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Das ewige Warten
Das ewige Warten
Lucy saß am Fenster und sah über die Hügel. Das satte Grün, auf das sie im Sommer gesehen hatte, war zu einem welken, blassen Ton verkommen. Die Bäume um die Kate herum waren kahl und wiegten sich bedrohlich im Wind.
Mit rasender Geschwindigkeit flogen die Wolken dahin und Lucy schauderte für einen Moment. Dann ging sie in die Küche und setzte den Kessel auf. Eine Tasse Tee würde ihr gut tun und ein wenig Wärme spenden. Draußen konnte sie das Knarzen der Weiden hören, die sich im Sturm bogen. Nachts lag sie oft wach und fragte sich, wann sie umstürzen und die Kate zermalmen würden.
Der Winter hatte zu lange gedauert. Sie dachte darüber nach, wie lange sie keinen Menschen mehr gesehen hatte. Eine Ewigkeit. Zu lange war sie jetzt allein.
Schuldbewusst zuckte sie zusammen. Sie war nicht allein, er war da. Und er schlief. Sie durfte das nicht denken. Sie war nicht allein.
Der Kessel durchschnitt die Stille der Küche mit einem weichen und sanften, aber dennoch energischen Pfeifen, das unaufhörlich um sich zu greifen schien. Sie goss das Wasser über die Teeblätter. Langsam färbte sich der Inhalt der Tasse braunrot. Ein Lächeln glitt über ihre Lippen.
An einem dieser Tage würden sie kommen. Dann stünden sie vor der Tür, um ihn zu holen. Und dann wäre sie frei und könnte dieses Leben hinter sich lassen. Und sie wäre wieder allein, dachte sie, während das Lächeln erstarb.
Vor zwei Monaten war einer von ihnen hier. Sie konnte sich kaum erklären, wie er es bis zu ihr geschafft hatte, denn der Schnee lag noch mehr als hüfthoch, an diesem Tag. Und doch stand er da, in seinem schwarzen Mantel, als sei er eben aus seiner Droschke gestiegen.
Er war gekommen, um sie zu kontrollieren. Um zu sehen, wie es ihm ging und ob sie ihre Sache gut machte. Wenn er nicht mit ihr zufrieden war, wäre alles vorbei. Dann würde sie sterben müssen. Langsam und qualvoll sterben.
Lucy hatte seine Ankunft gespürt. Die Nacht war schneller hereingebrochen, als sonst und die Eisblumen hatten die Fenster dicht überzogen. Nicht einmal das schwache Mondlicht hatte mehr hereindringen können.
Als er die Tür öffnete, erlosch mit einem einzigen Hauch das Feuer im Kamin. In der Dunkelheit spürte sie seinen Blick auf sich und sank auf die Knie.
Ohne ein Wort ging er an ihr vorbei in das hintere Zimmer, um nach ihm zu sehen. Sie wagte nicht, aufzustehen, oder auch nur den Blick zu heben. Nur seine Stiefel nahm sie wahr. Schwere Lederstiefel mit genagelten Sohlen. Die Nägel waren kunstvoll angeordnet, und hinterließen Abdrücke in den Dielen. Zwei schalenförmige Vertiefungen auf der rechten Seite und der Abdruck eines nackten Fußes auf der anderen.
Aus dem Zimmer drang kein Laut. Nach einer Weile kam er zurück und schritt wortlos durch die Tür. Seine Spuren verwehten im Neuschnee der Nacht und bis zum Morgengrauen gab es keinen Hinweis mehr darauf, dass er je dort gewesen war. Nur die Abdrücke in den Dielen blieben. Aber Lucy gab acht, nicht darauf zu treten, denn die Wärme, die sie ausstrahlten, machte ihr Angst.
An manchen Tagen hatte Lucy das Gefühl, die älteste Frau der Welt zu sein. Jede Bewegung fiel ihr schwer. Von Tag zu Tag mehr. Lucy stellte die Teetasse neben ihren Stuhl am Fenster. Es wurde Zeit. Sie musste zu ihm hinein und ihn versorgen.
Sie konnte nicht sagen, ob er sie anblickte, als sie hereinkam. Er lag nur da und bewegte sich kaum. Aber sie hatte hier drinnen immer das Gefühl, als wisse er alles von ihr, als sauge er sich an ihr fest und nähre sich von ihrer Anwesenheit.
‚Auch er braucht Wärme und Nähe. So wenig er es auch zugeben kann, er braucht mich.', dachte sie im Stillen. ‚Er hat mich schon immer gebraucht.' Sein Körper wand sich in diesem Moment aus ihren Händen. ‚Ich darf mich nicht ablenken lassen', schalt sie sich. ‚Ich habe eine Aufgabe.'
Wieder und wieder tauchte sie die Hand in den Bottich und rieb seine blasse, beinahe durchscheinende Haut mit dem Balsam ein. Diese Prozedur wiederholte sich drei Mal am Tag. Seit langer Zeit. Sein Körper wuchs, langsam aber stetig. Er war jetzt beinahe einen halben Meter lang. Ohne Kopf und Gliedmaßen, dicklich und mit kleinen Einschnürungen. ‚Wie eine Made', hatte sie einmal gedacht. Und es bitter bereut.
Mit einem leisen Seufzer sank sie in ihren Stuhl. Das Frühjahr ließ zu lange auf sich warten. Jeden Tag sah sie auf die Wiesen. Das junge Grün sollte längst sprießen und kleine Blumen sollten ihre Köpfe herausrecken. Aber dasselbe graue Grün erfüllte ihren gesamten Horizont. Lange konnte es nicht mehr dauern. Dies war der längste Winter ihres Lebens. Aber wenigstens war sie nicht allein.
Manchmal wünschte sie sich, mit ihm reden zu können, aber in diese Gedanken mischte sich Furcht vor dem, was sie erfahren könnte. Die Einsamkeit machte ihr mehr und mehr zu schaffen. Im letzten Sommer hatte sie noch eine Katze gehabt, aber die war davongelaufen, als sie ihn gebracht hatten. Damals war er kaum größer gewesen, als die Katze, aber seit diesem Tag war sie nicht zurückgekehrt.
Lucy hatte trotzdem jeden Tag Milchpulver für sie angerührt und es hinausgestellt. Aber an dem Tag, als der Napf zu dritten Mal am Morgen zugefroren war, hatte sie damit aufgehört.
Seitdem war sie mit ihm allein. Sie war an die einsamen Winter gewöhnt. Daran, keinen Menschen zu sehen und mit ihren Vorräten ein paar Monate hauszuhalten. Aber in diesem Winter war es kälter, als sonst. Und einsamer. Und stiller. Vor allem war es stiller. Nicht einmal Vögel saßen in den Weiden hinterm Haus. In diese Gedanken versunken schlief sie ein, bevor das Feuer heruntergebrannt war.
Das Poltern schreckte sie auf. Sieben Gestalten in schwarzen Mänteln standen vor der Kate. Der größte von ihnen gab das Kommando und in einer spitzen Formation schritten sie auf die Tür zu. Ohne anzuklopfen betraten sie das Haus. Lucy hatte das Gefühl, dass sie die Tür nicht einmal berührten. Sie sprang einfach vor ihnen auf.
"Wir sind gekommen, um den Meister zu holen." Die Stimme klang hohl. So als würde er in ein Regenrohr hineinsprechen. Lucy nickte stumm.
Der Anführer ging auf den hinteren Raum zu. Vor der Schwelle ließ er sich für einen Moment auf die Knie sinken. Dann betrat er das stille Zimmer. Einige Minuten später kehrte er zurück und trug ein großes Bündel im Arm wie ein Kind. Die sechs Übrigen fielen auf die Knie und senkten den Blick.
"Du hast gut für ihn gesorgt. Nun kann er mit uns kommen und seinen rechtmäßigen Thron wieder in Besitz nehmen. Er wies mich an, dir zu danken." Der Anführer neigte den Kopf. Nach einer kurzen Weile bedeutete er den anderen, sich wieder zu erheben.
Lucys Mund fühlte sich an wie mit Sand gefüllt. Sie konnte nicht sprechen. "Du sollst belohnt werden für deine treuen Dienste", fuhr er mit derselben hohlen Stimme fort. Lucy wollte etwas sagen, aber sie fand keine Worte. Ihr Mund war noch immer ausgetrocknet und starr. Seit sehr langer Zeit hatte sie mit niemandem mehr gesprochen. Sie fühlte sich müde und alt. Nur zu gern wollte sie dieses Leben hinter sich lassen. Endlich waren sie gekommen, um ihn zu holen.
Der Anführer nickte den Übrigen zu und verließ die Kate. Den Meister trug er im Arm. Er schlug die Decke zurück und hielt ihn ins Mondlicht. "Nun bist Du stark genug, in die Welt und ins Licht zurückzukehren, und zu vollbringen, was dir gebührt. Wir werden an deiner Seite kämpfen und dein Reich von Neuem dir Untertan machen."
Als Lucy durch das Fenster hinaussah, breitete sich ein Lächeln um ihre Mundwinkel aus. Sie hatte ihn gepflegt und ihm zu neuer Macht verholfen. Seine Feinde hatten ihn vernichten wollen und beinahe wäre es ihnen gelungen. Aber sie hatten nicht mit ihr gerechnet. Jahrhundertealte Traditionen waren ihr allzu vertraut. Keine Verfolgung und keine Verbrennung hatten verhindern können, dass sie hier gewesen war, um den Meister zu retten.
Mit einem Lächeln hielt sie den Übrigen das linke Handgelenk entgegen. Einer von ihnen trat vor und zog einen silbernen Dolch und schnitt über die Innenseite ihres Handgelenks. Dunkles Blut quoll aus ihren Adern hervor und bevor ein Tropfen davon auf den Boden fallen konnte, presste sie die Wunde an ihre Lippen.
Mit der Geschwindigkeit, mit der sich ihr eigenes Blut in ihr ausbreitete, verwandelte sich endlich ihr Körper. Noch einmal würde sich der Kreislauf wiederholen. Wieder würde sie warten, bis der Meister sie brauchte. In ein paar Stunden würde sie einmal mehr das junge Mädchen sein, dass darauf harrte, dass man den Meister brachte, weil er erneut Hilfe brauchte. Das Warten würde eine Ewigkeit dauern. Und gleichzeitig würde sie hoffen, dass man ihn nicht brachte. Dass er sein Werk vollenden könne und sein Reich komme.