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Das Fahrrad

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27.10.2004
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Das Fahrrad

Das Fahrrad

November. Es war morgens schon kalt, wenn sich Natalie auf das Fahrrad schwang und in die Stadt fuhr. Das Gefährt war nunmehr etliche Jahre in der Benutzung und hatte bereits fleißig Rost angesetzt. Bei jedem Tritt in die Pedale quietschte es hörbar. Wenn man sich daran gewöhnt hatte, bemerkte man den Ton gar nicht mehr. Es fehlte nur irgendetwas, wenn es dann ausnahmsweise doch mal geölt war, was sehr selten der Fall war.
Öl war teuer und wurde normalerweise nicht für Schnickschnack oder Hobby benutzt. Auch wenn es sich bei Natalies Tätigkeit um das verdienen von Geld handelte, war es nicht möglich, etwas von dem Erlös ihrer Bemühungen in das Gefährt zu investieren. „Wo nichts ist, da kann auch nichts ausgegeben werden“, pflegte ihr Vater immer zu sagen. Jedenfalls zu der Zeit, wo er noch mit funktionierenden Lungen durch die Welt wanderte. Bei dem Gedanken an ihren Erzeuger senkte Natalie das Haupt. Möge Gott seiner Seele die Erleuchtung bringen.
Der Verkehr war um diese Uhrzeit, zwischen neun und zehn, in sehr entspannter Stimmung und geleitete die Reisenden einigermaßen sicher über die Straßen. Die Ampeln schalteten günstig und beförderten die Jugendliche schneller als erwartet zu ihrem Ziel. Die Riedergasse war ein ganzjähriger Ersatz für die in den letzten Jahrzehnten ausgebliebenen Flohmärkte der Stadt und zu jeder Jahreszeit reich besucht. Unter Bettlern, Demonstranten, Werbern und Dieben nicht unbekannt und als Geheimtipp reich genutzt, versammelte sich hier das gemeine Volk und die Unterschicht, um zu handeln, Hälse abzuschneiden oder sich einfach nur an den farbenfrohen oder skurrilen Ständen zu erfreuen, die entlang der ganzen Straße ganzjährig ihren Platz hatten.

Der erste Besucherdrang hatte schon begonnen, als Natalie das metallische Gestell auf den Bürgersteig wuchtete und es gegen eine Laterne band. Sie setzte ihren Rucksack auf dem verschmutzten Asphalt ab und zog ein Papp-Schild daraus hervor. Sie legte es behutsam auf den Sattel des Fahrrads und widmete sich dann der kleinen Schatulle, die sie ebenfalls aus dem dunklen Hubraum des Rucksackes gezogen hatte. Mit einer langsamen Bewegung öffnete sie den Behälter, stellte ihn auf dem Bürgersteig ab und stellte sich dahinter, das Papp-Schild an ihre Knie gestützt.

„Scheiß Wetter heute, oder?“ fragte eine ihr wohl bekannte Stimme.
„Nicht nur das“, stellte Natalie nüchtern fest. Wie immer. Neben ihr plumpste Sonja auf den Boden, die Haare noch vom Schlaf durcheinander, das Gesicht dreckig, wie seit Tagen schon. Es störte niemanden. Wenn doch, war es sein persönliches Problem und für die beiden irrelevant.
„Heute schon was verdient?“ gähnte Sonja.
„Nein, natürlich nicht. Wäre doch eigentlich noch gar nicht hier.“
„Ach ja.“ Sonja lachte. „Ich vergesse immer, dass ich auch nicht viel später als du ankomme. Alte Gewohnheit.“
„Ja, die alten Zeiten.“
„War lustig."
„Ja, sehr lustig“, murmelte Natalie, in Gedanken ein Jahr in der Zeit zurückgereist. Die Krankheit in ihrem Vater begann, ihre Arme auszubreiten und ihm den Atem zu nehmen. Das Geld wurde noch knapper, das Leben schwieriger. Eine Zeitlang hatten sie zu zweit als Prostituierte gearbeitet und die Freier anschließend bestohlen. Das war, bevor sie die Riedergasse entdeckt hatten. Die alten Zeiten… welch schöne Erinnerungen. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich an keine Zeit in ihrem Leben erinnern, zu der sie wirklich glücklich war. Wie lange hielt so eine Phase an?
Seit drei Monaten bettelten sie nun, die beiden Freundinnen.
„Wie geht es dem Rad?“
„Gut, es quietscht lauter als je zuvor“, sagte sie. Danke für die Erinnerung daran, dass alles in Zukunft noch schlechter werden wird, dachte sie dabei. Gut, das Fahrrad war nicht zwingend notwendig, ihr Bruder schaffte es auch ohne Hilfsmittel oder per Anhalter alleine hierhin, doch was würde es bedeuten, noch weniger Zeit zum schlafen, oder wahlweise zum Geld verdienen zu haben?

„Was soll’s“, sagte Sonja. „Ist doch nur ein Ding mit Rädern. Irgendwann kommen wir hier raus. Dann zeig ich dir Räder, da bekommst du Eselsohren.“ Sie stieß der Pessimistin neben ihr in die Seite. „Die haben einen Aluminium-Rahmen und Federung. Frag mich nicht, was genau das heißen soll, aber es klingt himmlisch.“
„Toll.“ Glaubst du wirklich, ich verfalle in Euphorie?, flüsterte eine Stimme in Natalies Kopf.
„Na ja, jedenfalls sieht es gut aus.“
„Vieles sieht gut aus.“ Nur die Zukunft nicht, meine Liebe. „Vielleicht merkst du das auch irgendwann.“
Sonja hob eine Augenbraue. „Was?“
„Entschuldige, ich habe wohl laut gedacht. Nicht so wichtig.“
Ein dicklicher Mann mit einem Zylinder auf dem Kopf ging schnaufend vorbei und warf eine Münze in die Schatulle.
Natalies Freundin grinste. „Siehst du. Ich habe es dir doch gesagt.“

Der Rest des Tages verlief mit einigen weiteren Glücksfällen, die sich bis zum Ende des Tages in einen kleinen Stapel aus Münzen verwandelt hatten. Zwischendurch regnete es ab und zu einmal leicht, doch alles in allem war es ein erträglicher Moment in Natalies Leben. November. Noch ein Monat lag vor ihr. Ein Monat, bis sie wieder 365 Tage hinter sich gebracht hatte.

Langeweile, Spannung, Freude, Trauer, Gleichgültigkeit, Interesse. Sie wusste nicht, inwieweit sich die Emotionen abwechselten, doch unterm Strich blieb es ein gängiges Hin und Her. Es dämmerte, als sie ein letztes Mal die Straße entlangblickte, die zu Unrecht die Bezeichnung Gasse in ihrem Eigennamen hatte.

„Das war doch gar nicht schlecht heute“, sagte Sonja.
„Ja.“ Natalie fror. Sie zog den schwarzen Mantel enger an ihren Körper, um keine Wärme entweichen zu lassen. „Wir sehen uns morgen.“

Sie bestieg ihr Fahrrad und fuhr denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Sie hielt sich am Rande der Straße, da sie dank fehlender Lampe nicht gut zu sehen war. Sie würde heute ihre wöchentliche Dusche nehmen und sich dann zu Bett begeben, um morgen Früh wieder in der Riedergasse sitzen zu können. 365 Tage…

 

Hallo erstmal!

Vielen Dank für die Kritik, bzw. das Lob. Ich dachte schon, niemand liest diese Geschichte (Erstling ^^).

Noel Smith schrieb:
Interessant. Die Geschichte hätte sehr gut unter Alltag stehen können, da sie meiner Meinung nach genau das beschreibt.
Gefiel mir sehr gut! :thumbsup:

Ich hab länger überlegt, wo ich sie posten soll, doch mir fiel kein passendes Forum ein, darum habe ich es unter "Sonstiges" geschoben.

Nicht ganz verstanden habe ich die Rolle des Fahrrads. Zum einen muß es einen enormen Stellenwert für Natalie haben. Immerhin hat sie nicht viel. Auf der anderen Seite spricht sie eher distanzert von dem Ding.

Natalie hat sich beinahe damit abgefunden, jeden Tag dieselbe Leier zu ertragen. Dennoch passt es ihr nicht, von dem Fahrrad abhängig zu sein. Sie hat wohl eine Art Hass-Liebe zu dem Gefährt entwickelt.

Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, welche Aussage ich mit der Geschichte treffen wollte. Ich war wohl wieder schlecht gelaunt und musste mir Luft machen...


Klip

 

Hallo Klip,

das Fahrrad ist für Dich das die Geschichte einrahmende Symbol für die Tristesse und Zukunftsangst der Protagonistin. Dies wird aber abgeschwächt durch:

„Gut, das Fahrrad war nicht zwingend notwendig“.

An sich finde ich es gut, einen einfachen Gegenstand mit der Lage einer Person in Beziehung zu setzen, doch es gibt in der Geschichte keinen Höhepunkt, keine plötzliche Wendung (oder ähnliches), um sie attraktiv zu machen.

Noch einiges zum Verbessern:

Es fehlte nur irgendetwas, wenn es dann ausnahmsweise doch mal geölt war, was sehr selten der Fall war. - Wiederholung von „war“.

Jedenfalls zu der Zeit, wo er noch mit funktionierenden Lungen - als er

Der Verkehr war um diese Uhrzeit, zwischen neun und zehn, in sehr entspannter Stimmung und geleitete die Reisenden einigermaßen sicher über die Straßen. Die Ampeln schalteten günstig und beförderten die Jugendliche schneller als erwartet zu ihrem Ziel. Die Riedergasse war ein ganzjähriger - Die Personifizierung des Verkehrs passt nicht, Verkehr hat keine „Stimmung“. „Reisenden“ ist übertrieben, eher `Pendler´. Die Ampeln können niemanden befördern. Die Riedergasse tauch zu unvermittelt auf: .... zu ihrem Ziel, der Riedergasse. Diese war ein ganzjähriger ....


Der erste Besucherdrang hatte schon begonnen, als Natalie das metallische Gestell auf den Bürgersteig wuchtete und es gegen eine Laterne band - an eine Laterne (metallisches Gestell kommt mir als erzwungenes Synonym vor, Fahrzeug, Drahtesel ....).

dunklen Hubraum des Rucksackes- Hubraum gibt´s nur bei Motoren.

Wäre doch eigentlich noch gar nicht hier.“ - Hier fehlt der Grund: ... hier, wenn ...

ihre Arme auszubreiten und ihm den Atem zu nehmen - die Krankheit zieht eher ihre Arme immer mehr zu, umschlingt ihn immer fester.

Die alten Zeiten… welch schöne Erinnerungen. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich an keine Zeit in ihrem Leben erinnern, zu der sie wirklich glücklich war. Wie lange hielt so eine Phase an? - Erst schöne Erinnerungen (wobei das bei einem Leben als Straßendirne zu bezweifeln ist), dann nie glücklich gewesen?

doch unterm Strich blieb es ein gängiges Hin und Her. - Was bedeutet „gängiges“?

Die Krankheit in ihrem Vater begann, ihre Arme auszubreiten und ihm den Atem zu nehmen. Das Geld wurde noch knapper, das Leben schwieriger. Eine Zeitlang hatten sie zu zweit als Prostituierte gearbeitet und die Freier anschließend bestohlen. - Zuletzt wird der vater genannt: Hatte sie mit ihm „zu zweit als Prostituierte gearbeitet“?

Tschüß... Woltochinon

 

Hi Woltochinon,

danke erst einmal für die ausführliche Auflistung an Dingen, die es noch zu verbessern gilt. Ich werde mich in der nächsten Zeit nochmal hinsetzen und die Geschichte überlesen. Das Wörtchen "war" scheint meine Schwachstelle zu sein, ist mir schon mehrfach aufgefallen. Ich merke irgendwie nicht, wenn ich es schreibe...

 

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