Das Ende einer Freundschaft
Bei einer Theateraufführung sah ich sie wieder. In der Pause, kurz nach dem zweiten Schellen, entdeckte ich sie plötzlich im Foyer. Ich erkannte sie sofort. Ihr Haar war inzwischen grau geworden, so wie meins, und sie machte immer noch diesen verhuschten Eindruck. Während ich Hilde beobachtete, hob sie nicht ein einziges Mal den Blick. Sie stand nur da, stocksteif, die Schultern leicht hochgezogen, und starrte vor sich hin. Ich glaube, sie hat mich auch bemerkt, aber sie tat so, als würde sie mich nicht kennen ...
Dabei waren wir früher – genauer gesagt vor einem halben Jahrhundert – sehr gut befreundet gewesen. Damals wohnten wir in derselben Straße. Wir trafen uns fast jeden Tag, kicherten und tratschten, gingen spazieren, bummeln oder ein Eis essen.
In der Kleinstadt, in der wir lebten, kannte jeder jeden. Uns beide sowieso, denn wir galten als sogenannte „höhere Töchter“. Ihr Vater war der Apotheker und meiner Direktor einer kleinen Fabrik am Ort. Wir wussten, was die Leute von uns erwarteten: nämlich tadelloses Benehmen, Sitte und Anstand. Kurze Röcke, tiefe Ausschnitte oder gar Männergeschichten wären undenkbar gewesen.
Und dann kam jener Nachmittag ... Wir müssen so Anfang oder Mitte zwanzig gewesen sein. Ich weiß noch, es war herrliches Wetter. Wir schlenderten die Hauptstraße entlang, nur im leichten Sommerkleid. Ich trug keine Strümpfe. Zu der Zeit war ich ziemlich eitel. Ich merkte sehr wohl, wie die Leute uns – vor allem mir – hinterherschauten und so mancher Blick eines Mannes mich bewundernd streifte. Das gefiel mir. Mit hoch erhobenem Kopf stöckelte ich anmutig auf meinen hohen Absätzen daher und ließ meine Hüften schwingen. Nicht zu stark natürlich, das wäre unangenehm aufgefallen.
Hilde dagegen fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Sie hakte sich bei mir unter und schlich mit gesenktem Kopf neben mir her. Sie wollte nie auffallen, das konnte sie nicht ertragen.
Wir näherten uns einem voll besetzten Straßencafé. Der Druck von Hildes Arm verstärkte sich. Sie hasste es, an Menschen vorbeizugehen.
Mich dagegen störte das nicht. Im Gegenteil! Ich war mir bewusst, wie attraktiv ich aussah. Mein blondes Haar glänzte im Sonnenlicht und das Kleid mit dem engen Gürtel unterstrich meine Oberweite und meine schlanke Taille. Ich hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt – der letzte Schrei damals, wodurch meine vollen, rot geschminkten Lippen besonders gut zur Geltung kamen.
Auf einmal verspürte ich ein leichtes Kribbeln an den Hüften, an den Oberschenkeln. Es hörte nicht auf, jetzt kitzelte es ein Stückchen tiefer. Und dann durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag. Ich begriff, was da im Gange war und dass ich nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um es zu verhindern.
„Hilde!“, stieß ich zwischen den Zähnen hervor, „bleib stehen!“
Sie hielt inne und blickte mich erstaunt an.
Wir standen genau vor dem Straßencafé. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass an jedem Tisch Leute saßen.
Ich griff in meinen Rock, drückte den Stoff zusammen und presste die Faust gegen meinen Oberschenkel. „Der Taillenbund“, wisperte ich. „Er ist gerissen.“
Passanten gingen vorüber. Ein Mann stieß mich an. „Oh, Entschuldigung“, sagte er im Weitergehen.
Das gab meinem Schlüpfer den Rest. Unaufhaltsam rutschte er an meinen Schenkeln entlang, über die Knie, die Waden, wurde unterhalb des Saumes sichtbar und glitt sanft auf den Asphalt. Noch heute sehe ich im Geiste vor mir, wie er sich um meine Schuhe mit den Pfennigabsätzen drapierte.
Hildes Arm löste sich aus meinem. Sie war bleich, ihr Blick richtete sich nach vorn, wurde unbeteiligt. „Ich kenne dich nicht“, sagte sie tonlos und ließ mich stehen. Ließ mich einfach stehen, vor all den Leuten, mit meinen Füßen in den Beinöffnungen eines Schlüpfers!
„Die Frau hat ihre Buxe verloren!“, schrie ein Kind und lachte hell auf.
„Psst!“ Die Mutter versuchte, es zum Schweigen zu bringen.
Ein Mann mit einem Dackel näherte sich. Der Hund bellte und zog an der Leine in meine Richtung.
Hastig stieg ich aus meiner Hose, stopfte sie in die Handtasche und floh, so schnell es meine hochhackigen Pumps erlaubten.
Am Abend kam Hilde, um sich zu entschuldigen.
„Du hättest mir wenigstens Rückendeckung geben können“, sagte ich vorwurfsvoll.
„Es war mir so peinlich“, stotterte sie, „ich konnte nicht anders. Es tut mir wirklich leid.“
Irgendwie verstand ich sie. Ich nahm ihre Entschuldigung auch an. Trotzdem wurde es nie wieder wie vorher zwischen uns.
Kurz darauf zog ich in eine andere Stadt und verlor sie ganz aus den Augen. Bis heute.
Die Vorstellung war zu Ende und die Theaterbesucher drängten zum Ausgang. Ich kämpfte mich durch die Menge, suchte Hilde.
Plötzlich stand sie vor mir.
„Hallo, Hilde!“, sagte ich.
„Guten Tag.“ Sie schaute mich kurz an, ein wenig erschrocken, wie mir schien. Dann glitt ihr Blick an meinem Gesicht ab und wanderte hinunter bis zu meinen Füßen. Ich wusste genau, woran sie in diesem Augenblick dachte.
Plötzlich musste ich kichern.
Hilde hob den Kopf. Auch um ihre Mundwinkel zuckte es.
„Weißt du noch?“, fragte ich.
Sie nickte.
Und dann lachten wir Tränen.