. Melissa biss sich auf die Lippe, bis ihr die Tränen in die Augen traten. Es war doch offensichtlich, alles was sie bis jetzt erlebt hatte ließ nur eine Erklärung zu. Ihr Großvater war der Böse in dieser Geschichte und sie die Heldin, die ihn vernichten sollte. Es war alles wie in einem ihrer vielen fantastischen Bücher, nur das sie es dieses Mal nicht einfach schließen und weglegen konnte, weil es ihr nicht gefiel. Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, sich diesem Mann anschließen zu wollen. Hatte sie sich nicht selbst schon so oft darüber geärgert, wie Menschen nur so machtgierig und skrupellos sein können? Warum sie ihre Mitmenschen andere manipulierten, um sich selbst den größtmöglichen Vorteil zu erschaffen? „...und jetzt willst du zu dem werden, was du am meisten verabscheust?“, fragte sie laut und ballte die Faust. Mit einem Stöhnen ließ sie sich auf den Steinstuhl neben sich nieder und stützte den Kopf auf die Hände. Dumpf starrte sie in die Schwärze vor sich. Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation blieb, egal für welche Seite sie sich entschied. Gefangen in dieser Zelle war sie nur Meringon nützlich, der sie jetzt nicht mehr zu fürchten brauchte und sie für alle Zeit in dieser Kammer eingesperrt lassen konnte, wenn er es wollte.
Als die ersten Strahlen der Sonne über die Ebene strichen, um schließlich auch durch die Ritzen ihres Fensters in die Kammer zu gelangen, stand Melissa auf und ging hinüber zu ihrem Bett, auf das sie sich setzte. Sie war unheimlich müde, doch sie konnte einfach nicht schlafen - wollte es nicht. Eine innere Unruhe hatte sie erfasst. Sie hatte die wildesten Fluchtpläne erfunden und wieder verworfen, weil sie nicht ausführbar oder völlig absurd waren. Sie reichten „vom aus dem Fenster klettern“ bis hin zum „Niederschlagen des Dämons“ vor ihrer Zelle und selbst ein Wahnsinniger wäre nicht auf die Idee gekommen auf diese Weise Selbstmord zu begehen.
Melissa war so in ihre Gedanken vertief, dass sie nicht merkte, wie die Tür zu ihrer Kammer geöffnet wurde. Erst als ein warzenübersätes Gesicht mit tiefhängenden Augenlidern über ihr auftauchte, reagierte sie. „Cohm miht mirr. Uhnser Hehrr ehrwahrteht dihc.“, sagte es gedehnt. Melissa nickte nur. Sie registrierte beiläufig, dass das Wesen, das vor ihr lief, zwei Köpfe hatte, von denen der eine sie den gesamten Weg anstarrte. Konzentriert richtete sie ihre Augen auf einen Punkt vor ihren Füßen. Was mochte Meringon von ihr wollen. Wahrscheinlich würde er sie wieder versuchen zu überreden. Ob er sie jetzt vielleicht zwingen würde ihr blindlings zu folgen, wie er es bei ihrer Großmutter getan hatte? Schließlich hatte sie ihm klargemacht, dass sie nicht gewillt war mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das verkrüppelte Wesen vor ihr humpelte aus der Tür auf den Gang. Zwei Sleyrinel warteten dort und reihten sich hinter Melissa ein. Ihr Weg führte sie durch einen durch Fackeln erhellten Gang, dessen Wände sich wie ein wolkenverhangener Sturmhimmel über ihnen aufbauschte. Am Anfang war Melissa gegen ihren Willen von dieser bizarren Welt aus Stein fasziniert, doch als sich ihre Umgebung auch die nächsten Minuten nicht änderte, begannen ihre Gedanken abzuschweifen und ihr Interesse verlor sich. Der Gang endete mit einem Mal abrupt vor einem riesigen Steintor, in dessen Mitte eine kleine Eisentür eingelassen war. Das Wesen steuerte direkt auf diese Öffnung zu, drückte mit seinen verformten Händen die Klinke herunter und verschwand in ihr. Melissa wurde von den Sleyrinel unsanft hinterher gestoßen. Als sie durch die Tür trat erkannte sie, wo sie sich befand. Es war die große Halle, in der sie auch bei ihrer Ankunft gestanden hatte. Ihr Blick schweifte umher, blieb für einen unbewussten Moment an einer Kristallkugel am Kopfende des Saales hängen und glitt dann weiter.
Für eine Sekunde kam ihr ein Gedanke in den Sinn, doch er entglitt ihr, noch bevor sie ihn fassen konnte und so vergaß sie, dass sie ihn überhaupt gehabt hatte. „Da bist du ja, meine Enkelin“, erklang die wohlbekannte Stimme ihres Großvaters und Melissa wandte sich mit einem um. Unbemerkt sah sie sich nach ihrer Großmutter um. Sie musste nicht lange suchen. Diese stand direkt hinter Meringon, mit gesenktem Kopf. Melissa seufzte leise. „Was willst du von mir“, fragte sie und richtete ihren Blick direkt auf ihren Großvater. Meringon sah sie ohne mit der Wimper zu zucken an, er lachte leise, ehe er antwortete: „Das weißt du immer noch nicht? Oder versuchst du mich mit vorgetäuschter Unwissenheit zu reizen.“ Seine Augen funkelten gehässig.
„Wenn du zu spielen wünschst. Bitte, spielen wir das Entscheidungsspiel. Ich gebe dir hier und jetzt deine letzte Chance. Du kannst frei wählen.“ Seine linke Hand legte sich wie beiläufig um die Schultern seiner Frau. „...entweder du wirst wie sie... oder..“ seine Hand deutete auf den Thron hinter sich „... du wirst meine rechte Hand. Überlege es gut. Ich verspreche dir Macht und Ansehen. Sei mein Diener oder mir ein ebenbürtiger Gehilfe.“ Melissa starrte ihren Großvater an. Also hatte sie recht gehabt. Sie würde sich jetzt entscheiden müssen. Mit Grauen dachte sie an den Ausdruck in den Augen ihrer Großmutter. Diese endlose Leere. Sie war nicht mehr als eine leblose Hülle, eine Marionette, deren Fäden ein anderer in der Hand hielt. Sie wollte nicht zu einer willenlosen Puppe werden, aber sie konnte doch nicht sich selbst verraten, indem sie das tat, was sie am meisten verabscheute, zu dem wurde, was sie am meisten an den Menschen gehasst hatte. Melissa sah zu ihrer Großmutter. Sieh mich an, dachte sie verzweifelt. Bitte, so schau mich doch an, hilf mir. Was soll ich tun. Ihre Großmutter hob in einer abgehackten Bewegung den Kopf. Ihr Blick flackerte. Melissa stand stocksteif da und traute ihren Augen nicht. „Die....Kristallkugel.....geh.....Kristallkugel...berühr sie....“ Die Stimme ihrer Großmutter klang wie ein heiseres Krächzen, so als ob sie seit Jahren nicht mehr gesprochen hätte, doch Melissa erkannte sie sofort. Hastig wandte sie sich um. Ihr Blick suchte die Kristallkugel und sie entdeckte diese auch sofort. Mit einem Mal huschten Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei, Meringon, der die Kugel berührte und verschwand, nur um wenige Minuten später wieder in Begleitung eines Mädchens mit dunkelblondem Haar und einer schwarzen Cordjacke aufzutauchen. Melissa rang nach Luft. Sie sah sich selbst dort stehen. Das war es. Der Kristall. Er war ein Portal. Er würde sie hier heraus bringen. Fast ohne ihr zutun begannen sich ihre Beine zu bewegen und sie stürmte auf die Kugel zu. Ein wütender Schrei erklang hinter ihr. „Neeeeeeeeein, fasst sie. Sie darf die Kugel nicht berühren.“ Ein Schatten tauchte urplötzlich neben ihr auf und eine lederartige Klaue versuchte sie zu packen. Melissa tauchte in letzter Sekunde unter ihr weg und rannte weiter. Die Kristallkugel war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie streckte die Hand aus und wurde mit einem Ruck zurückgerissen. Der Fyrem hielt ihren Knöchel umklammert. Seine Schnauze schien sich zu einem triumphierenden Lächeln verzogen zu haben. Melissa trat verzweifelt nach seinem Kopf. Ein schrilles Kreischen und ein dumpfer Schlag sagten ihr, dass sie getroffen hatte. Sie rappelte sich auf, doch bevor sie mit beiden Händen die Kugel umfassen konnte, griff die Hand ihres Großvaters nach ihr. Melissa schrie vor Enttäuschung auf und versuchte aus seiner Umklammerung zu entkommen, doch er stand unerbittlich neben ihr. Plötzlich wurde Meringon zurückgerissen, taumelte und fiel zu Boden. Fassungslos starrte er, wie auch Melissa, seine Frau an, die sich über ihm aufgebaut hatte. Sie zitterte stark und der Ausdruck in ihren Augen spiegelte pure Qual wieder. „Du wirst sie nicht bekommen. Niemals.“ Mit diesen Worten wandte sie sich um und versetzte Melissa einen unsanften Stoß, der sie rückwärts stolpern ließ. Melissa fiel und griff mit einer Hand ins Leere. Die andere berührte im Sturz die wabernde Oberfläche der silbrigen Kugel. Melissa spürte einen sanften Ruck und ein kühles Gefühl von herablaufendem Wasser auf ihrer Haut, dann wurde sie in einen nebligen Strudel hinabgesogen und der Saal mit ihren Großeltern verschwand in einem Gewirbel aus grauen Wolken.


6.Kapitel
Das Ende einer Reise

Melissa hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte den weißen Wolken hinterher, die über den blassblauen Himmel dahinkrochen. Sie lag im Gras am Ufer des kleinen Baches, hinter dem marmornen Tempel der Goranah. Der Schock über das Gehörte saß immer noch tief. Diese grässlichen Wesen sollten in Wirklichkeit Menschen sein? Es war einfach absurd überhaupt diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen und doch konnte das, was die Narsani ihr erzählt hatte, nicht falsch gewesen sein. Arinathiel hatte die Wahrheit gesagt, der Ausdruck in ihren Augen machte eine Lüge unmöglich. Melissas Hand riss unbewusst einen Büschel Grashalme heraus. Wenn sie nun das Tor ebenfalls nicht schloss, wurde sie dann auch zu solch einem Dämon? Ihr Blick glitt über die ruhige Oberfläche des glasklaren Wassers, blieb an einer Libelle mit goldenen Flügeln hängen und wanderte dann weiter, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Sie musste erfahren, warum diese dämonischen Kreaturen das geworden waren, was sie waren. Warum hatten sich die Erben, die vor ihr in diese Welt gekommen waren, in diese Wesen verwandelt?
Sie hatte vergessen Arinathiel danach zu fragen. Sie war zu schockiert gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen und hatte diese Frage völlig übergangen. Melissa stand auf, klopfte sich die Grashalme von der Hose und lief zielstrebig auf das Eingangsportal der Bibliothek zu, in welcher Durwethian und Arinathiel verschwunden waren. Als sie der zwei Wachen vor der Tür gewahrte, wurde ihr Schritt zögerlicher. Die Narsanah musterten sie ohne eine Regung. Sie sahen nach vorn, ähnelten zwei Statuen aus Stein. Einer der Beiden nickte schließlich und trat einen Schritt zur Seite. Seine silberne Rüstung schepperte leise und das Schwert an seiner Hüfte verursachte einen hallenden, metallenen Laut auf dem Eisen, als es dagegen schlug. Melissa lächelte unsicher und schlüpfte zwischen den Wachen hindurch. Ihre Hand griff nach der Türklinke. Mitten in der Bewegung stockte sie und wandte sich um. Ihre Augen blieben am Schwert der Wache haften. Sie runzelte die Stirn. Auch die andere Wache hatte die linke Hand auf dem Schwertgriff ruhen. Seit wann trugen die Narsanah Waffen? War es ihr beim ersten Besuch möglicherweise nicht aufgefallen? Melissa versuchte sich zu erinnern, doch es war ihr nicht möglich mit Gewissheit zu sagen, wie es gewesen war. Einer der Narsanan drehte den Kopf zu ihr und sah sie fragend an. Melissa wurde rot und beeilte sich durch die Tür zu treten. Der Narsanan hob eine Augenbraue, schüttelte leicht den Kopf. Dann wandte er sich wieder um.
Melissa schloss die Tür leise hinter sich. Die Bibliothek war hell erleuchtet. Trotz des strahlenden Sonnenscheines, der durch die hohen Fenster hereinfiel, brannten Kerzen und magische Feuer, deren bläulicher Nebel an die Decke der Bibliothek hinaufstieg, um dort verschlungene Muster zu bilden. Langsam ging Melissa über den hellblauen Teppich an den Bücherreihen entlang. Es war niemand zu sehen, doch vom Ende des Raumes waren Stimmen zu vernehmen. Eine davon glaubte Melissa als die von Durwethian zu erkennen. Auch Arinathiels Stimme erklang ab und zu. Die anderen Stimmen waren ihr unbekannt. Aber es schien eine heftige Diskussion geführt zu werden. Melissa steuerte auf die Gruppe zu. Durwethian war der Erste, der sie bemerkte. Er nickte ihr knapp zu und konzentrierte sich dann wieder auf sein Gegenüber, einen kleinen, schwarzhaarigen Mann, dessen wallendes Haar bis zu seinen Zehenspitzen reichte. Zwei Zöpfe waren hineingeflochten, deren Enden mit grünen Bändern umwoben waren. Er gestikulierte gerade wild und sprach in einer völlig unverständlichen Sprache zu den Umstehenden, die alle außer Melissa zu verstehen schienen. Seine drei Begleiter, deren Erscheinung nicht weniger wild wirkte, nickten bestätigend und gaben durch Gebrumme ihre Zustimmung. Melissa ließ ihren Blick weiter wandern. Zwei weitere Narsanah standen neben Arinathiel. Sie waren in die gleichen Roben gekleidet wie Durwethian, aber dennoch unterschieden sich ihre Gesichtszüge von den ihr bekannten. Das lange Haar Durwethians war silbergrau. Diese beiden Narsanah jedoch hatten dunkles, gewelltes Haar. Gerade, als sich Melissa bemerkbar machen wollte, ertönte aus der Richtung, aus der sie gekommen war, lautes Geschrei. Die Tür flog auf und eine der beiden Wachen stürmte in den Raum. „Eindringlinge, wir werden angegriffen!“ Die Stimme des Narsanan hallte von den Wänden wieder. Melissa stand stocksteif da, ohne etwas tun zu können. Angegriffen? Was sollte das heißen. Wer sollte ohne Erlaubnis das Tor passiert haben. Das war doch überhaupt nicht möglich. Sie sah fragend zu Durwethian, doch Arinathiel war die einzige, die noch vor ihr stand. Die anderen waren einfach verschwunden. Die Narsani sah sie mit traurigen Augen an. „Komm.“, sagte sie. Ihre Stimme klang anders als sonst, aber Melissa konnte nicht sagen, was sich daran verändert hatte. „Was ist denn los? Was meinte die Wache mit Eindringlingen? Ich dachte, es kann niemand durch das Tor, wenn er nicht in Begleitung eines Narsanah ist.“ Melissa folgte Arinathiel in den hinteren Teil der Bibliothek. Die Narsani verzog das Gesicht, antwortete jedoch nicht. „Arinathiel, was ist denn...“ „Still.“ Arinathiel war stehen geblieben und hatte eine Hand an die Lippen gelegt. Ihre Augen waren geschlossen, sie schien zu lauschen. Ohne Vorwarnung packte sie Melissa mit einem Mal am Arm und riss sie zu Boden. Um sie herum zersplitterten die Glasschalen mit einem hellen Knirschen und die magischen Feuer, die eben noch in ihnen gelodert hatten, verloschen. Melissa versuchte aufzustehen, wurde aber von Arinathiel wieder zu Boden gedrückt. „Noch nicht“, wisperte sie, „Hier ist jemand.“ Melissa duckte sich tiefer auf den Boden. Das dumpfe Geräusch von herabfallenden Büchern und Seiten, die herausgerissen wurden, drang an ihr Ohr. Arinathiel spannte sich unwillkürlich. Ihre Hand, die immer noch Melissas Arm umschloss, drückte heftiger zu. Melissa zuckte zusammen, als es zu schmerzen begann. Die Narsani erhob sich langsam. Ihre Hände begannen Kreise in der Luft zu formen. Von draußen drang der Klang von Hörnern in die Bibliothek. Langanhaltende Töne, die sich anhörten, wie der Ruf eines Hirsches. Melissa stand ebenfalls auf und trat einen Schritt hinter die Narsani zurück. Sie verstand immer noch nicht, was wirklich vorging, aber irgendwie hatte es jemand geschafft durch das Portal zu gelangen, welches das Land der Narsanah von der anderen Welt abschnitt. Ein leises Zischeln nicht weit von ihnen entfernt, ließ Melissa einen eisigen Schauer über den Rücken rieseln. Sie kannte dieses Geräusch, sie kannte es nur zu gut. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ein geflügelter Dämon auf, dessen verzerrte Fratze sie aus grauem Nebel heimtückisch anstarrte. „Arinathiel“, flüsterte sie leise. „Wie kommt dieses Ungeheuer in euer Land?“ Die Narsani wandte ihr das Gesicht zu. Melissa konnte Entsetzen, Unglauben und eine aufsteigende Wut in ihren Augen erkennen. Sie lächelte gequält. „Er wird uns aufgespürt haben.“, sagte sie langsam, „Du vergisst, dass Meringon in der Lage ist, Magie zu wirken. Nur ich hatte gehofft, dass es nicht dazu kommen würde.“ Sie seufzte leise und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bücherregal vor ihr zu, von dem nun die Geräusche ausgingen. Eine krallenbesetzte Klaue tauchte als erstes vor dem Holz auf. Immer weiter schob sich die lederartige Haut hervor, bis schließlich der Sleyrinel vor ihnen stand.
Er hob seine Mundwinkel, wie zu einem triumphierenden Lächeln an und entblößte dabei seine spitzen Zähne. Melissa wich einen Schritt zurück, auch Arinathiel schien unschlüssig, blieb dann aber mit hocherhobenem Kopf stehen und funkelte den Sleyrinel an. „Wie kannst du Dämon es wagen, diese Hallen zu betreten? Diese Welt gehört euch nicht.“ Ihre Stimme bebte vor Zorn. Der Sleyrinel zischelte leise. Es hörte sich wie ein abfälliges Lachen an. „Weihl ihrr euz nizt längerrr verztekken werdtet. Mein Härr wünzt eurre Verrniztunk, zzz, kleine Narchzzani unt därr Zeitpunckt izt nuhn geckommen. Auzerdem...“ Er machte eine Pause. Sein Blick richtete sich auf Melissa, „ hapt ihrr etwaz, daz unz gehörrt. Zie wirt eurer zzZeitaltter beenden unt unzeren Brüterrn daz Torr zu diezerr neuen Wält öffnen zzz....unt Izzz werte entlichzzz wieterzz Menzzz“ Seine schwarzen Flügel schlossen sich knirschend und er schnellte ohne Vorwarnung auf die beiden zu. Im letzten Augenblick konnte Melissa beiseite springen. Im Sturz prallte sie auf eine große Vase, die unter ihr nachgab und in Tausende von Splittern zerbrach. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre Hände, mit denen sie den Sturz abgefangen hatte. Glasscherben hatten sich in sie hineingebohrt und hinterließen kleine Blutrinnsale, die zu Boden tropften. „Melissa, hierher, schnell.“ Arinathiels Stimme klang gehetzt. Melissa rappelte sich auf. Die Narsani stand nicht weit von ihr entfernt, ein Katzensprung, hätte nicht zwischen ihnen der Sleyrinel mit gespreizten Flügeln gehockt. Melissa sah sich nach einer anderen Möglichkeit um, zu ihr zu gelangen. Der Sleyrinel schien damit beschäftigt zu sein, die Lichtzauber der Narsani abzuwehren, welche diese zu ihrer Verteidigung sprach. Langsam, möglichst ohne Lärm zu verursachen, schlich Melissa um den Sleyrinel herum. Sie schaffte es. Schnell schlüpfte sie hinter ein Bücherregal und tauchte neben Arinathiel wieder auf. Die Narsani schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben. Aus ihren Fingerspitzen tauchte grüner Rauch auf und begann den Sleyrinel in einer dunklen Wolke zu umwirbeln. Als dieser markerschütternd zu Brüllen begann, drehte sich Arinathiel mit einem Ruck herum und rannte los. Wieder riss sie Melissa einfach mit sich, stieß eine Holztür vor ihnen auf und hastete hindurch, Melissa immer mit sich ziehend.
Ihre Flucht führte sie aus der Bibliothek hinaus, durch einen Hintereingang in den Garten, an dessen anderem Ende sich der Tempel der Goranah emporhob. Geschrei, der hallende Laut, aufeinandertreffender Klingen und die schrillen Schreie weiterer Dämonen wurde vom Wind zu ihnen herüber getragen. Arinathiel sank auf die Knie. Ihr Atem ging stoßweise. Sie blutete auf mehreren Schnitten an Armen und Oberkörper, die ihr der Sleyrinel mit seinen Klauen zugefügt hatte. Bei genauerem Hinsehen erkannte Melissa, dass sie sich langsam zu schließen begannen, doch sie verschwendete daran keinen Gedanken. „Wir müssen weiter. Du bist bei mir nicht sicher.“, sagte Arinathiel mit zitternder Stimme und stand auf. Vorsichtig gingen sie durch den Garten, verborgen von Pflanzen und Bäumen. Als sie auf die Ebene hinaustraten, von der alle Gebäude zu erreichen waren, blieb Melissa wie erstarrt stehen. Überall flogen schwarze Kreaturen herum. Dazwischen standen die Narsanah in ihren weißen Gewändern, gut sichtbar und versuchten sich gegen die Angreifer zu wehren.
Neben ihnen schepperte es laut. Melissa schrie auf und sprang zur Seite, auch Arinathiel zuckte zusammen. Beide wandten den Kopf in die Richtung, aus welcher der Lärm gekommen war. Ihnen bot sich ein bizarres Bild. Die zwei Statuen der Goranah schienen zum Leben erwacht zu sein. Erst schwerfällig, dann immer gleichmäßiger strebten sie dem Schlachtfeld entgegen, bis sie sich von den anderen Narsanah nur noch in ihrem Aussehen und ihrer Kampfweise unterschieden. Wie Racheengel stürzten sie auf die geflügelten Dämonen. Ihre Schwerter surrten wie silberne Lichtblitze durch die Luft. „Komm.“ Arinathiels Stimme riss sie aus ihrer Starre. Melissa nickte und zwang sich wegzusehen. Die Narsani wandte sich ab. „Ich denke, dass sie doch besser bei mir aufgehoben ist, nicht wahr?“, erklang eine dunkle Stimme hinter ihnen. Melissa blieb stehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Willst du mich nicht willkommen heißen, meine Enkelin?“ Melissa schloss die Augen. Ihre verkrampften Hände begannen zu zittern. „Warum bist du hier?“ Ihre Stimme klang weit weg. „Warum ich hier bin? Melissa, langsam solltest du deinen Wert erkannt haben.“ Die Stimme ihres Großvaters klang belustigt. Melissa drehte sich zu ihm um. Arinathiel trat demonstrativ neben sie, was Meringon zu einem amüsierten Lächeln veranlasste. „Kleine Narsani, selbst du solltest langsam wissen, dass sich das Schicksal nicht abwenden lässt. Wie oft hast du versucht, meinen Willen zu verhindern. Sieh dich um. Die vergangenen Erben kämpfen für mich und auch diese Letzte wird auf meine Seite wechseln, sehr bald sogar.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Ihr habt diese Welt lange genug für euch gehabt. Nun ist es an der Zeit, dass auch wir in ihr leben dürfen und zwar ohne eure Herrschaft.“ Melissa wich zurück. Die Augen ihres Großvaters veränderten sich. Sie begannen in einem stechenden Orange zu leuchten. Die Iris hatte sich wie bei einer Katze zu einer Sichel geformt. Auch Arinathiel schrie erstickt auf und stolperte zurück. „DU, du bist es die ganze Zeit gewesen? Du hast ihn gelenkt,...Pharisell...“ Ihre Stimme brach ab. Sie schien zu geschockt zu sein, um auch nur ein weiteres Wort über die Lippen zu bringen. „Was hast du törichtes Kind denn geglaubt? Das ich tatenlos zusehe, wie ihr und mein Bruder unsereins aus dieser Welt vertreibt, um sie für euch zu haben? Das ich euren schmählichen Verrat einfach so hinnehme? Diese Welt gehört uns ebenso, wie euch. Ich habe nur mein Recht geltend gemacht und dieser Körper war dazu geeignet.“ Melissa sah verständnislos von Arinathiel zu Meringon (Pharisell?). Von wem sprach Arinathiel da. Wer war Pharisell? „Ich glaube dies ist nicht der geeignete Ort, um unseren Zwist auszutragen, Bruder. Meinst du nicht auch?“ Melissa und die Narsani fuhren gleichzeitig herum. Fassungslos sahen sie Durwethian an, der mit einem Mal hinter ihnen stand. Arinathiel machte einen Schritt auf ihren Vater zu, blieb dann stehen und starrte seine Erscheinung ungläubig an. „Vater?“, fragte sie leise. „Nein, mein Kind“, antwortete der Narsanan. „Du weißt wer ich bin. Hab keine Furcht,“, fügte er schnell hinzu, als die Narsani zurückweichen wollte, „dein Vater hat mich hierher gebeten, um schlimmeres zu verhindern. Er hat mir seinen Körper geliehen. Ihm wird nichts geschehen.“ Der Blick seiner jadegrünen Augen, richtete sich auf seinen Bruder. Fast mitleidig betrachtete er ihn. „Glaubst du wirklich, du könntest auf diese Weise dein Ziel erreichen?“ Pharisell schrie wütend auf. Eine blaue Flamme züngelte aus seinen Händen auf seinen Bruder zu. „Ich werde dich töten, Arismael.“ Seine Stimme hatte einen fast hysterischen Klang angenommen.
Arismael hob abwehrend die Hände. Seine Augen glänzten traurig. „Du willst es nicht begreifen oder Pharisell?“, fragte er leise. An seinen Fingerspitzen glommen silberne Funken und stoben wie Sternschnuppen auf die blauen Flammen zu. Melissa hob abwehrend die Hände, als die Energien aufeinander prallten und in einem grellen Blitz auseinander barsten. Etwas bläulich schimmerndes schoss direkt auf sie zu. Melissa konnte nur hilflos zusehen, wie eine Kugel aus Flammen auf sie zustürmte, sie erfasste und zurückschleuderte. Sie spürte keinen Schmerz, nur ein seltsames Kribbeln, dass sich von ihren Zehen in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Dann wurde es schwarz um sie.

Melissa öffnete die Augen. Es war dunkel. Nur langsam nahmen die Umrisse um sie herum schärfere Konturen an. Ihr war schwindelig und in ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz. Vorsichtig setzte sie sich auf. Ein Luftzug streifte ihren Nacken. Melissa wandte den Kopf. Vor ihr schwebte ein verzerrter Körper. Entsetzt krabbelte sie zurück. Der Geist sah sie mit seinen stumpfen Pupillen an und schwebte weiter. Melissa schaute ihm erschrocken nach, wie er hinter knorrigen, ausgedörrten Bäumen verschwand. Melissa runzelte die Stirn. Sie ließ ihren Blick schweifen. Das, was sie sah, verschreckte sie nicht weniger. Sie befand sich nicht mehr im Land der Narsanah. Alles um sie herum war verwelkt und tot. Wenige Pflanzen standen zwischen grauen Steinen, ließen die Köpfe hängen. Es war still. Keine Lebewesen, welche die trostlose Stille auflockerten, einfach nichts, nur ein Meer aus tristen Farben. Schwankend erhob sich Melissa. Sie drehte sich im Kreis – überall dasselbe Bild, wohin sie auch sah. In der Ferne tauchte eine Gestalt auf, nur ein Schatten, aber dennoch erkennbar. Melissa ging instinktiv auf sie zu. Vielleicht konnte ihr dieser Jemand sagen, wo sie sich befand. Je näher sie kam, desto stockender wurden ihre Schritte. Es war eindeutig ein Geist, der auf sie zu kam, kein Wesen aus Fleisch und Blut. Er besaß zwei riesige Schwingen, die aus seinem Rücken ragten. Das lange Haare und die weite Robe wogten auf und ab, obwohl kein Wind zu fühlen war. Die orangefarbenen Augen, in denen die Iris zu einer Sichel verformt war, ließen sie mitten im Schritt anhalten. Pharisell blieb wenige Schritte vor ihr stehen und musterte sie stumm. Seine Augen waren ausdruckslos. Er sah sie einfach nur an. Melissa erwiderte den Blick. „Gefällt dir, was du siehst, Melissa?“ Pharisells Stimme durchbrach hallend die Stille. „Dies“, fuhr er fort, als Melissa ihm nicht antwortete, „ist die Welt, in der meine Brüder und ich zum Leben verdammt sind. Sieh dich gut um. Hier müssen wir leben, wenn du das Tor schließt. Willst du das?“ Er zwang sie, ihn anzusehen. „Willst du das?“, fragte er sie noch einmal, etwas schärfer. Melissa versuchte seinem stechenden Blick auszuweichen. Wollte sie, dass diese Wesen hier gefangen waren? Natürlich wollte sie es. Sie waren grausam und entstellt. Pharisell schnaubte. „Das ist typisch an euch Menschen. Alles, was anders ist, wird von euch verurteilt, ohne das ihr den wirklichen Hintergrund kennt. Die Narsani hat dir erzählt, was manche der Dämonen wirklich sind, nicht? Und dennoch willst du auch sie verdammen in dieser Einöde zu leben?“ Er lachte leise. „Du weißt nichts vom wirklichen Leben, Melissa. Die Erben vor dir haben erkannt, dass sich mein Bruder im Unrecht befindet. Sie haben sich bereit erklärt mir zu helfen, ebenso wie dein Großvater. Er war der mächtigste von ihnen. Sein Wille war stark. Ich kann ohne Körper nicht in der anderen Welt leben, dein Großvater bat mir an, den seinen zu benutzen, wenn es mir beliebte. Und das habe ich getan.“ Melissa schnaubte leise. „Das bist ein Ungeheuer. Wegen dir ist mein Großvater dieser schreckliche Mensch geworden.“ Pharisell hörte auf zu Lachen und sah sie ernst an. „Nein, Melissa. Das ist die andere Seite seiner Seele. Die zweite Seite, die in jedem Lebewesen vorhanden ist. Ich habe ihm nur die Tür zu diesem Wissen geöffnet, er selbst hat die Schwelle übertreten. Er und die Erben fühlen sich wohl, so wie sie sind. Sie sind freiwillig zu mir gekommen und nun werde ich dafür sorgen, dass sie einen geeigneten Ort zum Leben haben. Nicht dieses trostlose Land, in dem unsere Seelen dahinvegetieren, ohne die Freuden eines süßen Apfels zu schmecken oder den sauren Nachgeschmack eines Weines genießen zu können. Das Land dort draußen, dass du kennst bietet diese Möglichkeiten. Das ist es, nach dem es uns sehnt und das ist es, was ich ihnen schenken will. Wie lange habe ich nicht mehr gespürt, wie sich Wasser auf der Haut anfühlt, oder der zarte Wind, der durch mein Haare weht. Du kannst dir nicht im mindesten vorstellen, wie das Leben hier ist. Wir sind dazu verdammt, als körperlose Hülle umherzustreifen, ohne Gefühle, Melissa. Meinem Bruder haben wir das zu verdanken. Ich fordere nur ein, was uns rechtmäßig zusteht.“ Melissa war nicht fähig eine Antwort zu formulieren. Sie fühlte Unsicherheit in sich aufsteigen. Jeder hatte das Recht auf Leben. Es war nicht richtig, dieses Recht zu verweigern - und was meinte er mit den zwei Seiten einer Seele?
„Ich hätte wissen müssen, dass du es auf diese Weise versuchen würdest, Pharisell. Wie kannst du es wagen, eine Sterbliche in diese tote Welt zu bringen.“ Die wütende Stimme Arismaels riss Melissa aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum. Zuerst glaubte sie, Pharisell gebe es doppelt, doch dann erkannte sie ihren Irrtum. Der Geist vor ihr ähnelte stark dem Pharisells, doch seine Augen leuchteten im dem ihr bereits bekannten jadegrün. Zwei gewaltige, weiße Flügel wuchsen aus seinem Rücken hevor. Arismael schwebte neben sie und legte ihr die durchsichtige Hand auf die Schulter. „Ich werde sie jetzt zurückbringen, Bruder. Sie wirst du nicht beeinflussen, hörst du.“ Pharisel stieß ein abschätziges Fauchen aus. „Beeinflussen?“, schnappte er,
„Ihr seit es doch, die sie die ganze Zeit für euch einnehmt. Ich habe nur das getan, was mir zusteht. Ich habe ihr die andere Seite gezeigt, die Seite, die ihr zu verbergen versucht, weil sie nicht euren Vorstellungen entspricht. Es war doch schon immer so, dass du nicht mit unserer Existenz einverstanden warst. Immer hast du deine Geschöpfe bevorzugt und mich mit Versprechungen hingehalten. Jetzt weiß ich, wie es wirklich in dir aussieht, geliebter Bruder.“ Seine Stimme troff vor Hohn. Arismael schüttelte den Kopf „Pharisell, du weißt nicht, wovon du sprichst.“ ,doch sein Bruder lachte nur. „Ich weiß genau, wovon ich spreche und ich weiß genau, was ich will. Ich werde mir nehmen, was mir zusteht und du wirst mich nicht mehr daran hindern, dafür sorge ich – jetzt und hier.“ Seine Hand griff nach dem Schwert an seiner Hüfte und zog es heraus. Arismael musterte das Schwert einen Moment lang, dann nickte er widerstrebend. „Pharisell, du bist mein Bruder, aber es kann so nicht weitergehen - Gut, es soll geschehen. Wir werden entscheiden.“
Melissa stolperte erschrocken zurück, als Pharisell plötzlich mit hocherhobenem Schwert an ihr vorbei auf seinen Bruder zuflog. Funken stoben. Die beiden Brüder prallten aufeinander. In der tristen Ebene leuchteten die blaue und silberne Klinge wie zwei Sterne. Melissa stand wie gelähmt da. Eine Stimme in ihrem Kopf meldete sich und flüsterte ihr zu, dass dieser Kampf sinnlos war. Genau wie es nicht richtig war, dass nur einer der zwei Brüder mit seinen Geschwistern in der Welt leben durfte. Aufmerksam folgte sie dem heftigen Kampf zwischen Pharisell und Arismael. Beide bluteten aus vielen Stichwunden und Schnitten. Ein rötlicher Nebel, der aus ihren Körpern wich. Melissa bemerkte abermals die Ähnlichkeit zwischen den Beiden und mit einem Mal erkannte sie, dass Arismael und Pharisell Zwillinge waren. Eine Seele, geteilt in zwei Körper, dachte sie. Dieser Gedanke erschreckte und erstaunte sie zugleich. Aber sie erkannte ebenso, dass dies die Antwort war, nach der sie gesucht hatte. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Zwei Seiten einer Seele. Zwei Seiten, die zusammengehörten. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Sie musste beide Seiten wieder vereinen. Einzeln würden sie nie friedlich leben können. Als ob dieser Gedanke entscheidend gewesen wäre, begann der graue Himmel über ihr zu splittern. Feine Risse durchzogen ihn wie ein Spinnennetz, wurden größer. Die Zeit schien stillzustehen. Sie beobachtete Arismael und Pharisell wie durch einen milchigen Schleier hindurch. Sie stürmten aufeinander zu, ein letztes Mal. Die beiden Schwerter fanden gleichzeitig ihr Ziel. Melissa erkannte die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Zwillinge. Sie schienen erst jetzt zu merken, dass Melissa keinem von ihnen helfen würde. Melissa sah stumm zurück. Sie spürte keine Trauer in sich. Nur so war es richtig. Sie war die Erbin und hatte die Entscheidung getroffen. Nur zusammen sollten sie existieren, als eine Seele mit zwei Seiten, in einem Körper. Melissa schloss die Augen. Als sie diese wieder öffnete, befand sie sich wieder am Tempel der Goranah.

Arinathiel stand direkt vor ihr und betrachtete sie wortlos. Schließlich brach sie das Schweigen. „Du hast dich also entschieden?“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, aber Melissa nickte trotzdem. Die Narsani musterte sie stumm und wandte sich dann ab. Melissa wollte ihr gerade folgen, um zu fragen, was sie habe, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. „Lass sie, sie ist noch jung. Sie wird Zeit brauchen, um zu verstehen.“ Durwethians Stimme drang an ihr Ohr. Melissa drehte den Kopf zu ihm. „Verstehen, was verstehen? Ist sie wütend auf mich? Habe ich die falsche Entscheidung getroffen?“ Durwethian lächelte sie freundlich an und sah seiner Tochter nach. „Nein, eine falsche Entscheidung gibt es nicht, Melissa.“
„...also seid ihr auch wütend auf mich?“, fragte Melissa tonlos. Der Narsanan hob eine Augenbraue. „Wütend? Aus welchem Grund? Das wir diese Welt weiterhin teilen müssen?“. Er schüttelte den Kopf. „Du bist die letzte Erbin. Es war allein deine Entscheidung.“ In seiner Stimme schwang kein Vorwurf mit, dennoch fühlte sich Melissa noch schlechter. „Du hast als einzige von uns die Wahrheit gesehen, Melissa. Wir haben uns blenden lassen. Dabei hätten gerade wir erkennen müssen, dass zwei Seiten einer Seele in einem Lebewesen existieren und nicht getrennt leben können. Selbst die Zwillinge haben bis zum Schluss nicht verstanden, dass sie eigentlich eins sind.“
Melissa nickte nur. Als sie auf der Ebene gestanden hatte, war ihr ihr Handeln richtig erschienen. Doch nun war sie sich nicht mehr sicher. Es stimmte sie traurig, dass Arinathiel sich von ihr zurückzog.
Melissa seufzte. „Was geschieht nun?“, fragte sie leise und sah Durwethian an. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Nun, kleine Melissa, wirst du uns verlassen müssen.“ Seine Worte ließen sie zusammenzucken. „Gehen?....Ich soll schon gehen?“, sprudelte es aus ihr hervor, „aber warum? Kann ich nicht noch bleiben? Ich habe so viele Fragen.“ Sie las die Antwort ihrer Frage in den Augen des Narsanan und wandte den Blick ab, damit er ihre Enttäuschung nicht sah. „Sehe ich euch denn wieder?“, murmelte sie leise. „Darf ich euch besuchen?“ Bei den letzten Worten blickte sie wieder auf. „Jeder kehrt dorthin zurück, wohin er gehört.“, erwiderte Durwethian milde. „...und was ist mit meinen Verwandten und meinem Großvater?“, versuchte es Melissa noch einmal. „Auch sie kehren an den für sie vorbestimmten Ort zurück. Ihre Seelen werden die wohlverdiente Ruhe finden, die ihnen seit Jahren zusteht. Mach dir darüber keine Sorgen. Dein Weg ist noch lange nicht zu Ende. Komm nun. Es wird Zeit zu gehen.“ Noch bevor Melissa eine weitere Frage stellen konnte, um ihre Abreise hinaus zu zögern, begannen Durwethians Hände in der Luft Muster zu zeichnen, wie Melissa es bereits kannte. Sie nahm den weißen Schleier, der um sie herum zu wirbeln begann, nur am Rande wahr. Ihre Gefühle waren in Aufruhr. Einerseits war sie erleichtert, dass alles vorüber war und sie in ihre Welt zurückkehren konnte, aber auf der anderen Seite verspürte sie tiefe Trauer über den Abschied. Wie gern hätte sie ihren Großvater noch einmal so getroffen, wie er wirklich war und Arinathiel erklärt, was sie zu ihrer Entscheidung bewogen hatte. „Wir sind da.“ Durwethians Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Seine ausgestreckte Hand deutete auf das kleine, von Wurzeln und Ästen verrankte Häusschen. „Firäll wird dich in deine Welt zurückbegleiten. Für ihn ist das nicht so gefährlich, wie für uns. “ Durwethian neigte den Kopf, lächelte ihr ein letztes Mal zu und verblasste. Melissa blieb allein zurück. „Ich also wieder die Arbeit habe, dich zurückzubringen, ja?“, quengelte eine wohlbekannte Stimme neben ihr. Melissa wischte sich eine Träne aus dem Auge und sah zu dem Kobold hinunter. Firäll hatte sich nicht verändert. „Du dann jetzt kommen mit. Firäll hasst lange Abschiede.“ Melissa rang sich zu einem Lächeln durch und folgte dem Kobold. Sie gingen an seinem kleinen Häuschen vorbei, auf den Pfad zu, der sich am See entlang schlängelte. „Von hier, du müssen alleine weitergehen. Du wissen den Weg.“ Firäll blieb stehen und sah sie mit seinen großen Augen abwartend an. „Nun schon geh und mich ja nicht vergessen.“ Er blinzelte. Melissa schluckte. Das ging ihr viel zu schnell. Sie wollte noch etwas bleiben. Firäll schüttelte traurig den Kopf. „Du müssen jetzt wirklich gehen. Du schon zu lange in dieser Welt, es nicht gut für dich sein.“ Melissa seufzte. Sie nickte und wandte sich ab. Langsam ging sie den sandigen Weg hinauf, am Ufer des Sees vorbei. Sie drehte sich noch einmal um, um zu winken, doch der Kobold und das kleine Häuschen am Wald waren verschwunden. Melissa sah noch lange auf die Stelle, an welcher Firäll gestanden hatte. Das also war ihre Aufgabe gewesen? Irgendwie hatte sie sich das Ganze anders vorgestellt. Das ferne Läuten des Kirchenturms wehte zu ihr herüber. Verwirrt schaute sie auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie wieder funktionierte. Es war halb acht. Keine Zeit war vergangen, obwohl sie so viel erlebt hatte. War vielleicht doch alles nur ein Traum gewesen? Nachdenklich schlenderte sie zum Ausgang des Parks. Kurz bevor sie ihn verließ, hatte sie das seltsame Gefühl beobachtet zu werden und blickte zurück. Als sie Firäll am Ufer des Sees stehen sah, der ihr heftig zuwinkte, war sie sich entgültig sicher, dass das alles kein Traum gewesen war. Sie hob die Hand und erwiderte den Gruß. Dann wandte sie endgültig um und ging Richtung Bushaltestelle davon.

 

Hallo Kami und herzlich willkommen bei Kurzgeschichten.de.

Ich möchte dir dringend raten, deine Geschichte zu Fantasy/Märchen verschieben zu lassen. Denn das ist eindeutig die Rubrik in die sie gehört und wo du auch auf Leser triffst, die Freude an solchen Stoffen haben.

Dass ich nicht bis zum Schluss gelesen habe, liegt einzig daran, das ich diese Art von Geschichten nicht mag, ist also kein Qualitätsurteil.
Dass ich sie, obwohl ich diese Art von den Geschichten n icht mag, so weit gelesen habe, ist viel eher ein Qualitätsurteil. ;)

Was mir in den ersten beiden Kapiteln aufgefallen ist, habe ich nortiert, um den Rest wird man sich in Fantasy/Märchen gerne kümmern.

Lieben Gruß, sim

Auch dieses Mal war es, als halte es sie mit seinen glühenden Augen gefangen.
als hielte
Ein winziger Kratzer lief von der rechten Seite der Stirn hinab zum Ohr. Sie legte die Bürste beiseite. Verwirrt tastete sie an die Stelle und betrachtete den Tropfen Blut, der an ihrem Zeigefinger zu sehen war.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich gestoßen hatte. Nachdenklich musterte sie den Schnitt und fragte sich, woher sie ihn haben konnte.
schön, wenn du dich nciht wiederholen willst, Kratzer, Stoß und Schnitt sind allerdings so unterschiedliche Verletzungsformen, dass du dich vielleicht doch für eine entscheiden solltest. ;)
vielleicht auch nicht übermäßig ansehend durch diese übergroßen Ohren,
ansehnlich
[
Melissa betrachtete ihn zum ersten Mal ihrer Ankunft genauer.
Mal seit ihrer
nur dass die Proportionen nicht so ganz zusammenzupassen schien.
schienen (da Proportionen im Plural)
Die knollige Nase war überzogen von Schuppen, die den gesamten Körper überzogen.
Sie schimmerten grünlich, je nachdem, wie das Licht darauf viel.
darauf fiel
Die gelben Augen leuchteten, wie Sonnenblumen, die von der Sonne erhellt wurden.
um der Doppelung von sonne zu umgehen. Das Bild reicht so auch aus.

Zweites Kapitel

Die Greisin hob den Blick und sah ihn an. Ihr trüben Augen sahen durch ihn hindurch.
Du hast sie zuvor als blind beschrieben.
Er hatte ihr so viele Fragen gestellt, wie sie gefragt hatte.
Eleganter vielleicht: ... Fragen gestellt wie sie ihm.
Sie wirkte mit einem Mal sehr wachsam.
nur weil du es hier gerade wieder verwendest. Die Redewendung "mit einem Mal" hast du überproportional häufig verwendet.
Ihre Führerin hob die Hand und bedeutete sie stehen zu bleiben.
mE bedeutete ihnen, stehen zu bleiben.
Mary runzelte fragend die Stirn.“ Was ist passiert?“
wer ist auf einmal Mary?
Die Sonne hatte sich bereits lange Schlafen gelegt
schlafen (klein)
Beim Wieder aufrichten stolperte er fast über seine großen Ohren, die ihm bei der Verbeugung über den Kopf gefallen waren.
Den Satz finde ich unglücklich. Vorschlag: Als er sich wieder aufrichtete, ...
Seine Augen waren von einem strahlenden blau
Blau (groß, du verwendest es als Substantiv)
Sein langes silbernes Haar folgte diese Bewegung.
dieser
Die Augen des Sleyrinels glitzerten triumphierend, als die drei Gestalten im steinernen Tor verschwanden.
Wo kommt der auf einmal her? habe ich was verpasst?

 

Hallo, vielen Dank für die Antwort.

Der Grund, warum ich sie hierher gepostet hatte, war, dass diese Geschichte eher im Bereich der Jugendliteratur angesiedelt ist, in der Beschreibung aber von Geschichten "von Erwachsene für Erwachsene" die Rede ist (hoffe, dass ist nicht zu kleinlich gedacht ;))

Was die Verbesserungen angeht...*autsch* Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich die Rechtschreibfehler und solche Dinge korrigiert hatte...
Allein in deiner Auflistung ist ja über die Hälfte davon betroffen. Ich sollte sie nocheinmal durchlesen.

"Mary" hieß der Hauptcharakter zu Beginn des Schreibens...

 

Hallo Kami,

die Fehlerlisten sehen bei meinen langen Geschichten mindestens genau so aus. So sehr wie man auch selber schaut. Man weiß, was dort stehen soll und liest es entsprechend. Deshalb bin ich auch immer dankbar für solche Listen. :)

Wenn du die Geschcihte verschoben haben möchtest schreibe einfach eine PN an Hendek oder Katzano

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Kami,
da habe ich gerade deine andere Geschichte kritisiert und wusste gar nicht, dass diese hier, die ich auch schon gelesen habe, von dir ist. So kanns gehen :)
Diese Geschichte finde ich sprachlich stellenweise sehr gelungen, stellenweise aber auch sehr holprig. Teilweise bist du sehr schön in der Innensicht der Protagonistin, teilweise beschreibst du nur.
Den Anfang fand ich gut. Das Mädchen, mit ihren alltäglichen Problemen, schliddert aus Versehen in eine Fantasy-Welt, wo sie einen kleinen grünen Kobold trifft, der mit Meinesgleichen quasi verwandt ist. Den fand ich dafür etwas übertrieben dargestellt. Er ist mir zu sprunghaft, vielleicht reduzierst du da ein bisschen. Den Sprachfehler, den er hat, finde ich ebenfalls ein bisschen zu klischeehaft. Ali reden gebrochenes Deutsch. Ich fände es schöner, wenn er normale Sprache kann und nur mit ein paar bestimmten Grundregeln Schwierigkeiten hat, das fände ich viel logischer als ein kleines Viech, das einfach nur die Wörter durcheinanderwirbelt (Yoda tut das angeblich absichtlich, damit die Leute ihm besser zu hören. Kann bei deinem Kobold aber nicht der Fall sein, oder?).
Dann das Auftauchen der schwarzen Gestalt, das fand ich zu undramatisch. Ein bisschen Verfolgungsjagd durch den Wald, dann ist der Engel da und das Viech plötzlich weg. Ich schreibe diese Kritik mit einem Abstand von einem oder zwei Tagen, du siehst also, welche Teile mir im Gedächtnis geblieben sind und wie sie es tun. Dass dieses Viech gefährlich ist, will mir nicht so recht einleuchten. Deine Protagonistin macht sich einfach nur vom Acker.
Dann ist da die Elfenstadt, die relativ klischeehaft ist. Lange, wehende Haare, verschiedene Menschentypen, die mit spitzen Ohren durch die Gegend wuseln und unverständliche Dinge tun, und mittendrin das Menschenmädchen, das sich die ganze Zeit wundert und keine Fragen stellt. An dieser Stelle verschenkst du viel Potential, weil du durch wenige Szenen (du neigst dazu, die Informationen in endlosen Frage-Antwort-Spielchen zu verpacken) zeigen kannst, wie die Bewohner dieser Welt so drauf sind.
Dann wird das Mädel von ihrem Großvater geklaut, fühlt sich aus irgendeinem Grund von der Dunkelheit angezogen, widersteht aber tugendhaft und letztlich relativ grundlos. Die ganze Beziehung zwischen ihr und ihrer Großmutter, ihre Reaktion auf das Auftauchen eines Großvaters, den sie nie gehabt hat, ist mir nicht ausgearbeitet genug. Hier könntest du zum Beispiel einfügen, wie ihre Großmutter ihr früher immer Märchen von der Welt erzählt hat, in der sie sich jetzt befindet.
Dann kommen etwas planlose Weglaufspielchen und jede Menge Viecher, die einmal Menschen gewesen sind und die "Erben" von jemandem, der sich im Nachhinein als böser Geist herausstellt, der den Großvater besessen hat. An dieser Information fehlt diese Stelle dagegen völlig, was die Geschichte ziemlich verwirrend macht. Dass das Mädel die Erbin seines Großvaters ist, leuchtet mir ein, aber dass dann plötzlich noch irgendwelche anderen Erben auftauchen und grundlos zu Gestalten mutieren, die grundlos böse sind, tut es nicht.
Dann der finale Kampf. Das Wesen im Großvater outet sich und zeigt dem Mädchen die Welt, in der es zu leben verdammt ist. Die anderen Erben, die sich angeblich "richtig" entschieden haben, leben da auch, und eine Menge Kreaturen der Finsternis. Die wollen angeblich im grünen Land leben und leckere Erdbeeren essen. Da, wo der Großvater wohnt, sieht es aber genau so aus. Anstatt sich zu wundern, schwankt das Mädchen hin und her, bis schließlich der Engel auftaucht und sie vom Gegenteil zu überzeugen versucht - das kommt auch etwas abrupt. Erst ist der Typ der Ober-Elf, dann ist er plötzlich ein Lichtwesen im Körper des Ober-Elfen, das auch noch der Zwillingsbruder des Großvaterbesetzers ist. Am Ende entscheidet sich das Mädchen relativ unbegründet dafür, dass die Leute ihren Scheiß allein machen sollen und kehrt zur Erde zurück.
Ich hoffe, du nimmst mir die Kurzzusammenfassung deines Textes nicht übel. Ich glaube, dass ich dir als Autor damit am meisten helfen kann, wenn du siehst, was nach einem vollen, anstrengenden Tag von der Geschichte hängen geblieben ist. Da siehst du nämlich auch, wo an dem Text du noch feilen musst - und das ist da, wo ich im Nachhinein Widersprüche festgemacht habe. Der Plot an sich ist zwar etwas konfus, aber durchaus glaubwürdig, wenn du ihn nur richtig präsentierst. Aber noch fehlen an allen Ecken und Enden Verbindungen, die aus dem Fadengewirr des Textes einen einzigen, dichten Strang flechten.

Mir ist aufgefallen, dass du die Protagonistin sich selbst sehr gern rhetorische Fragen stellen lässt, die du mit einem Punkt beendest. Bitte setz da ein Fragezeichen, am besten ist es, du machst den Text auch noch kursiv, damit man erkennt, dass da jemand denkt. Außerdem solltest du dringend mehr Absätze einfügen, zum Beispiel in Gesprächen, jedes Mal, wenn der Sprecher wechselt. Das erhöht die Lesbarkeit des Textes.

Wenn du die Geschichte in die Richtung überarbeitest, die ich dir vorgeschlagen habe, wird sie wahrscheinlich um einiges länger, aber auch um einiges besser und dichter. Ich hoffe, du machst dir die Arbeit.

gruß
vita
:bounce:

 

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