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Das echte Leben
Nach einem guten Wochenende, dass man für Ewig in Erinnerung behalten wird, nach regelrechten Lebens-Exzessen mit Erlebnissen, die einem für immer im Kopf bleiben werden, nach dem tagelangen, sorgenlosen beisammensein mit den besten Freunden. Nach eben solchen Zeiten stellt sich bei mir ein Gefühl ein, für dass Melancholie noch eine harmlose Beschreibung ist. Ich sitze dann im Büro, starre aus dem Fenster, auf eine Wand oder was auch immer gerade in der Nähe ist. Jede einzelne Sekunde rauscht langsam an mir vorbei und ich beobachte sie. Ich beobachte sie gequält, leere eine Kaffeetasse nach der anderen und interessiere mich nicht für die Flecken, die eben dieser auf der frisch geputzten Tischplatte hinterlässt. Meine Existenz, die Existenz der gesamten Umwelt scheint sinnlos, ich lebe abgekapselt von meiner Umgebung. Ich bin einsam. Und aus meiner Einsamkeit wird eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit für jemanden, dessen einzige Beschäftigung der Gedanke, herzerwärmend und quaelend zugleich, an vergangene, bessere Momente ist.
Ich nehme einen weiteren Schluck Kaffee, interessiere mich nicht weiter dafuer, dass er mitlerweile abgekühlt ist und den unerträglichen Geschmack angenommen hat, den abgestandener Kaffee nunmal hat. Entnervt beantworte ich zum gefühlten zweihundertsten Male die selbe Frage: "Wie war der Urlaub?", fragt M. im vorbeigehen mit einem Lächeln. "Ganz gut", sage ich. Ich verliere noch ein paar Worte über das Wetter, über die Sehenswürdigkeiten, die ich mir nicht angeschaut habe und verschweige die wahren goldenen Momente, die Nächte voll mit echtem Leben, die ich sah.
...
Mit nassen Haaren ging ich ins freie und atmete die süsse Prager Nachtluft ein, die mir sanft entgegenwehte und eine sehr willkommene Abkühlung bot. Die hämmernden Beats noch immer in den Ohren stellte im mich lächelnd und zufrieden neben S. und genoss für einen Moment die Situation, überblickte den schwarzen Fluss, der in der Dunkelheit sachte und doch mit Bestimmtheit weiter in die Stadt hineinlief. Wir entschieden uns, nach den anstrengenden letzten Stunden, für einen entspannten Nachtspaziergang ins Ungewisse. "über die Brücke und dann links, so kommen wir irgendwann wieder ins Hotel", meinte S. Irgendwann tönte gut, auch wenn ich gar nicht ins Hotel wollte, also gingen wir los. Die kantigen Pflastersteine bohrten sich bei jedem Schritt in meine müden, abgetretenen Füsse und in meinem Kopf brummte und piepste und krachte es nur so vor sich hin. Die Brücke an sich schien endlos lang und als ich etwa in der Mitte einen Blick über den Rand warf merkte ich, dass der Fluss hier deutlich an Fahrt gewonnen hatte und auch nicht mehr so ungefährlich erschien wie am Ufer. Unser vorhin gefasster Plan, diese Nacht noch zu Baden hatte sich damit erledigt.
Schon aus der Ferne hörten wir, was uns etwa Zwanzig Meter weiter, noch immer auf der Brücke, erwarten würde: ungeordneter, vielstimmiger Gesang, Geklatsche und ein wenig Gitarrenspiel. So erreichten wir etwas später, in unserem Zustand werden es wohl einige Minuten gewesen sein, ein paar Strassenmusikanten. Die Luft hier war etwas kälter und sie hatte an Charakter verloren: Sie war nicht mehr so süsslich wie vorhin, sie war gänzlich normal. Man merkte, dass wir uns vom kulturellen Zentrum der Stadt entfernten. Die Strassenmusikanten, einer mit Gitarre, der Rest nur mit Stimme und Händen, waren sichtlich erfreut, endlich Aufmerksamkeit zu bekommen; von all den Menschen auf der Brücke waren wir die einzigen, die anhielten und ihnen ein paar Blicke würdigten. Wir gingen noch weiter; Wir begannen zu tanzen. Es war ein wilder, unkontrollierter Tanz. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich jemals so gut, so lebendig gefühlt zu haben. Ich ruderte mit den Armen, meine Beine flogen durch die Gegend. Ich sprang umher, prallte mit K. zusammen, welcher es mir gleich tat. Wir beide flogen zu Boden, schürften uns die Ellbogen und Hände auf und interessierten uns nicht weiter dafuer. Denn wir fuehlten uns grossartig. Wir bemerkten, wie die Endorphine unsere Venen überfluteten. Kein Schmerz der Welt war schien stark genug, dieses Gefühl der Freude, dass wir in diesem Moment empfanden zu zerstören. Wir klatschten die Hände unrythmisch, und doch irgendwie zur Gitarrenbegleitung passend zusammen, sangen und johlten. Die Harmonie stimmte, das akkustische Ergebnis dieser Begegnung tönte gut, gut genug, um um sechs Uhr morgens in Prag die Nacht ausklingen zu lassen und sich von den Anstrengungen der letzten Stunden zu erholen. Nach einigen Minuten gingen wir weiter, verabschiedeten uns zuvor noch mit lautem lachen und heftigem, übertriebenen Winken. Wir gingen weiter, ins Unbekannte, ins Nichts.
Ich atmete tief ein, meine Lunge füllte sich. Mit Leben.
"Ich werde Prag vermissen, diese andere, die echte Welt, die wir bald wieder betreten müssen macht mir Angst", sagte ich zu S.
"Ich weiss. Mir auch. Aber verschwende keinen Gedanken daran. Was zaehlt ist die Begegnung, der Moment, das Jetzt."
...
"Ich weiss, dass du Ferien hattest, aber trotzdem musst du jetzt wieder arbeiten. Wir können es uns nicht leisten, dass alle unserer Mitarbeiter nach dem Urlaub noch ein paar Tage zur Erholung brauchen, verstehst du? Zeit ist Geld."
Ich erschrecke ein wenig, bemerke, dass ich wohl gerade ein Loch in meinen Chef starre.
"Ja", sage ich kurz, und mache mich an die Arbeit. "Zeit ist nicht bloss Geld, Zeit ist Leben. Einfach nur Leben", denke ich mir, als ich meinen Chef beobachte, wie er kontrollierend einen Blick in jedes Büro wirft, durch die Gänge marschiert und schliesslich hinter einer Ecke verschwindet.
M. kommt wieder vorbei. Ob ich lust habe, heute Abend mit zum DVD-Abend zu kommen. Ein paar Folgen von "Desperate Houswives" wären mal wieder angesagt. "Ja, unbedingt", antworte ich mit einem zynischen Lachen. Sie scheint es nichr zu bemerken, sagt "Bis dann!" und ist schon wieder weg.
Ich vermisse es, das Leben.