Mitglied
- Beitritt
- 29.12.2004
- Beiträge
- 34
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Das Erdbeer-Mädchen
Wenn er jeden Morgen auf seinem Weg zur Arbeit in die Fußgängerzone einbog, wurde es wieder spannend. Mehrmals in der Woche arbeitete sie mit am Stand ihrer Eltern. War sie heute wieder da? Der Lieferwagen stand schon da. Der Vater trug die Ware zum Stand, als seine Tochter gerade hinter dem Lieferwagen hervor kam. Ihre langen, dunklen Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. Um ihre Beine hatte sie eine grüne Schürze gebunden und ihr Mund war so rot wie die Erdbeeren, die sie heute wieder verkaufen würde.
Obwohl er jedes Mal, wenn sie da war, eine der größten Schalen kaufte, war es so, als kannten sie sich gar nicht, als er an ihr vorbei ging. Auch in seiner Mittagspause, wenn er "zufällig" mal am Stand vorbeikam, würdigte sie ihn keines Blickes. Nur abends, wenn er Feierabend hatte und zu ihr an den Stand ging, bekam er ein Lächeln von ihr geschenkt. Jedoch mehr als "Drei Euro" und "stimmt so" redeten sie nie miteinander.
Sie musste ihn doch für bescheuert halten. Wer aß bitte so viele Erdbeeren? Bestimmt hatte sie ihre Eltern schon einmal gefragt, ob dieser komische Junge auch bei ihnen jeden Tag so eine große Schale kaufte. Und sicherlich meinten sie dann: "Nein, der kommt wohl nur, wenn du da bist", und allen wäre klar gewesen, dass sie einen heimlichen Verehrer hatte. Oh Gott, wie peinlich!
So konnte das nicht weitergehen. Dieses Mal musste er mehr zu ihr sagen. Wieder stand er da, zeigte auf eine der großen Schalen für drei Euro und gab ihr dafür zwei Zweier. Er würgte es förmlich aus sich heraus:
"Wie lange ist eigentlich noch Erdbeer-Zeit?" wollte er wissen.
"Du wirst lachen", meinte sie. "Heute ist der letzte Tag. Das hier ist unsere letzte Ware."
"Echt?" Der Schlag traf ihn ziemlich hart. Eiseskälte schoss ihm in die Hände. Wenn er jetzt nicht etwas machte, dann war es das mit ihr.
"Ja. Ab morgen hab ich endlich Ferien!" lächelte sie. Und dann: "Willst du lieber zwei Schalen? Du scheinst die ja ganz gern zu essen."
"Ja, bitte." Wie konnte er nur so etwas Blödes sagen. Alle Hoffnungen waren weg. Sag ihr doch, dass du immer nur wegen ihr da gewesen bist! Dass du gar keine Erdbeeren wolltest,
sondern viel lieber einen Kuss.
"Verkauft ihr nächstes Jahr denn wieder hier?"
"Ich denke schon. War wirklich ein guter Umsatz hier die letzten drei Wochen. Du hast deinen Teil ja auch dazu beigetragen." Sie lächelte. "Weißt du was? Die zweite Schale schenke ich dir. Als Dank für das viele Trinkgeld immer."
"Danke."
"Gern geschehen. Also, wir sehen uns bestimmt mal wieder. Bis dann."
Als er ging mit diesen zwei Schalen Erdbeeren, war er wirklich den Tränen nahe. Die Wut auf sich selbst war unbeschreiblich. Wieder hatte er sich voll als Versager hingestellt. Aber das war das letzte Mal gewesen! Nächstes Jahr würde er es ihr sagen. Er hatte ja genug Zeit, um sich die Worte genau zu überlegen. Und um die restliche Zeit zu überbrücken, hatte er ja genug eingefrorene Erdbeeren.