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Das erhörte Gebet
Er wollte sich auf die Seite rollen, konnte es aber nicht. Irgendetwas engte ihn ein.
Er öffnete die Augen.
Dunkelheit.
Panikartig versuchte er, sich aufzusetzen, kam aber nur einige Zentimeter hoch, bevor er mit dem Kopf anstieß.
Angst umhüllte ihn wie ein dunkles Tuch.
„Hallo“
„Was….soll das?“ rief er.
Er lauschte.
Stille.
Er hörte nichts außer seinem eigenem Atem.
„Hallo“, schrie er noch einmal lauter und versuchte, an die Decke seines Gefängnisses zu hämmern, aber aufgrund seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit kam nur ein leises Klopfen zustande.
Und dieses Klopfen klang nicht hohl, etwas Schweres musste von außen gegen die Wände drücken. Er fühlte Samt. Soweit er tasten konnte, war hier alles mit Samt ausgelegt. Dahinter Holz.
Sein Atem ging jetzt stoßweise.
Mit einem Schlag erkannte er, wo er sich befand.
„Hilfe, Hilfeeeeeeee“, kreischte er, während er versuchte, sich gegen den Sargdeckel zu stemmen.
„Ich lebe, ich lebe, hallo helft mir, lasst mich hier raus“, schluchzte er. Tränen und Rotze tropften von seinem Kinn.
Das Holz gab nicht einen Millimeter nach.
Mit zittrigen Händen tastete er an seinem Körper entlang, suchte nach einem Werkzeug.
An seiner Brust hielt er inne. Irgendwas spannte da auf seiner Haut. Er riss sein Hemd auf und fühlte seinen nackten Körper.
Wölbungen, da waren überall kleine Erhebungen auf seiner Haut. Jemand hatte ihn zusammengenäht.
„Aber warum..“, dachte er sich und fühlte, dass die Naht von der oberen Hälfte seiner Brust bis unter seinen Bauchnabel reichte. Er konnte sich an keinen Unfall erinnern. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er abends die Pferde ausgespannt hatte, mit denen sein Vater in das Dorf gefahren war, um Kartoffeln zu verkaufen. Er war dabei gewesen, die Trensen in die Sattelkammer zu bringen. An dieser Stelle riss seine Erinnerung ab.
Als er mit seinen bebenden Fingern über die Naht strich, fühlte er ein leichtes Kribbeln.
„Das muss ein Alptraum sein, das kann nicht - muss ein Traum sein“, sprach er laut und war kurz davor zu hyperventilieren.
Er hielt inne und versuchte, sich in sein Bett zu beschwören und aufzuwachen, aber seine Lage veränderte sich nicht.
„Nein, das ist alles nicht war, bitte, ich will das nicht, ich bin doch erst siebzehn Jahre alt, ich will nicht sterben, bitte“, dann fiel er in die willkommene Ohnmacht.
Sekunden später kam er wieder zu sich und musste sofort einsehen, dass er nicht in seinem Bett erwacht war und es auch kein Alptraum gewesen ist.
Er war immer noch hier, lebendig gefangen.
Er wand sich verzweifelt und zerrte an dem Stoff seines Gefängnisses und weinte dabei wie ein kleines Kind.
Er merkte, dass die Luft schlechter wurde. Wenn er nicht bald gerettet wurde, würde er ersticken.
Der Stoff über ihm riss und er ertastete nun das nackte Holz. Er begann mit seinen Fingern daran zu drücken und zu kratzen.
„Helft mir, so helft mir doch, bitte Gott, steh mir bei und schick mir jemanden zu Hilfe“, schrie er.
Zwar ging er jeden Sonntag mit seinen Eltern zur Kirche im Dorf, sehr gläubig war er aber nie gewesen. Jetzt betete er, flehte er und bettelte beim Herrn im Himmel um seine Rettung aus dieser ausweglosen Situation.
Schwindel durchfuhr ihn. Der Sauerstoff in seinem Sarg war so gut wie verbraucht.
Jetzt schrie er nicht mehr, er winselte nur noch leise, während er mit den Fingern kleine Kerben in das Holz kratzte. Drei Fingernägel waren ihm abgebrochen. Kleine Mengen Blut sickerten ihm durch die Hände, aber er scharrte immerzu weiter.
Seine Augen verdrehten sich nach oben bis nur noch Weiß zu sehen war.
„Bitte….“ röchelte er.
„Bitte...bitte, gib mir noch eine Chance, hier rauszukommen“, sagte er kaum hörbar.
Und kurz bevor er in eine noch tiefere Dunkelheit sank, hörte er eine Türangel quietschen…
Der erste Schnee fiel in zarten Flocken auf die Gräber des alten Friedhofs.
Der alte Totengräber Friedrich ging mit seinem Nachfolger Peter eine letzte Runde über den alten Friedhof.
„Wie gesagt, jetzt, wo der Gottesacker hier geschlossen wird, gibt es da nicht mehr viel zu tun, nur ab und zu mal nach dem Rechten sehen. Viele kommen hier sowieso nicht mehr hin, die meisten Angehörigen der, die hier begraben liegen, sind selbst schon verstorben“, sagte Friedrich und schlurfte gebückt auf das große Tor zu. Sein Rücken machte nicht mehr so mit und stellte ihm nun seine jahrelange Knochenarbeit auf dem Friedhof in Rechnung. Als sie ihn in Rente schicken wollten, hatte er sich geweigert und weitergemacht bis er nicht mehr konnte. Nun war er achtundsiebzig Jahre alt. Der Friedhof schloss und damit war seine Arbeit beendet. Er hatte damals den Job seines Vaters übernommen.
„Hey, schau mal hier“, sagte Peter und schob das Unkraut von einem verwitterten Grabstein. „Der hier ist nur siebzehn Jahre alt geworden“.
Friedrich blieb stehen und schaute auf den Stein.
„Rudolf Schuhmann
1915 - 1932
geliebter Sohn“
stand dort in verwitterten Buchstaben geschrieben.
„War ein guter Junge“, sagte Friedrich und strich sich dabei durch sein schütteres, weißes Haar.
„Wie? Den kanntest du?“ fragte Peter erstaunt, „was ist denn mit ihm passiert?“
„Nun ja“, erzählte Friedrich, „ich war erst fünf Jahre alt als er starb, aber er brachte uns immer Milch und Eier vorbei, ich erinnere mich, dass er mir immer eine Kleinigkeit mitbrachte. Eine Hühnerfeder, oder ein Hufeisen. Unsere Eltern waren befreundet. Mein Vater erzählte mir später, dass ihn ein Landstreicher aufgeschlitzt hatte, der auf ihrem Hof in der Sattelkammer klauen wollte. Rudolf hat ihn erwischt. Vom Bauch bis zum Hals soll er offen gewesen sein. Aber er hat noch gelebt und der Arzt hat ihn zusammengeflickt. Danach hat er nicht mehr geatmet.
Ja, und dann..“ Friedrich stütze sich auf einen Grabstein. Das Erzählen fiel ihm sichtlich schwer.
„Dann was?“ fragte Peter und ging zu dem alten Mann hinüber, um ihn zu stützen.
„Dann haben sie ihn erst hier vorne in die Familiengruft gesteckt“, sagte Friedrich in leisem Ton und zeigte mit seinem krummen Finger auf einige verwitterte Gruften auf einer Anhöhe des Friedhofes.
„und warum ist er da nicht mehr?“ erkundigte sich Peter, der dicht bei dem alten Mann stand, damit er diesen verstehen konnte.
„Seine Mutter kam am Tag nach seiner Beisetzung hierher. Und wie sie trauernd vor der Gruft stand, glaubte sie, ein Kratzen und Winseln aus der Gruft zu hören. Die Leute hielten sie erst für verrückt, aber dann hörte mein Vater es auch. Also haben sie die Gruft und den Sarg geöffnet. Es muss ein furchtbares Bild gewesen sein“, sprach Friedrich und schüttelte dabei traurig den Kopf.
„Das ist ja unglaublich“, sagte Peter etwas ungläubig „hat er etwa doch noch gelebt?“
„Der ganze Innendeckel des Sarges war blutverschmiert, er hatte verzweifelt versucht, sich zu befreien und sich dabei alle Finger aufgekratzt.
Seine Augen waren weit aufgerissen und man konnte den Wahnsinn darin sehen.
Als sie ihn so vorfanden, war er noch warm. Er muss kurz vorher erstickt sein.“
„Der Ärmste, das ist ja gruselig“, sagte Peter und spürte ein kaltes Prickeln in seinem Nacken.
„Die armen Eltern haben seinen Tod nie verwunden und gaben sich die Schuld daran. Danach fing der Spuk an“ sagte Friedrich, der sich nun umdrehte und auf das Tor zusteuerte, um den Friedhof zu verlassen.
„Spuk? Was jetzt? Du glaubst doch wohl nicht an Gespenster?“ fragte Peter etwas belustigt und machte sich auf, dem Mann zu folgen, er wollte an diesem Ort nicht alleine bleiben.
„Ich glaube, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die wir Menschen nicht begreifen“, sagte Friedrich, als er weiter schlurfte. „Sie haben ihn in einen neuen Sarg gelegt und die Gruft wieder geschlossen. Aber das Kratzen und Wimmern, das hörte nicht auf.
Jeden Tag um dieselbe Zeit. Da haben sie ihn dann unter der Erde begraben.
Die armen Eltern, sind nie wieder glücklich geworden“, beendete Friedrich seine Geschichte und schloss das große Tor hinter ihnen. Sah noch einmal zurück, nickte Peter zu, und ging dann den Hügel hinab zu seinem Wagen.
Peter blieb noch kurz stehen. Ihm schauderte.
„Vielleicht sollte ich meine Berufswahl doch noch mal überdenken“, dachte er und ging.