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Das Ende der Welt und ich will nur zu dir
„Soll ich dich erschießen? Soll ich dir deinen verschissenen Schädel wegpusten?“
Der Mann schreit mich an, er schlägt mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Speichel rinnt ihm von den Mundwinkeln, während er mir die Knarre gegen die Stirn drückt. Seine Augen sind weit aufgerissen und ich zweifele nicht an seinen Worten. Ich frage mich nur, warum er nicht abdrückt und stattdessen die letzten Minuten seines Lebens mit Drohungen verschwendet.
„Drück doch ab, in weniger als einer Stunde werden wir sowieso alle tot sein. Also worauf wartest du? Du glaubst, du kannst mich einschüchtern? Du glaubst, ich hätte Angst? Ich scheiß auf deine Drohungen, ich scheiß auf deine Knarre, ich scheiß auf jede einzelne Kugel darin und ich scheiß auf dich!“
Die letzten Worte schmettere ich heraus, drücke den Lauf der Waffe zur Seite und halte die Hand fest, die nicht aufhören will, mich mit Ohrfeigen zu übersäen. Ich ziehe ihn soweit zu mir heran, bis sich unsere Nasenspitzen treffen. Unsere Blicke weichen nicht voneinander. Siehst du die Angst in meinen Augen? Siehst du die Hoffnungslosigkeit? Und siehst du auch meine Entschlossenheit? Ich werde meinen Blick nicht senken. Ich werde nicht blinzeln und meine Augen werden nicht tränen. Die Bombe ist unterwegs und ich habe genauso wenig zu verlieren wie du.
„Lasst das Mädchen gehen. Vielleicht hast du dein ganzes Leben als Arschloch gelebt, versuch wenigstens die letzten Minuten wie ein Mann zu leben. Die Kleine wird sterben, genauso wie du und ich. Reiß dich zusammen und genieß die letzten Momente in Anstand und Würde. Es ist nicht zu spät für neue Erfahrungen.“
Mit jedem Wort, das ich ihm zuzische, merke ich, wie seine Wut steigt. Er schiebt den Unterkiefer nach vorn, fletscht die Zähne und sein Atem wird schwerer. Ich fühle, wie er die Waffe fester in meinen Bauch schiebt und ich spüre sein Zittern. Gibst du auf?
Tu mir den Gefallen und blinzele. Los, mach schon. Ein kleines Blinzeln. Die Sekunden verrinnen und sie waren nie kostbarer als jetzt. Es sind unsere letzten Sekunden, unsere letzten Minuten. Bald sind wir alle tot und wir verschwenden unsere Zeit damit, uns gegenseitig zu beweisen, wer die dickeren Eier hat. Gestern hätte ich gekuscht, gestern wäre ich weggelaufen, gestern hätte ich mir vor Angst in die Hosen geschissen. Aber heute hast du keine Macht über mich. Heute werde ich vor dir stehen, deinem Blick standhalten und jede Patrone aus deiner beschissenen Knarre wird für mich die Erlösung sein.
Verdammt, du sollst blinzeln!
Seine Wimpern beginnen zu flattern und mit dem zurückziehen seines Unterkiefers wird auch sein Atem ruhiger. Er blinzelt.
„Lasst sie gehen!“, ruft er seinen Freunden zu, die das Mädchen festhalten. Ihre Kleidung ist zerrissen und ihre Augen sind schwarz vor Kummer und Tränen. Seine Freunde, die genauso hässlich sind wie er, zögern nicht und lösen ihren Griff. Untergebene bis in den Tod. Befehlsempfänger. Trittbrettfahrer. Wichser. Wenn einer den Tod verdient hat, dann seid ihr es. Auf die Welt geschissen; um orientierungslos umherzuirren, bis ihr euren Führer gefunden habt, der euch sagt, was ihr machen sollt. Verrecken sollt ihr!
Das Mädchen reibt sich die Arme, schaut mich ein letztes Mal an und läuft davon. Auch wenn sie dem Tod nicht entrinnen kann, sie wird vorher nicht wenigstens vergewaltigt. Das heißt, wenn sie Glück hat und sich gut versteckt.
Der Mann spuckt mir ins Gesicht, trotzdem blinzele ich nicht. Ich wische mir nicht einmal seinen Rotz von der Wange. Ich habe keine Angst vor ihm.
„Verpiss dich!“
Er senkt die Waffe und auf ein Fingerschnippen wird ihm die Flasche Whiskey gereicht. Er nimmt einen großen Schluck daraus, grinst mich an und wedelt mit der Waffe.
„Verpiss dich, bevor ich es mir anders überlege“
Ich dreh mich um. Erst eine Straße weiter entferne ich mir mit dem Ärmel seine Spucke aus dem Gesicht. Die Aufregung schwindet, das Adrenalin verlässt meinen Körper und ich kann wieder klar sehen und hören.
Sirenen heulen, Autos hupen, irgendwo wird geschossen, irgendwo wird geschrien. Das absolute Chaos. Die Welt geht unter und wir machen einen Heidenkrach dabei. Die Straßen sind mit Autos verstopft, alle wollen raus aus Braunschweig. Sie laufen in Panik umher, weinen, schreien, ziehen ihre Kinder hinter sich her. Es gibt kein Entkommen, das Ende der Welt ist da und wir werden alle sterben.
Ich schau zu einer Gruppe Jugendlicher, die die Schaufenster eines Fotogeschäfts einschlagen und die Ware in Plastiksäcken verstauen. Ich frage mich, was zur Hölle sie mit den Digitalkameras wollen, wenn sie nur noch Staub und Asche sind. Irgendwie scheint denen der Ernst der Lage nicht bewusst zu sein. Verdammt, das ist keine Übung. Die Bombe ist tatsächlich unterwegs. Von uns wird bald nichts mehr übrig bleiben. Habt ihr nichts Besseres zu tun, als zu stehlen und zu plündern? Ich mache, dass ich weg komme, ich habe keine Lust auf Diskussionen, keinen Bock auf eine erneute Konfrontation. Ich will nur zu Anne.
Ein Pärchen leert lachend eine Sektflasche, sie halten sich an den Händen und küssen sich wild. Trotz ihres Lachens sieht man ihnen die Angst an. Er reißt ihr die Hose runter, sie macht sich an seinem Gürtel zu schaffen. Die Flasche fällt zu Boden und einige Sekttropfen spritzen auf mich. Es ist ihnen egal. Der Mann legt die Frau auf den Boden und dringt in sie ein. Wie von Sinnen lachen sie, schreien lustvoll und während sie miteinander auf offener Straße schlafen, sehe ich ihnen an, dass sie viel lieber gemeinsam weinen würden. Mit jedem kräftigen Eindringen verzerren sich ihre Gesichter, verschwindet ihre Lust und ihr Speichel vermischt sich mit den Tränen, die wie Sturzbäche aus ihren Augen schießen. Er bleibt bewegungslos auf ihr liegen und sie lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Sie wollten diese Welt betrunken und miteinander kopulierend verlassen, aber die Angst vor dem Tod lässt sich nicht verdrängen. Weinend küssen sie sich, stammeln „Ich liebe dich“ und halten sich schluchzend fest.
Ich setze meinen Weg fort, bin wie in Trance. Ich habe nur einen Gedanken. Anne ein letztes Mal sehen.
Ich kenne sie nicht lange, gerade mal drei Wochen, aber ich weiß, dass sie die Liebe meines Lebens ist. Wir haben uns angesehen, uns angelächelt und wussten sofort, dass wir füreinander bestimmt sind. Kleine Verabredungen, ein Kaffee in der Mittagspause, kurze Anrufe, unzählige Kurznachrichten aufs Handy. Nicht eine einzige Berührung, kein einziger Kuss.
Ihr habt uns keine Zeit gelassen, um unsere Liebe auszukosten. Ich werde nie erfahren, wie ihre Lippen schmecken, nie wissen, wie warm ihre Umarmungen sind, nie neben ihr aufwachen, über ihr Haar streichen und sie so lang ansehen, bis die ersten Sonnenstrahlen sie wecken. Ihr wisst Nichts, nichts von Sehnsucht, von Verlangen und nichts von Liebe. Gier, Hass und Tod sind euer Geschäft. Ihr mit euren Religionen, euren Ideologien, mit euren verschissenen Lügen. Es hat nicht gereicht, dass ihr euch Jahrtausende lang gegenseitig abgeschlachtet habt; jetzt habt ihr es geschafft, dass wir alle sterben werden. Ihr habt die Welt in Schwarz und Weiß geteilt, in Nationalitäten, in Links und Rechts, in Gläubig und Ungläubig. Und ihr wurdet nie müde, in die Welt hinauszuschreien, dass eure Lebensweise, eure Sicht der Welt, die einzig Richtige ist. Ihr sollt ersticken an dem Geld, das ihr mit dieser Hetze gehortet habt. Ihr sollt unter den Firmen begraben werden, die ihr mit eurer Politik aufgebaut habt. Ertrinken in dem Öl, in dem Gold, in den Bodenschätzen, die die Menschheit für euch wie Sklaven zutage gefördert haben.
Wo bist du?
Anne schaut weinend zu dem Mann herunter, dem sie gerade den Schädel eingeschlagen hat. Ihre Arme, die die Eisenstange halten, schmerzen. Sie keucht, sie schwitzt, sie hat Angst. Gewalt hat sie noch nie gemocht, Hass noch nie gekannt. Es tut ihr weh, dass sie in den letzten Minuten ihres Lebens das nun noch erleben muss. Sie wirft die Stange weg und tritt dem toten Mann wütend in den Bauch.
„Es ist deine Schuld. Nur deine. Du hättest mich nicht anfassen sollen. Du hättest mich nicht vergewaltigen sollen.“
Tränen schießen ihr aus den Augen, sie fällt auf die Knie und trommelt mit den Fäusten auf den leblosen Körper.
„Du mieser Wichser! Du verfluchtes Arschloch! Wieso hast du mir das angetan? Wieso? Wieso?“
Ihre Schreie steigern sich bis zur Hysterie. Kein Hass? Keine Gewalt? Es herrscht - Ausnahmezustand.
Sie hört erst auf, als sie vor Tränen nichts mehr sehen kann, erst, als ihr alle Glieder schmerzen und sie übersät ist, mit dem Blut des toten Manns.
„Es ist nicht mehr viel Zeit. Komm zu dir!“
Anne wischt sich die Tränen aus den Augen und streicht ihr Haar zurück, das ihr nass im Gesicht klebt. Die Erlebnisse der letzten Minuten jedoch lassen sich nicht einfach so wegwischen.
„Komm endlich zu dir!“
Sie kneift sich in den Arm, bis er rot anläuft. Sie schlägt sich ins Gesicht.
„Du willst nicht mit dem Gedanken an diesen Wichser sterben, also komm, verdammt noch mal, zu dir!“
Sie trifft ihre Nase. Blut rinnt heraus.
Ihr wird schwindelig, als sie sich auf die Beine kämpft und aus dem Hauseingang läuft.
Anne hätte nicht gedacht, dass es soweit kommen würde. Bis gestern war sie voll Hoffnung, dass die politische Lage sich wieder entspannt, ging von den üblichen Drohgebärden aus, der üblichen Taktik der verfeindeten Staaten, den anderen zum Einlenken zu zwingen. Doch diesmal hatte sich das Ganze hochgeschaukelt; so weit, dass die Verantwortlichen auf den roten Knopf drückten. Ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht einmal darauf, dass die Zukunft der gesamten Menschheit auf dem Spiel stand.
Ihr Kleid ist zerrissen, wo der Slip ist, weiß sie nicht mehr. Es interessiert sie auch nicht. Sie will nur weg von dem Mann, der sie vergewaltigt und den sie zu Tode geprügelt hat.
Auf den Straßen herrscht Chaos. Sie sieht, wie ein Panzerwagen der Polizei sich gewaltsam den Weg frei räumt. Er rammt Autos und Verkehrsschilder und bleibt dann an einer Häuserecke hängen. Passanten bewerfen ihn mit Steinen und Flaschen, bis der Polizist das Fenster herunter kurbelt und um sich schießt. Anne kann eine Frau und drei kleine Kinder auf dem Rücksitz erkennen, die sich ängstlich umarmen. Scheinbar wollte der Polizeibeamte seine Familie in Sicherheit bringen und hatte sich dafür den Panzerwagen seiner Dienststelle ausgeborgt. Ein älterer Mann läuft mit einem Molotowcocktail zu dem Seitenfenster und bevor der Polizist ihn erschießen kann, schafft er es, ihn hineinzuwerfen.
Anne hält sich die Ohren zu, um die Schreie nicht hören zu müssen. Der Polizeiwagen brennt lichterloh und die Menschen drum herum jubeln frenetisch. Sie sind alle wahnsinnig geworden, die Angst vor dem Tod hat sie durchdrehen lassen, denkt sie sich und rennt davon. Überall Autos, die unentwegt hupen und nicht weiterkönnen, Gruppen von Menschen, die schreiend ihre Ideen verkünden, wie man dem Tod noch entrinnen könne - Hände, die nach ihr greifen. Wieso, bist du nur aus dem Haus gegangen, warum tust du dir das nur an, fragt sie sich. Sie hätte sich im Keller verstecken können, sie hätte sich ins Bett legen können, sie hätte einfach im Garten sitzend auf den Tod warten können, aber sie hatte nur einen Gedanken.
Ihn noch einmal sehen.
Für Politik hatt sie sich nie interessiert. Sie ging zwar immer regelmäßig wählen, gab dabei ihre Stimme der Partei, von der sie glaubte, dass sie das kleinere Übel sei, aber sie ließ ihr Leben nicht dadurch beeinflussen. Sie wollte nicht viel vom Leben: Spaß haben, die Welt sehen, einen guten Job, ein kleines Häuschen, die große Liebe. Einfach nur glücklich sein. Nicht mehr und nicht weniger.
Und mit einem Schlag waren ihre Träume wie Seifenblasen zerplatzt. Vor einigen Stunden verkündeten die Nachrichtensprecher, dass die Regierungen der verfeindeten Staaten die Atomraketen gezündet hatten. Wie in einem Domino-Effekt zündeten daraufhin die verbündeten Staaten ebenfalls ihre Raketen - und die Regierungen, die sie bisher schon immer gehasst hatten, schickten auch ihre Atomraketen. Japan existiert nicht mehr. Nord- und Südkorea sind längst von der Landkarte getilgt. Und sie weiß, mit jedem Atemzug, mit jedem Schritt, den sie macht, wird ein anderes Land ausgelöscht.
Plünderer streifen durch die Straßen, sie werfen Schaufensterscheiben ein, ziehen sich die teueren Pelzmäntel über und legen sich goldene Uhren um, die sie sich bisher nicht hatten leisten können. Wenn man schon wie ein Penner gelebt hat, dann wenigstens wie ein König sterben. Jugendliche schieben Einkaufswagen mit Alkohol und Zigaretten aus den meist nicht verschlossenen Supermärkten. Sie zünden sich lachend die dicksten Zigarren an, schütten sich voll mit Branntwein und halten Ausschau nach weiblichen Opfern.
Anne zieht sich das Kleid hoch, verdeckt notdürftig ihre Brüste. Blut tropft aus ihrem Unterleib. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit. Sie schaut sich um, entdeckt eine Uhr. Vielleicht noch fünfzehn Minuten. Sie will ihn nur noch einmal sehen. Die letzten Wochen lang war sie wie im Rausch gewesen. Kribbeln am ganzen Körper und Schwärme von Schmetterlingen im Bauch. Sie konnte nicht arbeiten, nicht essen, nicht schlafen. Seine schüchternen Blicke, seine unbeholfenen Annäherungsversuche und sein Gestammel, wenn er mit ihr sprach. Sie liebt ihn so sehr. Den Tod vor Augen hat sie nur den Wunsch, ihn ein letztes Mal zu sehen, ihn in den Armen zu halten, zu küssen.
Die Gewissheit zu haben, dass sie nicht umsonst gelebt hatte.
Überall prügeln Leute auf sich ein. Sie haben Stangen und Latten in den Händen und gehen wütend aufeinander los. Die ersten Menschen schlugen sich mit Keulen gegenseitig tot und die letzten tun es ihnen nach. Dazwischen war es um die Welt auch nicht besser bestellt. Dieser endlose Hass auf den Anderen, der in wenigen Minuten sein ultimatives Ende finden wird. Wir haben es geschafft, bemannte Raketen weit in den Weltraum zu schießen, die komplette Genetik des Menschen zu entschlüsseln, Lebewesen zu klonen, aber wir sind immer noch sabbernde und stinkende Neandertaler geblieben.
Bei Anne zuhause war ich schon, ich habe ihre ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, nach ihr gesucht, nach ihr geschrien. Sie war nicht da. Ich habe versucht, auf ihrem Handy anzurufen, doch sämtliche Telefonleitungen und Handynetze schienen zusammen gebrochen zu sein.
Ich renne wie der Teufel; wenn ich sie nicht ein letztes Mal sehen kann, dann will ich wenigstens da sein, wo ich sie zum ersten Mal gesehen habe.
Das Café am Ringerbrunnen.
Wir hatten wunderschönes Wetter, so schön wie heute. Sie saß da, nippte an ihrem Cappuccino und als sie mich anlächelte, war es um mich geschehen. Normalerweise spreche ich keine Frau in einem Straßencafé an, es ist nicht meine Art, aber ich wusste, wenn ich nicht dieses Mal über meinen Schatten springe, würde ich mich den Rest des Lebens selber dafür hassen. Ich ging zu ihr, gab sinnlose Sätze von mir, und allein dafür, dass sie mich nicht für einen kompletten Vollidioten hielt, hätte meine ganze Liebe verdient.
Mein Herz krampft sich zusammen, wenn ich sie mir nur vorstelle. Ich laufe durch die Straßen, die Menschen um mich herum suchen Schutz, überlegen krampfhaft, wie sie mit dem Leben davon kommen können, zerfleischen sich gegenseitig - und ich habe nur ein Bild vor den Augen: Ihr Lächeln.
Auf einem flachen Hausdach spielt eine fünfköpfige Rockband. Sie haben ihre Instrumente an ihre Verstärker angeschlossen und geben ihr Abschiedskonzert. Die Begleitmusik zum Untergang. Sie spielen voller Hingabe, sich dessen bewusst, dass es keine Zugabe geben wird. Ich schaue zu ihnen hinauf, fühle durch ihre Musik, den Schmerz, den sie empfinden, und renne weiter. Es bleiben nur noch wenige Minuten.
Plötzlich - bleiben alle Menschen stehen. Wie auf Knopfdruck recken sie ihre Köpfe nach oben. Manche von ihnen halten die Hände vor den Mund, andere schütteln fassungslos den Kopf, ihre Augen sind schreckgeweitet und nach einer kurzen Atempause schreien sie aus allen Kehlen. Ich folge ihren Blicken. Der Himmel ist voll von Raketen, die auf dem Weg zu ihren Zielen sind. Gefolgt von ihrem Feuerschweif, wie mit einem Lineal gezeichnet. Vereinzelt scheren Raketen aus und verlassen die Formation in alle Himmelsrichtungen. Eine davon macht einen Knick nach unten und nimmt Kurs auf Braunschweig. Auf uns.
Ich habe genug gesehen, ich dränge die Leute zur Seite und renne. Ich will nur Anne. Lieber Gott, lass sie mich noch einmal sehen.
Anne erreicht die Innenstadt. Um sie herum schauen die Menschen zum Himmel und mit dem Erblicken der Raketen wird die letzte kleine Hoffnung zunichte gemacht, dass sie verschont werden könnten. Düsenjäger steigen auf, anscheinend wollen sie sich den Bomben in den Weg stellen. Helden, die sich opfern wollen, um die Menschheit zu retten. Anne weiß, dass sie keine Chance haben. Die Raketen werden sie in Stücke reißen und sich nicht von ihrem Todeskurs abbringen lassen. Vielleicht bleiben ihr noch weniger als zehn Minuten, um das Café am Ringerbrunnen zu erreichen. Sie will da sein, da, wo ihr Glück, nach dem sie sich solange gesehnt hatte, vor ihr stand. Zitternd, stotternd und dummes Zeug redend. Auch wenn er nicht da sein sollte, Anne will an dem Ort sein und mit der Erinnerung an dieses wundervolle Gefühl sterben.
Sie zieht sich die Schuhe aus und läuft an den schreienden Menschen vorbei. Sie rennt über scharfe winzige Steine, sie rennt über Scherben; sie fühlt keinen Schmerz.
Menschenmassen kommen auf sie zu gerannt, als gäbe es eine Möglichkeit, der Bombe zu entfliehen. Sie wird niedergerissen, fällt auf den harten Steinboden und spürt zahlreiche Füße auf ihrem geschundenen Körper. Die Hände schützend über ihrem Kopf, bleibt sie liegen. Immer noch keine Schmerzen. Nur die in ihrem Herzen. Sie wird es nicht schaffen und mit der unerfüllten Sehnsucht nach ihm sterben. Tränen dringen aus ihren Augen. Wie Geister huschen die Menschen an ihr vorbei, treten und stolpern über sie.
Plötzlich greift eine Hand nach ihr, sie wird gepackt und auf die Füße gezogen. Ein kurzer Blick in die Augen eines Mannes und dann ist er auch schon in der Menge verschwunden. Sie wird sich niemals bei ihm bedanken können, denkt sie, und rennt.
Der Ringerbrunnen. Sie kann es noch schaffen!
Zwischen mir und dem Ringerbrunnen liegt noch der Burgplatz. Dicht gedrängt knien die Leute um die Statue des Heinrich des Löwen, an dessen Sockel ein Pastor steht. Die Hände gefaltet und die Augen geschlossen, lauschen sie still seinen Worten.
„Wie nun das Unkraut aufgesammelt und im Feuer verbrannt wird, so wird es am Ende der Welt sein…“
Ich möchte ihre nicht Ruhe stören, aber ich muss da durch! Stolpernd steige ich über die Menschen hinweg. Sie stoßen mich und sind wütend darüber, dass ich ihre Andacht störe.
„... Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammen holen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt…“
Ich trete auf Füße und Beine, werde dabei geschubst und geschlagen. Das lassen sich die frommen Gläubigen nicht entgehen, ihre Wut auf das Jüngste Tag an mir auszulassen. Die Zeit für Rücksichtnahme und Entschuldigungen habe ich nicht, ich stoße Hände weg, die an mir zerren, trete gegen Knie, die mich zum Stürzen bringen wollen und setze meinen Weg fort.
„... Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen. Dann werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie die Sonne leuchten. Wer Ohren hat, der höre!“
Ein kurzer Blick zum Himmel. Die Rakete kommt immer näher. Vielleicht noch fünf Minuten. Anne…, Anne, Anne!
Das Kreischen der Leute auf den Einkaufsmeilen der Stadt wird lauter, die Menschen werden hektischer, panischer. Sie sehen die Rakete kommen und wissen, dass das Ende da ist. Das Ende der Welt, das Ende ihres Lebens. Anne schlängelt sich an den Kaufhäusern vorbei. Jede Lücke nützt sie aus, um weiter zu kommen. Bis zum Ringerbrunnen ist es nicht weit, aber wenn sie wieder stürzen sollte, würde sie es nicht schaffen.
Ein großer Stein kommt auf sie zugeflogen, im letzten Moment kann sie sich noch ducken. Er kracht in die Schaufensterscheibe von Peek&Cloppenburg, einem großen Bekleidungsgeschäft.
„Da gibt’s einen riesigen Keller, da hätten wir eine Chance!“, schreit der Mann, der den Stein geworfen hat und die Menschenmenge folgt ihm durch das Loch der Scheibe. Einige bleiben an den Scherben hängen und ziehen sich große Schnittwunden zu, aber sie kämpfen sich trotzdem durch. Schaufensterpuppen werden niedergerissen und Kleiderständer zur Seite gestoßen.
Anne kann sich mit einem Hechtsprung retten, kriecht auf allen Vieren und als sie wieder auf die Beine kommt, rennt sie weiter.
Der Pastor ist mit seinem Gebet noch nicht am Ende und ich habe gerade mal die Hälfte geschafft. Überall Köpfe, Beine und Arme. Jedes Gliedmaß ein Hindernis zu meinem Ziel. Ich muss da durch, egal, was kommt. Langsam habe ich Übung darin, über Menschen zu steigen. Ich benutze gebeugte Rücken als Sprungfedern, lande auf Beine, stoße mich ab, steige auf Schultern und springe dabei über mehrere Köpfe hinweg. Ich werde nicht aufgeben, ich werde es schaffen und kein Mensch, keine Bombe, kein Gott, wird mich dabei aufhalten.
Der Platz ist bis zum Bersten voll, sogar auf den Bänken stehen die Leute dicht gedrängt, murmeln das „Vater-Unser“ und warten auf den kommenden Tod. Anne, ich bin gleich da.
Ein Blick auf die Uhr an einem Gebäude: Noch drei Minuten; ein schneller Blick nach oben, die Rakete wird größer, sie kommt immer näher. Die Menschen auf der Einkaufsstraße werden weniger. Entweder haben sie sich in eines der Kaufhäuser verkrochen oder sie knien schluchzend an einer Steinwand. Nur noch um die Ecke laufen und sie ist an ihrem Ziel. Anne mobilisiert all ihre Kräfte. Ihre nackten Füße klatschen auf den harten Boden, ihre langes Haar flattert hinter ihr her und das Herz pocht in ihrer Brust, droht zu zerspringen. Ein letzter Wunsch, eine letzte Bitte: Lass ihn da sein.
Endlich habe ich den Domplatz überwunden, der Ringerbrunnen ist schon zu sehen. Ich renne, so schnell ich kann. Ich fühle nichts mehr, der letzte Gedanke schwindet aus meinem Kopf. Mein Puls rast, mein Atem überschlägt sich. Ich höre ein kollektives Schreien hinter mir. Die Bombe scheint schon ganz nah zu sein. Mir bleibt keine Zeit nach oben zu schauen.
Anne sieht den Ringerbrunnen, links und rechts drücken sich die Menschen zusammen, als ob sie sich von ihrem Nächsten ein wenig Schutz erhoffen. Sie hat freie Bahn, jetzt nur nicht ohnmächtig werden. Vereinzelte spitze Schreie um sie herum bündeln sich zu einem ohrenbetäubenden Ganzen. Nur noch wenige Meter. Ist er da?
Endlich bin ich am Ringerbrunnen, mein Kopf dreht sich. Ich schau gehetzt um mich. Ist sie da? Bitte, bitte, bitte…
Anne sieht ihn, nach Luft schnappend, am Brunnen stehen, ihr Körper krampft sich vor Glück zusammen, wie ein Wasserfall schießen die Tränen aus ihren Augen.
In schaue die Straße runter und sehe sie zu mir laufen. Begleitet von einem Massenschrei spurte ich noch einmal los.
Anne!
Ich will nach ihr schreien, aber kein Ton kommt aus meinem Mund. Ich breite meine Arme aus und fange sie auf. Sie krallt sich an mir fest, schluchzt bitterlich und gelöst beginne auch ich, zu weinen. Wir schauen uns in die Augen, ich streichle ihr Gesicht und über ihr Haar - sie ist so wunderschön.
Jetzt bin ich bereit zum Sterben, bereit die Welt zu verlassen, bereit in tausend Stücke gerissen zu werden. Ohne dich hat die Welt keinen Sinn. Du bist es, nach der ich mein Leben lang gesucht habe. Du bist meine Welt. Du bist mein Universum. Du bist mein Leben.
Stille breitet sich aus. Nur das laute Pfeifen der Rakete ist zu hören. Das Ende ist da. Ich beuge mich zu ihr, ich schließe meine Augen und lege meine Lippen auf ihre. So warm, so lieblich, so zuckersüß.
„Ich liebe dich“
„Ich liebe dich“
ENDE
© 2006 Dogan I.
Lektoriert von der wundervollen Therzi