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Das Ende des Weges
Die morgendliche Wiese liegt hinter mir, und ich habe nun endlich den Weg erreicht. Feinster Nieselregen weht in Schleiern durch die Luft und berührt die ganze Welt mit seinem feuchten Kuss. Ich liebe erquickenden Regen, liebe es ihn auf meiner nassen Haut zu spüren, durch kleine Pfützchen zu gleiten und staubfreiduftende Luft zu atmen. Dieser Regen tut mir gut. Wenn das himmlische Wasser in feinen Tropfen hernieder fällt, dann fühle ich mich größer – gewachsen daran, dass ich teilhaben kann am Wunder der Natur.
Außerdem ist Regen gut für das Gras. Unter seinem Guss wächst und sprießt es mit neu belebtem Willen. Es grünt umso saftiger, wellt und wiegt sich im satten Wind. Ein weiterer Grund Regen zu lieben, da ich frisches Gras fast noch mehr schätze. Wenn zwei so wunderbare Dinge wie Regen und Gras sich in Harmonie begegnen, dann muss es einfach ein schöner Tag sein. Und an schönen Tagen, da hält es mich nicht in meinem Haus, da gehe ich ein bisschen auf Wanderschaft. Die Gegend, in der man lebt, zu erkunden und zu entdecken, ist schöner Tage bestes Tun.
Gerade eben habe ich auf meiner Wiese nach dem Rechten geschaut. Habe mir ein kleines Picknick bereitet und bin auf eine Menge alter Bekannter getroffen, die es mir gleich taten. Jetzt wollte ich mal sehen, welch interessantes Unbekannte am Ende des Weges liegt. Dort bin ich bisher noch nicht gewesen, habe mir aber sagen lassen, dass es dahinten eine zweite Wiese gibt, noch größer und schöner als die meinige. Eine Vielzahl an Blumen soll es dort geben. Und von Tau und Schauer gelabte Blumen sind fast so schön wie kühlender Regen und grünendes Gras zusammen.
Kalt schmiegen sich die feuchten Steine des Weges an meinen Fuß. Es ist kein eigentlicher Weg, eher ein riesiger Platz. Sein Ende in der Länge liegt gar nicht so weit voraus – fast kann ich es ausmachen, aber seine Breite ist gigantisch und scheinbar uferlos. Er besteht aus gewaltigen Steinplatten, in einem komplizierten Muster aneinander gelegt.
Den schönen Tag genießend, bewege ich mich anfangs unbeschwert über ihn hinweg. Ein warmes Gefühl des Wohlbefinden und der Entspannung begleitet mich dabei. Mit dem grünen Gras meiner Wiese im Rücken empfinde ich zunächst heimatliche Geborgenheit auf dem Wegstück, das jetzt noch vor mir liegt.
Doch bald schwindet das letzte Grün aus meinem Blickfeld. Und mit ihm verkriecht sich der gerade noch stärkende Mut in die hinterste Ecke des Hauses. Eine aufgehende Morgensonne gleißt in erbarmungsloser Hitze und trocknet rasch den Weg. Die Kraft rinnt aus meinen Muskeln. Plötzlich erscheint mir jener Weg wie eine staubige Todeswüste, und die Idee eines Besuchs der anderen Wiese ist gar nicht mehr so verlockend, wie sie am frühen Morgen noch klang. Vereinzelte, kleine Grasbüschel sind mein einziger Trost in der ansonsten unbelebten Einsamkeit. Welche Gefahren mag diese Einöde in sich bergen? Verängstigt und von meiner eigenen Fantasie geplagt, schaue ich mich um. Mein schweifender Blick fällt auf andere, wie sie am Horizont vorüberziehen. Sie sind zu weit, als dass mein Rufen sie erreichen würde. Auch ich muss voran, muss weiter, denn für eine Umkehr ist es hier auf der Mitte des Weges nunmehr zu spät.
Ich schleiche keuchend Länge um Länge, und fast schon möchte ich verzweifeln, da erkenne ich die ersten Ausläufer der Wiese. Zum Greifen nah liegen sie vor mir.
Holdes Glück beschert mir neuen Regen, und mit frischen Mut geht es voran.
Große, gelbe Blütenköpfe schwingen sacht im Wind, tanzen einen urtümlichen Reigen mit dem freundlichen Niesel. Sie laden fröhlich zum Verweilen ein, zum Feiern und Glücklichsein. Ein inneres Beben erfasst mich, möchte jauchzen und singen, denn so schön hatte ich es mir nicht vorgestellt. Schnell das letzte Stückchen Weg zurückgelegt. Bald ist das Ende erreicht. Dann ziehe ich sogleich auf diese Wiese um, genieße fortan jeden schönen Tag das hiesige Farbenspiel und die allgegenwärtige Blütenpracht. Ich freue mich schon jetzt so sehr auf diese Zeit, dass mein Herz sich überschlagen möchte, in den Tanz der Flora sich einreihen will.
Ein dunkler Schatten hüllt mich ein, überrascht mich, so dass ich...
„Noch eine!“, rief Torsten triumphierend. Es knackte ganz leise unter seinem Vorderrad. Das musste jetzt die fünfundzwanzigste gewesen sein. Oder vielleicht schon die sechsundzwanzigste?
Eine dicke Schicht Schleim vermengt mit Schneckenhausresten hatte sich bereits auf der Felge und der Lenkgabel abgelagert. Wenn er schon bei diesem bescheuerten Wetter mit Fahrrad in die Schule fahren musste, dann sollte wenigsten irgendjemand oder irgendetwas dafür büßen. Um die dummen Schnecken war es sowieso nicht schade. Blöde Viecher!