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Das Ende einer Dienstreise zu Chalkidhike
Das Ende einer Dienstreise auf Schalke-wer-weiß-wo
„Nach’m Gesetz ist vorm Gesetz“
Herr Berger, Fußballweiser
Sie kamen tänzelnd übers Wasser. Als die Galeere aus dem fernen K. vorsichtig in den Golf von S. ruderte, jubelten die Leute diesseits und jenseits der Bucht, versprach der Handel mit aller Welt doch Genüsse und Luxus. Aber an Bord fanden sich nicht allein Leckereien wie Wodka und Tabak, Austern und Kaviar, sondern vor allem der unsterbliche Xenopsylla Cheopis mitsamt seiner Mannschaft. So heftig Kassandra auch vor dieser Rotte warnte, die Leute von S. wollten es nicht wissen und hörten gar nicht erst hin. Die Männer von Athos dagegen lachten nur über das weibische Gewäsch. Sie wussten schon, warum sie nicht auf Frauen hörten, ihnen gar den Zutritt zur Republik verweigerten und doch zugleich erwarteten, dass ihnen die Wäsche gewaschen und gebügelt werde.
Heute gibt sich das Meer blauäugig. Kein Lüftchen regt sich. Friedhofsruhe liegt überm Heiligen Berg, an dem der Wald wild wuchert, um Weinberg und Obstgarten heimzuholen. Langsam nur werden die Gemäuer erobert und wo die nicht fallen, kleiden Wurzeln mit schier unendlicher Geduld die Mauern nachhaltig ein. Totenstille auch im Hospiz am Berg, bis wer eher herausfordernd denn fragend ruft „Is’ da wer?!“
Könnte so Motecuzomas Rache am heimkehrenden Quetzalcoatl aussehen?
Der Gästeraum des Gebäudes dämmert vor sich hin und ist - soweit erkenntlich - verwaist. Doch halt! Hören wir nicht Gelächter oder sollten wir wieder mal Flöhe husten hören? Die Stimme ruft „Wer is’ da?“ und letztlich entschiedener „Da is’ doch wer!“ Nicht erkenntlich zeigt sich dem Rufer das geballte Leben zwischen Filz und Seide. Da tummelt sich eine fröhliche Kurie, die gerade ihren König gewählt hat. Aber Pulex Irritans, der seinem Wirt die verrücktesten Gedanken einzugeben vermochte bis hin zum Irrglauben, er – der Wirt – wäre Krone der Schöpfung, gar gottgleich, ist eben nicht der König, denn was zählt schon eine Entzündung unterm Zehnagel oder ein schmarotzender Bandwurm im Gedärm eines beliebigen Wirtes gegen seine Hinrichtung?
Den Thron zugesprochen erhält der gewaltige Xenopsylla Cheopis, eben der, von dem die Alten berichten, er sei mit der Handelsgaleere aus dem Schwarzen Meer gekommen. Der bestimmt sogleich seinen armen Vetter Nosopsyllus Fasciatus zum Stellvertreter. Hernach unterhält der kleinste und zugleich geringste unter den Kurfürsten, Tunga Penetrans, das Publikum mit einer großen Klappe und langem Atem, kündet von der großen Heldentat des rechtmäßig gekürten Königs und steigt mittendrin ein:
» „Aber mein Gutester“, fragte der Herbergsvater ironisch, „was ist Ihnen widerfahren?“, denn wie der Gast das Hospiz betreten hatte, wusste der Wirt, dass etwas vorgefallen war. „Sie gleichen der Espe Laub und schreiten wie auf Eiern. – Welche Schlacht galt’s zu schlagen, da selbst dem Sieger die Kriegsneurose winkt? – Welch ein Handel wurde geschlossen, der mit maximaler Angst entlohnt wird?“
Da brach es aus dem Reisenden hervor gleich einem Vulkan. Silben und Wörter purzelten und fiel’n über’nander. Drängten sich vor, versperrten Aussagen den Weg. Verknäuelten sich und irritierten den Hörer, wäre nicht endlich der dazwischen gefahren: „Herz und Kopf quellen Ihnen unbändig über die Zunge, guter Mann: Fassen Sie sich! – Ich will Ihnen ein Mittel bereiten, das Sie beruhigen wird.“
Bald schon stellte der Wirt ein dampfendes, angenehm die Nase kitzelndes Getränk vor den Gast. „Trinken Sie’s in kleinen Schlucken. Es wird Sie beruhigen. Sodann erzählen Sie bitte!“
Schon nach den ersten Schlucken legte sich die Aufregung und der Reisende begann: „Ich meine mich zu erinnern, dass alle Macht vom Volk ausginge …“
„So sagt das Gesetz“, unterbrach der Gastgeber, um fortzufahren: „So erinnern wir Chalkidhikäer uns auch. Da unterscheiden wir uns nicht von euch Kafkhanen.“
Und der Reisende erzählte: „Man sagt: Alle Macht geht aus vom Volke, sage das Gesetz. Aber das Gesetz ist alt und gebrechlich. Jedermann weiß: blind ist es, vielleicht auch taub. Was wiederum niemand so recht weiß, denn das Gesetz schweigt beharrlich. Zudem lahmt es. Es konnte gerade noch per pedes apostolorum die höchste Pflegestufe erklimmen, bevor es sich zur Ruhe begab. – Wahrlich zum Krüppel ist’s verkommen! Es ist nicht mehr, was es einmal war.“
In die kurze Pause warf der Herbergsvater achselzuckend ein: „Was ist schon, was und wie es einmal war?“
„Ich hatte im Auftrag der Aufsichtsbehörden Zustand und Pflege des Gesetzes zu inspizieren. Vorm Gesetz aber standen Hüter …“, worauf der Wirt nickte und der Beauftragte in der Erzählung fortsetzte: „Die erkannte ich an der Uniform.“
„Personal und Pforte sind frisch renoviert“, informierte der Wirt. „Wir sind modern. Die bis gerade grüne Uniform ist gebläut, mein Herr. Die Reform ist gelungen. Die Hüter sind keine Grünschnäbel mehr und auf der Höhe der Zeit. Niemand kann mehr Flöhe um Hilfe bitten, denn hier trägt niemand mehr Flöhe im Pelz…“«
Da gackert und wiehert’s zwischen Filz und Seide. Kurfürsten klatschen vor Vergnügen, trampeln auf den Boden, wollen gar nicht mehr sich einkriegen – bis Nosopsyllus Fasciatus, nachdem er sich den Sabber vom Munde gewischt, Stille einfordert. „Wat sind dat nur für komische Leute auf Schalke-wer-oder-wat-weiß-denn-ich-wo“, kann Ctenocephalides canis gerade noch kopfschüttelnd sagen, als das Gelächter verstummt und Tunga Penetrans seine Erzählung fortsetzt, wenn er auch zunächst fragt: »Wo war’n mer? –
Ach ja, dass hier niemand mehr Flöhe im Pelz trüge. Also aufgemerkt!
„Niemand kann mehr Flöhe um Hilfe bitten, denn hier trägt niemand mehr Flöhe im Pelz. Zugleich chic und elegant beweisen die Hüter unbestechlich ihre Treue zum Gesetz“, schloss der Herbergsvater.
Der Gast berichtete weiter: „Jeder Hüter trägt einen Hut. Trägt ein Hüter keinen Hut, ist er außer Dienst. Der Hut macht den Hüter. Daher kommt ihm der Name. – Ganz wie es das Gesetz befiehlt.“
„Immer schon!“, rief der Wirt dazwischen.
„Ich kam also vor einen Hüter und bat um Einlass. Der Hüter aber lachte, dass ich irritiert fragte, was an der Bitte lustig wäre. ‚Nichts’, antwortete der Hüter, denn das Gesetz ist eine zu ernste Angelegenheit, um der Belustigung zu dienen.’ –
‚Aber Sie lachen doch’, bemerkte ich. –
‚Das ist möglich’, sagte der Hüter, nahm den Hut in die eine Hand und fischte mit der andern ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, entfaltete es und wischte Schweiß vom kahlen Schädel, dass die Bügelfalten verschwanden, während er fortfuhr: ‚Doch wem wollen Sie das beweisen? Ebenso kann es sein, dass Sie sich übers Gesetz lustig machen –
und das nimmt das Gesetz besonders krumm.’
Ich überlegte einen Augenblick – wer kennt schon alle Gesetze? Ich nicht und Sie, Herr Wirt, auch nicht. Gleich wenn wir um manches Gesetz wüssten, es bliebe uns doch verschlossen und Geheimnis dieser hohen Kaste, die es für unseresgleichen formuliert, und jener höh’ren Kaste, die es fürsorglich auslegt. Selbst das scharfe Auge und das spitze Ohr, welche die Einhaltung des Wortes überwachen, und der starke Arm, der das Wort durchsetzt, wissen nicht um das Geheimnis des Gesetzes. Sie befolgen Anweisungen, die denen aus Nase und Mund fließen und gar aus manchem Urmund schießen, die vor und über Auge, Ohr und Arm gesetzt sind und nach ihrem Rang wenigstens zwei Hüte tragen.
Also dankte ich dem Hüter für den Hinweis, denn nach allgemein gültigem Rechtsgrundsatz schützt Unwissenheit vor Strafe nicht.
Der Hüter hatte sich den Hut wieder aufgesetzt. Doch es war zu spät: zwei Arme ergriffen den Hüter, schlugen den Hut von seinem Kopf und rissen die Rangabzeichen von der Uniform, sicherten letztlich das Taschentuch als Beweismittel. Während die Arme des Gesetzes den Hüter vom Dienste befreiten und zugleich aus dem hellen Bereich der Pforte ins dunkle Innerste der Ruhestatt enthoben, kreischte ein Lautsprecher: ‚Es ist verboten, den Dienst während der Dienstzeit zu verlassen und privat auch nur das kleinste Geheimnis preiszugeben. – Sie sind bis auf Weiteres in die Strafkolonie versetzt!’
Ich hörte noch, wie der suspendierte Hüter jammerte und schrie, er habe den Dienst nicht verlassen. –
Vergebens.
Nach einer Kunstpause klang es aus dem Gerät: ‚Verehrter Gast, verlassen Sie bitte unverzüglich das Gebäude und behalten Sie für sich, was immer Sie hier erlebt haben mögen. Sie hatten einen schlechten Traum, den Sie am besten vergessen. Erfreuen Sie sich der Gnade des Gesetzes. –
Seien Sie dankbar!’, als bereits zwei andere Hüter aus dem Innersten der Ruhestatt in die Pforte getreten kamen.
Bat der eine mich ruhig zu gehen, so bellte der andere gleichzeitig: ‚Haben Sie die Botschaft nicht verstanden? –
Verschwinden Sie und sei’n Sie dankbar, dass man Sie ziehen lässt!’, dass ich vorsorglich die Ruhestatt verließ.“
In diesem Augenblick schwebte ein Taschentuch zu Boden. Der Reisende schluckte, denn er meinte, das Tuch zu kennen, und schloss doch, wie er begonnen hatte: „Alle Macht geht vom Volk aus, sagt das Gesetz. So mein ich mich zu erinnern.“ –
„Dessen erinnern wir Leute aus Chalkidhiki uns auch“, bemerkte der Herbergsvater, „da unterscheiden wir uns nicht von den Bewohnern Kafkhanistans.“ –
„Wie kann es aber sein, mein Herr, dass das Gesetz sich dessen nicht erinnert?“, fuhr der Reisende fort und fragte: „Sollte das Gesetz nicht aufrichtig sein? Gar widersprüchlich?“ – „Niemals!“, rief der Gastgeber empört und winkte erregt ab, denn inzwischen hatte er einen einfachen Filzhut aufgesetzt: „Das Gesetz ist Wahrheit und Klarheit, da findet sich kein Widerspruch. Es duldet einfach keinen Widerspruch, ruht es doch in sich selbst. – Bedenken Sie, lieber Herr Juppka, dass das Gesetz sehr alt ist und der Zahn der Zeit auch an ihm nagt, dass etwas Verschleiß vorkommt trotz bester Pflege durch streng nach noch strengeren Regeln ausgewähltes Personal. Selbst Prothesen unterliegen der Zeit. Im Laufe seiner Geschichte ist die Präposition abgenutzt und verschlissen, hat sich davon gestohlen und den Artikel allein gelassen.“
Mit den letzten Worten setzte der Herbergsvater einen Zylinder über den einfachen Hütehut, dirigierte mit einfachen Handbewegungen zwei Paar starke Arme des Gesetzes, welche Herrn Juppka ergriffen. Der Wirt sprach ruhig und sachlich: „Sind Sie nicht gastfreundlich in Chalkidhike aufgenommen worden, mein lieber Herr Juppka? Wären Sie somit nicht zumindest dem Gesetz zur Treue verpflichtet, umso mehr, als es Ihnen Vertrauen geschenkt hat und Sie laufen ließ, da Sie Zeuge eines Dienstvergehens wurden? Sie missachten seinen großmütigen Rat, indem Sie unbefugt nicht beteiligten Dritten von dem Vorfall berichten. Nach Recht und Gesetz stehen Sie nun vorm Gesetz. Indem Sie es hintergehen, gefährden Sie die rechtmäßige Ordnung und die innere Stabilität Chalkidhikes, was wir Hochverrat nennen. Da aber zu befürchten steht, dass Sie außer Landes auch die äußere Machtstellung Chalkidhikes gefährden werden, haben wir soeben beschlossen, Sie bis ans Ende Ihrer Tage in der Strafkolonie aufzunehmen, wo Sie über Ihre Vergehen nachdenken können.“ – Und zu den Armen des Gesetzes gewandt: „Bringt ihn dahin, wo der Pfeffer wächst!“
Wie der Reisende im Unbestimmten auf nimmer wiedersehen entschwand, nahm der Wirt beide Hüte zugleich ab. Doch er wirkt geschwächt, die Hände zitterten, dass Hütehut und Zylinder seinen Fingern entglitten. Ein breitkrempiger einfacher Hut und ein halb zusammengeklappter Zylinder kamen zwischen Stuhl und Tisch zu liegen - gleich einem verwaisten Pärchen am Boden. Heute noch liegen sie dort am Ort ihrer Niederkunft, hier haben wir uns versammelt. Zuvor aber fasste der Wirt sich an den Hals, da wo Xenopsylla Cheopis zugebissen hat. Die vormals helle und reine Haut des Herbergsvaters verdunkelt sich wie seine Zukunft, die bestenfalls noch drei Tage misst. Sicher ist, dass jeder, der auch nur mit ihm spricht, sterben muss.«
Und so schließt Tunga Penetrans seine Erzählung ähnlich, wie er sie begonnen hat: »Wir kamen tänzelnd übers Wasser. Düsterblau die Ladung, so schwarz wie das Meer …«
„Vorm Gesetz geht’s nach’m Gesetz“
Herr Sinn, Wirtschaftsweiser