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- 13.04.2003
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Das durchstoßene Herz
Diese langweiligen Tage sind zum Kotzen. Draußen scheint die Sonne wie damals.
»Lass uns spazieren gehen«, schlägt Merle vor, »lass uns die Sonne genießen, die klare Luft und das erwachende Leben des Frühlings.«
Ich schüttle den Kopf. Die Angst ist größer als die Langeweile, die Furcht schlimmer als die Sehnsucht. Egal, wie weh Merles Tränen tun, es ist immer noch besser, als wenn sie gar nicht mehr weinen könnte.
Sie wird, wie immer, alleine gehen. Ich werde durch die Wohnung laufen, bis ich ihre Schritte im Treppenhaus höre. Dann werde ich mich auf das Sofa setzen, die Fernbedienung in der Hand halten und auf die Bilder schauen, die aus dem Fernseher kommen. Wie jedes Mal werde ich tun, als sei nichts geschehen. Dabei ist es gefährlich in der Welt dort draußen. Gerade so sonnige Tage wie heute sind trügerisch. Das Grauen platzt immer mitten in die Unbeschwertheit. Wenn ich je wieder glücklich und angstfrei sein werde, dann wird erneut etwas geschehen, furchtbar und fassungslos werde ich vor den Trümmern stehen und mich anklagen.
»Du musst drüber hinwegkommen.« Merle streichelt mir durch das Haar, beugt sich über mich und zieht mich nah an sich heran. Der Duft von Narzissen haftet an ihr, betört mich. »Du musst drüber hinwegkommen«, wiederholt sie. »So kann es nicht weitergehen.« Ihre Küsse können die Wunden kühlen. Vielleicht könnten sie sie sogar heilen, wenn ich sie in mich hinein lassen würde.
Wie gern würde ich bei diesem Wetter mit ihr schwimmen gehen oder mit ihr durch die Stadt bummeln. Wie gerne bin ich früher bei Sonnenschein auf die Aussichtsterrassen gegangen, um den Flugzeugen beim Start und bei der Landung zuzusehen. Vielleicht sollte ich ihr das vorschlagen. Vielleicht wäre es für mich genau die richtige Therapie.
»Warum verlässt du mich nicht?«
Sonst nimmt sie mich, immer, wenn ich so etwas zu ihr sage, noch fester in den Arm, küsst mich, krallt sich an mir fest, als liebte sie es, wenn ich ihr weh tue und sagt: »Das hättest du wohl gern.«
»Dann wärest du in Sicherheit«, antworte ich dann.
Heute löst sie sich von mir, versucht in meine Augen zu blicken, mich irgendwie zu erreichen. »Was sollte mir bei dir passieren?«
Ich weiche ihrem Blick aus. Sie darf mit mir schlafen, sich abmühen mit meinem impotenten Stück Fleisch, aber in meine Seele blicken darf sie nicht. Dort hinter der Iris lauert bestimmt das Unglück, das ich verbreite. »Frag Anna!«
»Du hast Recht. Ich sollte dich verlassen.« Merle greift meine Hände, hält sie fest, starrt mich unverwandt an, möchte in mich dringen, aber wenn ich durch sie hindurchsehe, mich fortbewege aus meiner Existenz und in meine Kammern schwebe, kann sie mich nicht treffen. Ihre Schultern verspannen sich, ihre Hände pressen sich fester um meine und ich sehe, wie sie sich aufbäumt: »Ich kann Anna nicht mehr fragen!«, schreit sie mich an. »Anna ist tot. Und davon, dass du das Leben verweigerst, wird sie auch nicht wieder lebendig.«
Es sind nicht meine Ohren, die sie trifft. Ich höre die Sätze, ihre Stimme und ihre Verzweiflung, aber ich bin so weit fort, dass es klingt als stritten sich die Nachbarn.
»Ja«, sage ich. »Anna ist tot. Ich habe sie getötet.«
Merle weiß nicht, wohin sie mir folgen soll. Mein Körper steht direkt vor ihr. Aber sie spürt, dass ich nicht da bin. »Hör auf damit!«, brüllt sie. »Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Es war ein Unglück. Eines, das du nicht vorhersehen konntest.« Ich sehe ihre Wörter an meinem Leib hinabfließen, sehe, wie sie sich an eine Hülle klammert, in der Hoffnung, die könnte irgendetwas verstehen.
»Ohne mich wäre sie nie dort gewesen.«
Sie legt den Kopf an meine Brust, weint auf mein Hemd und ich gleite wieder in mich. Jetzt kann ich sie trösten. Darin bin ich gut. Jetzt kann ich die Wunden fortstreicheln, die ich ihr immer wieder zufüge, kann ihren feuchten Atem auf mir spüren, die Hitze ihrer Tränen und kann sie ganz fest halten. Wenn ich das kann, ist die Welt wieder in Ordnung. Andersherum darf es nicht sein.
Dumpf stand die Hitze über der Stadt, die Sonne sandte ihre Strahlen in unsere Herzen und die gute Laune brannte lichterloh. »Lass uns hier bleiben«, bat Anna, »lass uns den Garten genießen und Grillfleisch aus dem Tiefkühlschrank holen.«
»Morgen wird auch die Sonne scheinen, morgen wird ein genauso schöner Tag wie heute sein«, entgegnete ich, zog mir den Lederanzug und Schuhe an. »Der Tag heute wurde für das Motorrad geschaffen.« Ich musste unbedingt aus dem Haus. Kein noch so liebliches Wesen hätte mich aufhalten können. »Komm schon«, forderte ich. »Wenn du nicht willst, fahre ich alleine.«
»Wo willst du hin?«
»Zur Flugschau.«
»Du und deine Motoren.« Sie lächelte liebevoll, sah mir zu, wie ich den Helm aus der Garderobe nahm. »Warte einen Moment.«
Die Sonne schien durch das gelbe Glas in der Haustür, man sah den Staub in der Luft schweben und konnte die Freiheit spüren, die sie brachte. Keine stickigen Büroräume, keine Auftragsbearbeitung, kein Chef, sondern nur den Fahrtwind um die Ohren. Darauf hatte ich mich die ganze Woche gefreut. Das konnte Anna mir nicht verderben. Ich musste einfach raus. Und Flugzeuge hatten es mir angetan. Ich liebte es, ihnen zuzuschauen. Es gibt nichts Majestätischeres als ein Flugzeug, das ganz nah bei dir startet. Es ist als könntest du sie vom Himmel pflücken. Und jedes Mal ist es ein Wunder, wie diese Kolosse in den Himmel gleiten als seien sie leicht wie eine Feder.
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Anna, »ich komme doch mit.« Sie hatte eine Tasche mit Getränken, Brot, Käse und Wurst gepackt. »Verstaue das in der Satteltasche, während ich mich umziehe. Ich hoffe, wir haben Zeit für ein romantisches Picknick.«
Der Tag konnte kaum noch besser werden. Sommer, Sonne, Fahrtwind, Flugschau und ein Picknick mit Anna.
»Wenn du noch Zeit für einen Kuss hast.« Die Tasche in meiner Hand baumelte immer gegen ihren Rücken, als ich Anna an mich zog und sie umarmte. Warum konnte das Leben nicht immer so sein?
Es war ein Augusttag, wie aus dem Bilderbuch. Das Leder klebte an unseren Leibern. Keine Wolke stand am Himmel und wir mussten die Hand vor die Augen halten, um die Flugzeuge zu sehen, die sich im Licht der Sonne spiegelten. Wir saßen am Boden, Anna hatte sich an mich gelehnt, trank aus der Apfelsaftflasche. Die Menschen hatten sich ihre T-Shirts ausgezogen, einige hatten sich Klappstühle mitgebracht, andere saßen auf den Flugzeugen, den Jeeps oder den Panzern. Manche schauten durch Ferngläser in den Himmel. Das Einzige was zu meinem Glück fehlte, war ein Bier. Aber das ließ sich kaufen. Brot und Wurst hatten wir in der Satteltasche gelassen. Mit den zwei Kühlakkus, die ich dazugepackt hatte, würde es sich dort besser halten.
»Ich hole mir mal etwas zu trinken.« Ich stupste Anna leicht von hinten an, damit sie nicht umfiel, wenn ich mich erhob. Sie drehte sich um, lächelte mich an und fragte: »Bringst du mir was zu essen mit?«
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, löste mich, und ging zum Motorrad, bevor ich mich in die Schlange der Durstigen stellte. Über Lautsprecher wurde die nächste Fliegerstaffel angekündigt.
»Warum tust du dir weh?« Merle lässt mich los, drückt sich fort von mir. Wenn ich sie halte, kann sie mir nicht in die Augen schauen. Dann kann sie nicht in mich dringen. »Warum erzählst du mir das wieder und wieder? Ich weiß, was damals passiert ist.«
»Aber sie wäre nie dort gewesen, wenn ich sie nicht erpresst hätte. Sie wollte doch gar nicht dort hin.«
Frecce Tricolori hieß die Staffel. Die dreifarbigen Pfeile. Einer in Grün, einer in Rot und einer in Weiß. Ich kann kein Italienisch aber diese Worte konnte ich mir merken. Ich werde sie immer in meinem Gedächtnis behalten. Wie Pfeile durchzogen sie den strahlend blauen Himmel, verzierten ihn mit ihren bunten Kondensstreifen und folgen atemberaubende Manöver. Ich stand in der Schlange an, überlegte, ob ich nicht besser zu Anna ginge, meinen Rausch über die Urgewalt der grandiosen Darbietung zu teilen. Wäre mir das Bier doch bloß nicht wichtiger gewesen.
»Höre auf dich zu quälen«, mahnt Merle. »Sie ist gerne mit dir dort hingegangen. Sie hat sich wohl gefühlt, dich und die Sonne genossen und bestimmt hat sie auch in den endlosen Himmel geschaut und die Flugzeuge verfolgt.«
Sie musste alles mit ansehen, machtlos, chancenlos. Sie sah den Feuerball auf sich zukommen, die gewaltigen Metallmassen, die ihre Schneise durch das Publikum zogen und Anna überrollten.
»Sie hatte keine Zeit. Sie konnte keine Angst haben. Sie war sofort tot.«
»Was ist mit mir?«, fragt Merle. Wenn sie wieder zu schreien beginnt, weiß ich nicht, ob ich bleiben kann. »Ich lebe. Und ich liebe dich. »Findest du es fair, dich mir zu verweigern, nur weil du von Anna nicht loskommst?« Sie kommt mir nicht nah, ist auf den Weg ins Schlafzimmer, knallt die Tür hinter mir zu. Müsste sie mich nicht verstehen?
Ich kann in mir bleiben.
Wie ein Irrer tobte ich gegen den Strom. Während alle flohen, wollte ich zu dem Flugzeug, wollte sehen, was ich nicht fassen konnte. Vielleicht hatte ich mich ja geirrt und Anna hatte gar nicht da gesessen. Ich war lange an der Biertheke. Vielleicht ist sie aufgestanden und hat sich selber etwas zu essen holen wollen? Oder ich hatte nur unseren Sitzplatz in falscher Erinnerung.
»Anna!«, schrie ich aus Leibeskräften. »Anna!« Menschen wurden auf Tragen gepackt. Sanitäter rannten mich um, liefen zu den Bierzelten, schmissen die Gläser von den Tischen und trugen sie zur Unglücksstelle. Überall Schreie, überall Hilferufe, Martinshörner und eine verzweifelte Stimme mahnte über das Mikrofon dazu, Ruhe zu bewahren. Der Gestank von Kerosin legte sich wie ein fettiger Belag auf meine Zunge. Wie hätte Anna mich hören sollen? Wie hätte ich sie finden sollen? Ich taumelte durch die Menschenmenge, hielt mir einen Arm vor die Nase, um mich vor dem Geruch von verbranntem Fleisch zu schützen.
Wenn ich erste Hilfe leistete, würde ich Anna vielleicht finden. Ich sprach verkohlte Leiber an, horchte an ihnen, wartete auf Lebenszeichen. Ich weiß nicht, wie viele Tote ich in die Schockstellung gebracht habe, wie viele Lebende. Ich lief zu meinem Motorrad, vielleicht würde mein Verbandspäckchen etwas nützen. Und ich sah jedem ins Gesicht, nur um Anna zu finden.
»Hörst du mir eigentlich zu?«
Wenn ich Merle jetzt sage, wie niedlich sie aussieht, wird sie noch lauter schreien. Hat sie noch etwas gesagt, nachdem sie im Schlafzimmer verschwunden war?
»Nein Merle. Ich war mit meinen Gedanken im Feuer. Es tut mir Leid.«
»Mir tut es auch Leid.« Sie trägt einen Koffer zur Tür. Will sie mich verlassen? »Solange Anna in deinem Herzen wohnt, solange dort nur Raum für deine Schuldgefühle ist, habe ich dort keinen Platz. Ich habe es versucht. Ich habe darum gekämpft. Jetzt habe ich keine Kraft mehr.« Sie dreht sich noch einmal um, lächelt schwach. »Ich liebe dich« sagt sie, »aber sollte Liebe nicht glücklich machen? Sollten wir uns miteinander nicht besser fühlen?«
Ich habe sie nicht gefunden. Erst als alle Verletzten und alle Toten geborgen waren, als ich an meinem Motorrad stand und wartete, dass Anna wie durch ein Wunder vor mir stehen, ihren Helm aufsetzen und auf dem Sozius Platz nehmen würde, gab ich die Hoffnung auf. Einer der Sanitäter kam zu mir, bedankte sich für die Hilfe und fragte, ob er etwas für mich tun könnte.
»Anna?«, fragte ich und sah ihn flehentlich an. »Haben Sie Anna gesehen?«
Der Sanitäter schaute zurück. »Wie heißt ihre Anna weiter?«
»Ich will doch nur wissen, ob es ihr gut geht.«
»Wie heißt sie mit Nachnamen?« Er nahm die Hand nicht von meiner Schulter. »Wenn Sie mir ihren Namen sagen, werde ich in unsere Listen schauen.«
Ich nannte ihm den Namen, folgte ihm, sah ihm über die Schulter, als er in die Verwaltung des Todes schaute. »Wir konnten noch nicht alle identifizieren«, erklärte er. »Aber vielleicht haben wir Glück und sie ist dabei.«
Er sprach von Glück?
»Merle, ich fühle mich besser mit dir. Verlass mich nicht.« Sie schüttelt den Kopf.
»Ich fühle mich nicht besser. Deine Traurigkeit ist so unendlich, dass sie mich füllt. Deine Selbstvorwürfe sind so mächtig, dass ich sie auf mich beziehe. Ich kann so nicht leben. Ich kann nicht immer um dich herumschleichen, nur um auf die Sekunde zu warten, in der du dich mir öffnest. Ich habe keinen Platz in dir. Und ich kann nicht auf das Leben verzichten, nur weil du Angst davor hast. Der Preis ist mir zu hoch.« Sie stellt den Koffer noch einmal ab, lässt sich in den Arm nehmen, vergießt ein paar Tränen.
»Und wenn ich mich ändere?«
Der Sanitäter bedauerte. »Bei denen, die wir in die Klinik gefahren haben ist sie nicht. Soll ich in der anderen Liste schauen?«
Nichts ist schlimmer als die Ungewissheit, selbst wenn die Erkenntnis alle Hoffnung nimmt. Ich nickte. Zum Reden fehlte mir die Kraft. Der Sanitäter holte die andere Liste, die mit den Toten. Dann drehte er sich um und nahm mich in den Arm.
»Machs gut.«
»Du kannst doch nicht einfach gehen.«
»Doch.«