Das Ende vom Ende
Suizidgedanken waren für ihn bis jetzt eigentlich nie ein Thema gewesen.
Um das ganze ein wenig zu relativieren: genau genommen liesse sich darüber streiten, ob er wirklich darüber nachgedacht hatte, was er gerade tat. Logisch, so ein folgenschwerer Schluss musste einfach überdacht werden. Die Definition von Denken umfasste jedoch nicht nur den Entscheid zwischen einem Döner und einer Pizza, sondern weitaus ergreifendere, tiefschürfendere Fragen. Genau genommen liesse sich aber ebenfalls darüber streiten, ob Herr Hans B. sich darüber im Klaren gewesen war, als er den entscheidenden Schritt über den Dachrand des Hochhauses gemacht hatte.
Doch zunächst einmal zu Hans B.
Was kann man über ihn sagen? Eigentlich nicht viel. Genau, werden jetzt einige Leser schreien, was laberst du uns noch voll? Der Typ kratzt ja eh in wenigen Sekunden ab! Aber mit Verlaub möchte ich hinzufügen, dass mir solche Leser erspart bleiben können, sofern es denn Leser sind und nicht jene Sorte von Leuten, die Bücher bestenfalls als Briefbeschwerer missbrauchen (auch da gibt es übrigens weitaus bessere Alternativen). Und wo wir schon bei Sorten und Konsorten sind: Hans B. gehörte jener Sorte von Menschen an, die es eventuell, aber auch wirklich nur vielleicht, möglicherweise in Erwägung ziehen, vielleicht irgendwann einmal zu denken anfangen, wenn es bereits zu spät ist – sprich, wenn sie von ihren Frauen verlassen, von ihren Kindern geächtet, von ihren Chefs verprügelt und ihre Hosen von ihren kuscheligen Hunden als Baum missbraucht worden waren. Ja, so ein Mensch war Hans B. Empörung macht sich breit, Buhrufe schallen durch den Saal und Tumult bricht los. Halt, halt! Dabei ist das gar nicht so schlimm!
Genau! Der Typ wird nämlich eh bald auf dem Boden zerschellen!
Nein, das hat einen anderen Grund (wobei ich statt „am Boden zerschellen“ lieber Originelleres wie „einer zermantschten Tomate gleichend“ bevorzuge). Nämlich müssen wir uns dabei im Klaren sein, dass wir alle unsere Fehler und Macken haben, ja man könnte sogar sagen, dass Hans B. ebendiese Macken erkannt hatte und sie nun auslöschen wollte. Natürlich tat er dies auf dem einfachsten Weg, den er erkennen konnte. Man könnte sogar sagen, dass Hans B. ein besonders mutiger Mensch war, führte dieser Weg doch, so einfach er ihn auch erachtete, fünfhundert Meter im freien Fall senkrecht hinab. (Und, wenn man es anatomisch genau nimmt, noch ein bisschen in die Breite, aber das stünde dann im anatomisch noch viel genaueren Obduktionsbericht). Auf jeden Fall hatte sich Hans B. dazu entschieden, seinem Leben ein Ende zu setzen. Der Entscheid zwischen Döner und Pizza war ihm auch nie sehr schwer gefallen (er bevorzugte letzteres), warum also sollte ihm dieser Entscheid so schwer gefallen sein? Spielte sich schliesslich beides auf der gleichen Denkebene ab. So war also die klägliche Philosophie des Mittvierzigers geformt, so hatte er also seine Schwäche erkannt und so hatte er den Schritt in die Tiefe gewagt – seinem Instinkt folgend, der auch die unteren Triebe wie Hunger oder Durst steuerte (oder auch etwas, was ich bei unserem jungen Publikum hier nicht erwähnen möchte). So also würde Hans B. das Zeitliche segnen, den Löffel abgeben, ins Gras beissen, oder auch schlicht und einfach abkratzen, wie eine gewisse unflätige Sorte Mensch es ausdrücken würde. Manche werden vielleicht denken, dass das ein armer Geschäftsmann, der bankrott gegangen war, nicht verdient hätte. Andere werden vielleicht, wie Hans B., gar nicht denken. Aber wehe dem, der auch nur ein Zucken im Mundwinkel nicht zurückhalten kann! Dem sei gesagt, dass der Umstand, der eventuell in Verbindung mit seiner Entscheidung hätte stehen können, hätte er über sie nachgedacht, alles andere als erheiternd war.
Er war von seiner Frau verlassen, von seinen Kindern geächtet, von seinem Chef verprügelt und, das war das Schlimmste von allem, seine Hose war von seinem kuscheligen Hund als Baum missbraucht worden.
So tragisch war das Ganze, so deprimierend, so ungerecht.
Aber darüber hatte Hans B. ja natürlich nicht nachgedacht. Er hatte nur darüber entschieden.
Was also Hans B. in dem Moment, als die Schwerkraft seinen Körper erfasste und ihn nach unten zog, durch den Kopf ging, das weiss keiner so recht. Naheliegend war, dass er wohl Angst verspürte – das erste und vermeintlich letzte Mal, dass er solche Kräfte verspürt hatte, war vor zwanzig Jahren gewesen, als er auf dem Jahrmarkt seine Frau kennen gelernt hatte. Er hatte neben ihr in einem Achterbahnwagen gesessen, und sie hatte laut geschrien, als es bergab ging. Dabei hatte sein Blick den ihrigen getroffen. Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt. Zwar keine Weltgeschichte, aber die rührende Geschichte zweier Menschen, die zueinander fanden. Sie heirateten, kriegten Kinder, waren glücklich – wäre da nicht ständig die Döner gewesen, die Hans B. statt Pizzas im Kühlschrank vorgefunden hatte. Abwechslung muss sein, hatte seine Frau dann jeweils gesagt und gelacht, was Hans B. dann jeweils mit einem mürrischen Knurren erwiderte. Irgendwann wurde aus dem Lachen ein Lächeln, aus dem Lächeln ein verhaltenes Hochziehen der Mundwinkel, aus ebendiesem ein neutrales Gesicht, aus dem neutralen Gesicht ein trauriges, aus dem traurigen ein wütendes, und schliesslich, irgendwann einmal, war es gar nicht mehr da gewesen.
Ja, vielleicht war es das, woran Hans B. dachte, als er in die Tiefe stürzte. Wieso war das Gesicht auf einmal nicht mehr da gewesen? Natürlich fragte er sich nicht, was er falsch gemacht hatte. Das war für ihn schon zu hoher Standard, oder wie er zu sagen pflegte, „was für diese kotzigen Spiesser“.
Ja, so konnte man sagen, dass Hans B. vieles in seinem Leben falsch gemacht hatte, aber immerhin hatte er es geschafft, seine vier Sinne zu behalten. So konnte er zumindest sehen, wo er hinstürzte. Da war ein Haufen Beton, und so graues Zeug. Wahrscheinlich sinnierte er: Metall? Stahl? Hans B. hatte den Unterschied nie begriffen. Auf jeden Fall würde es sehr schmerzhaft werden, sehr zum Leidwesen von Hans B. und natürlich dem der Leser. Tränen, Weinkrämpfe, hier ein Schluchzer, dort ein Brüllen, und schon war es um ein weiteres Leben geschehen.
Zumindest fast.
Hans B. war beileibe kein gottesfürchtiger Mensch, seiner Meinung nach war für Glaube in der Geschäftswelt, in die er hineingewachsen war, kein Platz. Man muss ein Schwein sein in dieser Welt, hatte man ihn in den Büros des Öfteren sagen hören, und sich dabei geärgert, dass er seine vermeintlichen Lebensweisheiten schamlos von gewissen Musikbands kopierte. Kopieren, das war – um eine seiner wenigen Stärken aufzugreifen – schon immer seine Spezialität gewesen. Er kopierte erfolgreich alles, was nicht niet- und nagelfest war. Noch unveröffentlichte Produkte, Geldscheine, die Mimik seines Chefs, das Aussehen seines Arbeitskollegen, und sogar Papier. Kopieren statt Neues probieren, das war eines seiner Lieblingsmottos. Tausende waren gleich wie er, und er war gleich wie Tausende. Nur hatte es Hans B. einfach weiter getrieben als andere, und nun musste er dafür bezahlen. Wo kein Glaube, da kein Weg, pflegte er sich plump zu verteidigen, wenn man ihn auf seine Schandtaten ansprach. Kein Wunder, dass ihm ersterer im Verlauf seines Lebens abhanden gekommen war. Deshalb musste es Hans B. auch jetzt nicht in den Sinn gekommen sein, an göttliche Wunder zu glauben, als sein Sturz mit einem Male abrupt endete. Dabei befanden sich noch etliche hundert Meter zwischen ihm, dem Boden und dem...Metall? Stahl? Wie auch immer. Fakt war, dass er von etwas aufgehalten worden war. Neugierde ist in der Geschäftswelt essentiell, hatte man ihn in den Büros zeitweilen auch sagen hören. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass Hans B. ebendiesem Trieb folgte und feststellte, dass er von zwei Händen festgehalten wurde, die aus einem Fenster des Hochhauses ragten. Er war nicht sehr weit gefallen – vielleicht etwa einen Meter. So, wie man Hans B. kennt, war es in der beschränkten Zeit, in der er hochgehoben und durch das Fenster gezogen wurde, um seine Denkfähigkeit auch nicht sonderlich gut bestellt. Muss man da eigentlich noch erwähnen, dass er die guten Schulzeugnisse von einem seiner Klassenkameraden kopiert hatte? Aber um zu dem wichtigen Moment zurückzukehren, in dem Hans B. das erste Mal seit seinem Entscheid wieder einen klaren Gedanken fasste: Unglaublich. Jemand hatte sein Leben gerettet.
„Höh“, war das erste, was ihm dazu einfiel. Es haben sich schon Wissenschaftler über die Bedeutung dieses Lautes gestritten. Den Leser hätte es wahrscheinlich nicht gewundert, käme am Ende raus, dass dieses undefinierbare Wort am Ende doch keine Bedeutung hatte. Also, bitte nur nicht den Kopf über solche Unwichtigkeiten zerbrechen! Man nehme an, der Leser wäre begieriger darauf zu erfahren, was den nun dieses Stück Sprachwissenschaft ausgelöst hatte: nun, es war das hübscheste Geschöpf, das Hans B. jemals gesehen hatte. Unnötig zu erwähnen, dass es eine Frau war. Blonde Locken, schmales Gesicht, zierlicher Hals, goldene Halskette. Hinter ihr tauchte ein weiteres Gesicht auf, das im vollkommenen Kontrast zum ersten wirkte. Es war alt, runzlig, war mit abstehenden Ohren und einer übergrossen Nase gesegnet, und da waren noch dazu diese weissen, spärlichen Haare. Hans B. rappelte sich unter einiger Anstrengung auf und liess seinen Blick durch den Raum schweifen, in dem er gelandet war.
Es war ein Büro.
Nicht, dass es Hans B. überrascht hätte. Sein halbes Leben war er schliesslich von diesem Lebensraum beansprucht worden und war sich ihrer Vorkommen in urbanen Gegenden durchaus bewusst. Aber ein erstauntes Gesicht machte er schon, vielleicht auch deswegen, weil er nicht damit gerechnet hatte, die satte Lebensspanne von über zehn Sekunden noch zu überschreiten. Und irgendwann vielleicht einmal wird es ihm eingefallen sein, dass das hässliche, runzelige Gesicht, das er hinter der Frau sah, sein eigenes war. Es soll Leute geben, die bei ihrem Anblick im Spiegel denken, sie sähen umwerfend gut aus. Es soll Leute geben, die denken, sie sähen absolut fürchterlich aus. Und dann soll es noch jene Leute geben, die denken, sie hätten ihr ganzes Leben durch Unsinnigkeiten vergeudet und wären dabei erschreckend alt geworden.
Ob Sinn oder Unsinn, das war für ihn bis jetzt eigentlich nie ein Thema gewesen.
Dennoch wird man sich fragen, ob nicht doch ein Fünkchen Selbsterkenntnis in Hans B. aufglimmte, als er sich selbst erblickte, dabei seine Pausbacken aufblies und die Stirn runzelte. Man hätte sagen können, dass Hans B. in seinem gegenwärtigen Zustand einen doch sehr drolligen Eindruck machte. Genau das war anscheinend auch der Frau, die ihm gegenüberstand, durch den Kopf gegangen, als sie ihn anlächelte.
„Und Sie sind?“, fragte sie ihn schliesslich.
„PR-Berater“ Die Stimme von Hans B. klang wie ein veraltetes Diktiergerät.
„Ich meinte den Namen“, erwiderte die Frau und lachte. „Kaffe? Tee?“
„Hans B.“, antwortete er gepresst, „nein, danke.“
„Berta C. Freut mich.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Haben Sie gewusst, dass in zehn Tagen die Welt untergeht?“
Er öffnete den Mund.
„Ja“, fuhr sie fort, „ich habe es in der Blick-Zeitung gelesen. Pentagon warnt vor Weltuntergang, stand dort. In zehn Tagen sei es aus. Und daran sind nur wir Schuld. Das stimmt garantiert. Die Boulevardzeitungen lügen nie. Haben Sie das gewusst?“
Er schloss den Mund wieder.
Aber da, in diesem Moment, geschah etwas, das Hans B. zusammenzucken liess. Das leise Lachen der Frau wurde zu einem Lächeln. Das Lächeln zu einem verhaltenen Hochziehen der Mundwinkel. Dasjenige zu einem neutralen Gesicht. Das neutrale Gesicht zu einem Traurigen. Das Traurige zu einem Wütenden.
Hans B. schloss die Augen. Jetzt würde es dann ganz verschwunden sein, glaubte er wohl. Doch zu seiner sichtlichen Erleichterung war es nicht verschwunden, als er die Augen öffnete, im Gegenteil, es war ihm gar ganz nah.
„Sie sind gleich wie ich, haben Sie das gewusst?“ Die Frau flüsterte mit schwankender Stimme.
„Wie...wie meinen Sie das, werte Dame?“, stotterte Hans B. und wich zurück.
„Ganz einfach“, erwiderte diese, „Sie haben genau wie ich erkannt, dass wir alle verdammt sind. Deshalb wollten Sie sich auch das Leben nehmen, nicht wahr?“
„Nun...“ Hans B. sah froh aus, als ihn die Frau nicht ausreden liess.
„Ich habe die Notwendigkeit des Dahinscheidens ebenfalls erkannt. Kommen Sie, schauen Sie nur einmal nach unten.“
Berta C. lehnte sich aus dem Fenster, und ein im höchsten Masse verwirrter Hans B. tat es ihr gleich.
„Schauen Se nur“, meinte sie und deutete mit dem Finger hinab auf die Strasse, „sehen sie all diese Menschen?“
Hans B. sah einen Haufen farbiger Pünktchen, die sich bewegten. „Ja“, antwortete er. Seine Mimik nahm die Züge seines Chefs an, wenn ein fürchterlich untauglicher Mitarbeiter ihm einen neuen Geschäftsplan vorzuführen versuchte.
„So ist es ja immer, wenn jemand Selbstmord begeht“, sinnierte Berta C. bitter, „die Leute fragen sich, was zur Hölle sich ein Mensch, der den einzig richtigen Weg eingeschlagen hat, sich dabei gedacht hat. Dabei sollten sie sich eher fragen, was zur Hölle sie gedacht haben.“ Sie wandte sich mit ringenden Händen an Hans B. „So haben Sie auch gedacht, nicht wahr? Sie haben auch darüber nachgedacht, wieso es gut ist, sich das Leben zu nehmen?“
„Äh...ja“, log er.
Hans B. blickte auf und sah in ihre Augen. Sie glänzen im Schein der Morgensonne.
„Das Leben ist nur eine Vorbereitung auf den Tod“, meinte sie und kletterte auf den Fenstersims. Hans B. rührte sich nicht. „Und glauben Sie mir, dreissig Jahre Vorbereitungszeit haben mir vollkommen gereicht. Wissen Sie, ich wollte ja nur vor ihnen dran sein. Und da Sie sich ja so schamlos vordrängelten, musste ich Sie einfach aufhalten.“
Als sie da so auf dem Fenstersims stand, wandte sie sich noch einmal zu Hans B. um und meinte: „Lesen Sie doch noch kurz die heutige Tagesausgabe des Blick, bevor Sie mir folgen. Glauben Sie mir, es lohnt sich.“
Und dann war das Gesicht verschwunden.
Hans B. kratzte sich am Kopf und blinzelte. Auf dem Tisch neben ihm lag die aufgeschlagene Sonntagsausgabe der Boulevardzeitung, daneben eine leere Kaffeetasse mit einem Löffel drin. Plötzlich konnte man hören, wie sein Magen knurrte. Doch seltsamerweise wollte er sich auch nicht auf die noch ungeöffnete Pizzaschachtel auf dem Tisch stürzen. Und irgendwie schien ihm auch die Lust auf einen schnellen Tod vergangen zu sein, wie man aus seinem bestürzten Gesichtsausdruck abzulesen glaubte. Ja, man könnte sagen, dass Hans B. sich zum ersten Mal wirklich überlegte, weshalb es für ihn das Beste war, sich das Leben zu nehmen. Das hatte er der reizenden Frau zu verdanken, die vor ihm gesprungen war. Er kam allem Anschein nach zum Schluss, dass es vielleicht doch keine gute Idee war, sein Leben zu beenden, da er sich langsam vom Fenster entfernte. Mit einem Grinsen beäugte er ein weiteres Mal den Spiegel. Der gütige Leser wird sich nun denken: er hat sein Leben ja sowieso schon vergeudet, was machten da noch ein paar weitere Lebensjährchen aus? Aus der Ecke im Saal, wo sich die Sorte „Unflätiger Mensch“ versammelt hat, wird es nun heissen: schade, dass der Kerl nicht verreckt ist. Wie auch immer aber der geneigte Leser dem Resultat gegenüber stehen möge:
Heute würde Hans B. doch noch einmal den Lift nehmen.
(die Haltung des Erzählers gegenüber Suizid spiegelt nicht diejenige des Autors wider *sichverkriech*)