Was ist neu

Das fehlende Teil

Werdendes Mitglied
Beitritt
27.08.2001
Beiträge
80
Zuletzt bearbeitet:

Das fehlende Teil

Das Geschäft in dieser schmalen Straße, weit ab vom Hauptverkehrsstrom, war Paul noch nie aufgefallen.
Er wusste nicht, warum er gerade heute diesen Weg eingeschlagen war, aber als er es bemerkte, erschien ihm für eine Umkehr zu umständlich. Die Straße, die an ihrem Ende in die stark befahrene Hauptstraße münden musste, zog sich entlang dichtstehender, teilweise vierstöckiger, Häuser. Die Gebäude waren alt, viele bestimmt über hundert Jahre. Schwarze Fensterlöcher, Augenhöhlen toter Riesen gleich, starrten ihn an. Kälte schien aus ihrem Innern zu strömen. Paul fröstelte es.
Fehlt nur noch dichter Nebel und eine zahnlose Hexe, dachte er und ein kurzes Grinsen stahl sic über sein Gesicht. Auf Gedanken kommt man!
Am Straßenrand standen keine Fahrzeuge. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand lebte. Keine Menschenseele kam ihm entgegen oder überholte ihn. Nichts und niemand!
In der Ferne konnte er den Fahrzeugverkehr hören. Ein vertrautes Geräusch, beruhigend für seine trüben Gedanken.
Der Mensch schafft sich seine eigene Angst, sinnierte Paul weiter.
Plötzlich stand vor einer Glastür, breiter als die üblichen Haustüren. Die Tür war bunt beklebt, mit Werbeaufklebern für Spielzeuge. Die Namen der Hersteller sagten Paul aber nichts. Hinter der Glastür brannte Licht. In keinem der anderen Türen und Fenster hatte er Helligkeit vernommen. Oder täuschte er sich nur?
Hier war ein Geschäft! Geöffnet.
Paul drehte sich um und blickte rechts und links die Straße entlang. Wie war er zu dieser Tür gekommen? Er konnte sich nicht daran erinnern, sie gezielt angegangen zu sein. Die Straße war immer noch leer, es war auch verdammt still hier. Nicht einmal ferner Straßenlärm war mhr zu hören.
Seine Augen wanderten wieder zur Tür und Paul zuckte erschrocken zusammen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der grauhaarige Mann auf der Treppe und lächelte ihn dabei freundlich an. Er trat einen Schritt zur Seite und bedeutete Paul einzutreten. Die Tür stand nun offen.
„Was! Woher..., mein Gott, woher kommen Sie denn?“, stotterte er.
„Ich bin der Besitzer. Ich verkaufe Spielzeug. Sie sind ein Kunde!“
„Ein Kunde? Ich wollte nichts...“, entgegnete Paul etwas unwirsch, stockte aber..
„Das macht nichts. Kommen Sie ruhig herein. Ich habe für jeden etwas!“
Paul schätzte ihn auf Anfang sechzig, nicht jünger. Alles an ihm erschien grau. Die Haare, die Augen, der Anzug, sogar die Haut der Hände und im Gesicht schimmerte aschfahl. Im Grunde genommen eine ungesunde Erscheinung, fand Paul für sich, aber trotzdem machte er einige Schritte vorwärts und trat in den Laden.
Ich brauche kein Spielzeug, sagte sich Paul. Hinter ihm schloss der Graue die Tür. Paul erwartete das Bimmeln eines Glöckchens, was in vielen alten Geschäften die Kunden ankündigte oder sie verabschiedete. Nichts ertönte.
Die Einrichtung des Geschäftes war spartanisch. An den Wänden standen einfach Holzregale und gegenüber dem Eingang befand sich ein alte Theke mit einer Kasse darauf.
Jeder Winkel des Raumes, der vielleicht fünfzehn Quadratmeter maß, war vollgestopft mit Kisten und Kartons. Die Regale bogen sich regelrecht unter der Last der bunten Schachteln. Paul fühlte sich regelrecht aufgefordert von der Verpackungen, sie anzufassen, einfach mitzunehmen. Sie lockten ihn. Wisperte da etwas in seinem Kopf?
Ein Schauer rieselte ihm über den Rücken.
„Schauen Sie sich ruhig um, Herr“, hörte Paul die Stimme des Verkäufers hinter sich. Er schluckte und drehte sich um. Die grauen Augen des Mannes fixierten ihn.
„Tja. Eigentlich will ich nur nach Hause...“
„Aber, aber. Für eine Stöberei in meinen Spielen ist immer etwas Zeit. Oder etwa nicht?“
Darauf wusste Paul nichts zu antworten. Also zuckte er mit den Schultern und trat an ein Regal heran.
So konnte er sehen, dass sich nicht nur Spiele bis zur Decke stapelten, sondern auch Puzzles und Modellbaukisten. Keine der Firmen, die ihre Logos auf der Verpackungen prangen ließen, kam ihm bekannt vor.
„Haben Sie keine Spiele von den bekannten Herstellern?“, fragte er den Ladenbesitzer, ohne sich umzudrehen.
„Aber Herr, ich kenne sie alle!“
„Ich kenne hier keinen der Hersteller!“
„Das muss nichts heißen. Ich habe sehr gute Spiele.“
„Ah ja.“
Paul war’s jetzt egal. Er schritt die Regalwand ab und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Seine Hände griffen in Augenhöhe in einen Stapel und zogen eine Pappkiste hervor. Das war es wieder. Ein Schauer in seinem Nacken.
„Ich nehme dieses Puzzle hier“, sagte er, sich zum Spielwarenhändler umdrehend. Eigentlich lege ich keine Puzzles, durchzuckte es ihn aber schon legte er den Karton auf die Theke und zückte seine Brieftasche.
„Sie werden Ihre Freude an dem Puzzle haben. Viele schöne Stunden!“
Lächelnd zählte er Paul das Wechselgeld ab und steckte die Kiste in eine weiße Plastiktüte.
„Auf Wiedersehen!“, sagte der Mann, seine Stimme zitterte etwas..
„Ja - auf Wiedersehen!“
Paul schritt zur Tür, öffnete sie und erwartete wieder das Bimmeln aus seiner Kindheit. Wieder nichts. Er trat auf die Straße und ging in die Richtung, die er von Beginn an eingeschlagen hatte. Schnellen Schrittes erreichte er die Hauptstraße, ohne sich noch einmal umzublicken. Als er wieder das Getöse des Verkehrs und der Menschen vernahm, blieb er kopfschüttelnd stehen. Dabei schaute er sich um und starrte die einsame Straße zurück. Sie lag immer noch so leer da, wie er sie vorgefunden hatte.
Ich bin bescheuert, sagte er sich.
Sein Blick glitt zur Armbanduhr. Eine halbe Stunde Verzug! Seine Frau wartete bestimmt ungeduldig zu Hause und bei seinen Kindern musste er eigentlich noch die Hausaufgaben kontrollieren.
Er setzte zu einer schnellen Schrittart an und warf sich ins Gewühl. Er wohnte nur einen Kilometer von hier in einer Stadtwohnung, mit Blick auf Autos, Menschen und Straßenbahn.
Schwer atmend erreichte er den Eingang des Hochhauses.

*

„Hallo, hier bin ich!“, rief er in einem bemüht lockeren Tonfall in den Flur. Er legte das Puzzle auf das Sideboard und hing seine Jacke an die Garderobe. Niemand antwortete ihm. Als er die Küche betrat, erwartete ihn seine Familie am Tisch versammelt. Sein Platz war natürlich leer. Eine gedämpfte Stimmung schlug ihm entgegen, alle blickten ihn mit unterkühltem Blick an.
„Tut mir leid, Leute. Ich wurde aufgehalten!“, versuchte er eine Entschuldigung.
„Ach, du wusstest doch, dass wir mit dem Essen auf dich warten. Und dann die Hausaufgaben! Dennis schreibt morgen...“, fuhr ihn seine Frau an.
„Ja, es ist ja noch Zeit. Entschuldigung. Wir legen gleich los.“
Die Mahlzeit beendeten sie ohne viel Worte. Die Kinder wussten, dass sie sich ruhig halten mussten, wenn zwischen ihren Eltern Knatsch war. Sie wollten ja schließlich nicht zwischen den berühmten Mühlsteinen zermalmt werden.
Während Sabine, seine Frau, den Abendbrottisch säuberte, kümmerte sich Paul um seine Kinder. Das machte er jeden Abend so. Da er aber spät dran war und auch noch mit dem Puzzle beginnen wollte, beeilte er sich. Er überflog die Hausaufgaben und hörte Dennis noch schnell die Vokabeln ab.
Dann schickte er die beiden zu Bett.
„Sabine, ich bin in meinem Arbeitszimmer!“
„Warum? Ich habe uns eine Flasche Rotwein aufgemacht. Nachher kommt das Quiz im Fernsehen!“
„Ah, nein, Sabine. Ich habe mir heute ein Puzzle gekauft. Ich will damit anfangen.“
„Ein Puzzle?“ Seine Frau kam aus der Küche und starrte mehr als verwundert auf ihren Mann, der mit einem bunten Pappkarton im Flur stand. „Seit wann hast du Interesse an Puzzles?“
Paul zuckte mit den Schultern und ging an ihr vorbei. „Ich bin in meinem Zimmer, Schatz. Ich fange zumindest an, dann komme ich zu dir ins Wohnzimmer!“
Fassungslos starrte sie ihm nach, wie er in seinem Arbeitszimmer verschwand. Wütend knallte sie das Geschirrtuch vor den Türrahmen.

*

Nach zwei Stunden kam Paul aus seinem Zimmer und gesellte sich zu seiner Frau.
„Auch schon da?“, fragte sie nur schnippisch und blickte weiter auf den Fernsehschirm. Sie lag bequem auf der Ledercouch und hielt ein hohes Glas Rotwein in der rechten Hand.
„Ja, ich brauche ein Pause“, meinte Paul und schenkte sich Wein in das leere Glas auf dem Glastisch. „So ein Puzzle ist schon faszinierend.“
Sabine lachte auf. „Wenn die Kinder mit dir puzzeln wollten, hast du nie Lust gehabt!“
„Ach ja? Nun...“
„Keine Ausreden. Und jetzt bleibst du hier! Du kannst morgen weiter deine Minibildchen legen. Bleib hocken!“ Sabine lehnte sich an ihn an.
„Wie war denn dein Tag heute? Beim Abendessen haben wir uns ja nicht unterhalten.“
„Das lag ja wohl nicht an mir!“, maulte Paul nur und nippte am Wein. Staubtrocken. So wie er ihn mochte. „Der Wein ist gut!“
„Wo hast du das Puzzle gekauft?“
„In einem kleinen Laden in einer Nebenstraße. Den Laden kannte ich vorher gar nicht. Da gab es einen Haufen Spiele und Puzzles und so.“
„Dann schau dich dort schon mal nach Weihnachtsgeschenken für die Kinder um“, meinte Sabine lachend.
Sie schwiegen nun beide und schauten fern. Der Abend endete doch noch versöhnlich.

*

Paul konnte den nächsten Abend kaum erwarten. Der Tag im Büro verging aber seltsamer Weise wie im Flug. Beschwingt verließ er in der Früh das Haus und stürzte sich in der Firma auf seine Abrechnungen. Die Arbeit ging ihm locker von der Hand, was an seinen schwingenden Gedanken lag, die ständig um das neue Puzzle kreisten. Er verließ pünktlich seinen Arbeitsplatz, was ihm einen verwunderten Blick seines Kollegen einbrachte. Paul nickte ihm nur grinsend zu und verschwand.
Zu Hause angekommen verschwand er sofort in seinem Zimmer. Die Kinder waren zum Sport und Sabine machte noch Besorgungen. So konnte er sich ungestört um sein neues Hobby kümmern.
„Warum steht das Abendbrot noch nicht auf dem Tisch?“, fragte Sabine, als sie später in seiner Zimmertür stand. Erschrocken hob er den Kopf und starrte sie verwundert an.
„Abendbrot?“
Sabine sagte nichts, machte kehrt und warf die Tür hinter sich zu, was Paul mit einem Zucken um die Augen herum beantwortete. Dann vertiefte er sich wieder in die Fummelarbeit – um wenige Sekunden später damit aufzuhören.
„Das Abendessen...“, stieß er hervor und ging in die Küche. Dort warteten eine böse dreinblickende Sabine und zwei Kinder, die sich mit Mühe ein Grinsen verkneifen konnten. Sie dachten dabei die berühmten Mühlsteine...

*

Nachdem die nächsten Tage für Paul, seine Kollegen und seine Familie relativ harmonisch verliefen, bis auf ein paar Unachtsamkeiten hie und da ließ er sich nichts zu Schulden kommen, hatte er nach über einer Woche nach Kauf des Puzzles plötzlich keine Lust mehr, seine Arbeitsstelle aufzusuchen.
Er blieb in seinem Bett liegen, einmal, weil er sehr müde war, da er am Abend zuvor bis in die frühen Morgenstunden gepuzzelt hatte und zum anderen, weil er meinte, dass er zu erkranken drohe.
Sabine warf ihn regelrecht aus dem Ehebett.
„Bist du verrückt, Paul? Erst kommst du nicht ins Bett und dann nicht heraus. Und erzähl mir nicht, dass du krank bist!“
Murrend machte er sich daran, den Weg zur Arbeit einzuschlagen.
Er kam eine Stunde zu spät.

*

„Daniel hat eine Fünf in Mathe geschrieben!“, sagte Sabine nach dem Abendessen, als die Kinder in ihren Zimmern waren.
„So“, meinte Paul und dachte an ein ungelöstes Problem mit seinen Puzzlesteinen.
„Interessiert dich das nicht?“
„Doch“. Irgendetwas in der gelegten Landschaft passte nicht so zusammen, wie es sollte.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Paul schüttelte unbewusst den Kopf und ging in sein Arbeitszimmer. Sabine stand mit offenem Mund in der Küche und schnappte nach Luft.

*

Paul verließ jeden Morgen das Haus, mal früh, mal später. Meistens später. Er kam übernächtigt im Büro an und arbeitete mechanisch seine Aufgaben ab. Jeden Tag kassierte er mindestens einen Rüffel und als sein Abteilungsleiter ihn zur Rede stellte, zuckte er nur mit den Schultern. Er hatte das Problem mit seinem Puzzle immer noch nicht gelöst. Das war vorrangig.
Er nickte seinem Chef nur zu und verließ dessen Büro. Der Mann hinter dem Schreibtisch starrte einem seiner verlässlichsten Mitarbeiter mit großen Augen hinter her.
Fassungslos.

*

Ende der vierten Woche nach Kauf des Puzzles verkroch sich Paul am Abend sofort wieder in seinem Zimmer. Er warf seine Aktentasche in die gewohnte Ecke, wunderte sich aber kurz, dass er keinen Aufprall hörte. Mit schrägem Blick sah er in die vertraute Ecke, sah aber keine Tasche.
„Ist wohl noch im Büro“, sagte er nur.
Grußlos, ohne seine Umgebung eines weiteren Blickes zu würdigen, hastete er zu seinem Zimmer, schloss es auf und setzte sich hinter seinen Schreibtisch und starrte auf das Puzzle. Er hatte es sich angewöhnt, das Zimmer vor Verlassen des Hauses abzuschließen. Vor einigen Tagen hatte er Sabine, nachdem er früher als gewohnt nach Hause gekommen war, erwischt, wie sie sein Puzzle in den Mülleimer schmeißen wollte.
Er schlug ihr wütend ins Gesicht und stieß sie aus dem Zimmer. Seitdem schloss er immer ab.
Grimmig betrachtete er das große Werk und fand es wunderschön. Bis auf eine Stelle am unteren rechten Rand. Dort passten die Puzzleteile einfach nicht zusammen. Er konnte die verbliebenen Teile legen, wie er wollte. Das Bild konnte er nicht vollenden.
So hockte er die ganze Nacht vor dem Bild und schlief irgendwann ein.

*

Paul erwachte vom Gestank um ihn herum. Seine Hosen und Socken fühlten sich feucht an. Er hatte uriniert!
„So ein Scheiß!“
Dann fiel sein Blick wieder auf das Bild und er griff nach den losen Steinen. Sofort wollte er die Teile einfügen. Er vergaß das eben Geschehene.

*

Irgendwann erinnerte er sich an Sabine und die Kinder. Er verließ sein Zimmer und ging durch die Wohnung. Dabei rief er ihre Namen. Seltsamer Weise antwortete ihm niemand. Schließlich waren sie doch immer zu Haus, am Abend.
Seine Blick fiel auf die Wohnzimmeruhr. Sie zeigte eine Zeit nach Mitternacht. Im Wohnzimmer lagen Decken, Kissen und aufgerissene Chipstüten auf dem Boden. In Küche standen auf der Arbeitsplatte verschmutzte Teller, Tassen und Essensreste.
„Hat denn Sabine nach dem Essen nicht aufgeräumt?“, fragte sich Paul. Er hatte doch vor ein paar Stunden noch etwas gegessen! Oder wie lange war das her? Knurrte nicht sein Magen?
In der ganzen Wohnung hielt sich niemand auf.
Nur er.
Er zuckte mit den Schultern und begab sich wieder an die Arbeit. Er stand kurz vor der Vollendung. Das spürte er.

*

Der Kühlschrank gab nichts mehr her und an haltbaren Lebensmitteln fand er auch nichts mehr im Vorratsraum. An Sabine und die Kinder verschwendete er keinen Gedanken. Sie würden schon noch nach Hause kommen. Es war ja noch nicht so spät – wieso ging die Uhr nicht mehr? – und bestimmt shoppten sie in der Fußgängerzone.
Auf dem Weg zur Toilette – seine Hosen starrten mittlerweile vor Dreck und fühlten sich speckig an, außerdem juckte sein Hintern und alles um ihn herum fühlte sich ziemlich ekelig an - sah er den Zettel. Er lag auf dem Sideboard in der Diele. Sich die verkrusteten Augen reibend versuchte er zu lesen.
„Leb wohl, du ... ich weiß nicht, was du bist. Aber die Kinder und ich haben genug. Wir sind fort! Wahrscheinlich merkst du das nicht einmal!“
Er zwinkerte mit den Augen und schnäuzte die Nase. Interessant. Seine Familie war in den Urlaub gefahren. Ohne ihn! Aber, das ging schon in Ordnung, schließlich hatte er sein Puzzle noch nicht fertig gestellt. Sabine war ja so rücksichtsvoll.

*

Fast geschafft! Nur noch die eine Stelle auf dem Bild war nicht vollständig. Er hatte noch ein Puzzleteil in seinen Händen, dass, wenn er es anhob, zu einem schwarzer Fleck wurde, der sich in seinen Händen zu bewegen schien. Dann sah er wieder das Puzzleteil.
Er steckte es in die Lücke, aber der Stein verschwand, löste sich einfach auf und lag dann wieder neben dem Bild auf dem Tisch.
Paul schluckte, fluchte.
Das große Bild zeigte einen riesigen Wald. Im Vordergrund stand, nein, präsentierte sich ein mächtiger Hirsch mit einem gewaltigen Geweih, sein Schädel war gebeugt, so als wartete er auf einen zweiten Hirschen, zum Kampf bereit.
Pauls Blick fixierte den Hirschen, saugte sich regelrecht an dieser Szene fest.
Da griff Schwärze nach ihm, endlose Schwärze, nicht nur einfach eine Dunkelheit, wie, als wenn die Lampen im Zimmer erlöschen würden. Nein, es war eine ewige Schwärze. Eine lebendige Schwärze.
Sie umfloss ihn, machte ihn gänzlich unsichtbar.
Paul wollte schreien, aber die Laute aus seinem Mund verhallten ungehört. Ein Sog erfasste ihn und er stand vor einem riesigen Wald.
Er schnappte nach Luft, denn es stank bestialisch, was aber nur an ihm lag, wie er feststellte. Abgerissen und verdreckt sah er aus. Einfach scheußlich und unwürdig. Paul nahm alles mit vollen Sinnen wahr!
Ich bin vollgepinkelt und vollgeschissen. Seit Tagen! Ein Krächzen, was ein Lachen werden sollte, kroch aus seiner Kehle. Sein Hemd hing zerfetzt und starr vor Dreck an ihm herunter. Ein ekliger Geschmack war in seinem Mund, er musste sich seit Tagen nicht mehr die Zähen geputzt haben.
Dann erblickte er den Hirschen, der mit wirbelnden Hufen auf ihn zuraste, sein gewaltiges Geweih zum Stoß gesenkt! Der Boden dröhnte unter seinen Huften.
Paul schrie. Vergessen war sein Zustand.

*

Die beiden Polizisten brachen mit dem Hausmeister die Wohnungstür auf. Er hatte die Beamten alarmiert, nachdem ihm die Nachbarn mitteilten, dass in der Wohnung der Seligers seit Tagen niemand mehr herauskam und hineinging. Sogar Arbeitskollegen hatten bei ihnen angerufen und nach Paul Seliger gefragt. Die Frau und die Kinder waren vor etlichen Tagen fort gegangen und man machte sich Sorgen um den Mann.
Fürchterlicher Gestank schlug den Männern in der Wohnung entgegen. Die Fenster waren fest verschlossen und überall stapelte sich der Dreck. Über allem hing der Geruch von Fäkalien.
Die Durchsuchung der Wohnung brachte kein Ergebnis, zumindest nicht in Hinsicht auf eine Person namens Paul Seliger.
In einem der Zimmer, wahrscheinlich einem Arbeitszimmer, fanden sie auf dem Schreibtisch ein großes Puzzle, dass eine Jagdszene darstellte. Keine klassische Jagdszene, nein, hier hatte der Hirsch seinen Jäger auf die Hörner genommen!
„Wir geben eine Vermisstenanzeige auf. Solange verschließen wir die Wohnung wieder. Vielleicht bekommen wir heraus, wohin die Frau gefahren ist.“
Die beiden Polizisten nickten sich zu und schickten sich an mit dem Hausmeister die ungemütliche Wohnung zu verlassen.
Da stand vor der Wohnungstür ein Mann. Ein grauer Mann. Einfach alles an ihm wirkte grau.
„Der Bewohner dieser Wohnung hat ein Puzzle, welches ich aufarbeiten soll. Ich wollte es abholen. Seine Frau will es demnächst bei mir abholen!“
Dabei lächelte er sehr freundlich.
Die beiden Beamten sahen kein Problem darin, den Mann in die Wohnung zu lassen. Wenige Minuten später kam er mit einer Rolle wieder heraus.
„Ich werde es sehr schön einrahmen. Eine wahre Augenweide.“
Dabei lächelte er erneut und verschwand im Treppenhaus.
„Hast du ihn gefragt, wo er seinen Laden hat?“
„Nee, du?“
Ratlos schlossen die Beamten die Wohnung ab und wiesen den Hausmeister an sich zu melden, falls Herr Seliger doch noch auftauchen sollte.

*

Der Mann in Grau lächelte immer noch, als er das wunderschöne Puzzle im neuen Rahmen an der Wand betrachtete.
Nur wunderschöne, realistische Puzzles hingen in seiner Wohnung!
Sie war voll solcher Puzzlebilder.
Unten im Laden bimmelte die Klingel.
Ein neuer Kunde.
Das Lächeln des grauen Mannes verstärkte sich.

ENDE

Überarbeitet am 22.09.2005

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi,

beliebt, beliebt, das alte Affenpfoten Motiv, ich schreibe auch gerade an einer Geschichte mit komischem Kautz in merkwürdigem Laden und dem unheilvollen Kram, den es da zu Kaufen gibt...

Die Geschichte hat mir gefallen, wenn auch einige Rechtschreib-/Grammatik Patzer, die vermutlich unter 'Flüchtigkeitsfehler' einzuordnen sind, den Lesefluss an einigen Stellen gestört haben.

Nur das Finale hat mich ehrlich gesagt etwas überrumpelt:

Seine Hose war vollgepinkelt, vollgeschissen und sein Hemd hing zerfetzt und starr vor Dreck an ihm herunter. Ein ekliger Geschmack war in seinem Mund, er musste sich seit Wochen nicht mehr gewaschen haben.
:confused: :D

Hat Paul sich einfach seit Wochen so gehen lassen (Wird nicht ganz klar) oder hat er Angst? Wenn Letzteres: Das Protagonisten sich einscheißen ist ja im Prinzip ein völlig legitimes Mittel, um ihre Angst zu vermitteln, aber hier kommt das irgendwie so... überflüssig. Schließlich hast du ja im Vorfeld ausführlich beschrieben, dass der gute Paul völlig besessen von dem Puzzle ist, irgendwie krankhaft darauf fixiert und seine Umwelt quasi gar nicht mehr wahrnimmt. Das jemand, der so sehr in seiner eigenen Welt vor sich hin dämmert, sich plötzlich einkackt, nur weil er im wahrsten Sinne des Wortes im Wald steht, überzeugt mich irgendwie nicht. Vielleicht könntest du die Atmosphäre, die zu dem Angst-Stuhlgang führt, ein bisschen näher und länger beschreiben. Oder Paul könnte durch den Schock dieses Dimensionssprungs aus seiner Lethargie erwachen und sich quasi denken: "Scheiße, wo zum Teufel bin ich hier?"

Na denn, klär mich mich auf,

mfg,
Proof

 

Hallo,

die Stelle kam mir selbst ein wenig holperig vor.
Paul sollte sich nicht aus Angst in die Hose machen. Die Hosen waren ja schon vorher voll...
Eigentlich wollte ich nur darstellen, dass Paul jetzt erst so richtig bewußt wurde, dass er in den letzten Wochen völlig in einer Scheinwelt versunken war. Im Angesicht der neuen Umgebung wurde er auf seine Verwahrlosung aufmerksam. Er "erwachte" sozusagen. Aber zu spät! Andeutungen gab es ja schon zwischendurch.

 

Tach T-K-K!

Ich bin bestimmt nicht der Erste, der sich fragt, was aus G geworden ist, und da es sich dabei um einen recht faden Scherz handelt, laß ich das lieber und komme zur Kritik. Wohlan denn!

Deine Geschichte fand ich richtig gut - vom Inhalt her. Ich denke mal, daß es ein klassischer Horror-Kurzgeschichten-Plot ist (manche würden vielleicht "Klischee" dazu sagen), der seine Wirkung bei mir aber nicht verfehlt hat. Ein geheimnisvoller Laden mitten in der Großstadt, dennoch abseits allen Geschehens in einer "geheimen" Gasse; ein alter, grauer Mann von unheilvoller Erscheinung; ein Mann, der Opfer desselben wird... Prima. Alles drin, was gefällt.

Nur... Ich finde, daß es am Ausdruck noch etwas hapert. An einigen Stellen könnte ein anderes Wort mehr Atmosphäre erzeugen, ein anderer Satzbau größere Spannung. Ich will Dir auf keinen Fall einen anderen Stil aufzwingen, aber ich nenne mal ein paar Beispiele, die ich für verbesserungswürdig halte:

Das Geschäft in dieser Straße war Paul noch nie aufgefallen. Was aber nichts heißen musste, da er nicht sehr oft diesen Weg benutzte.
Ich finde, daß die beiden Sätze sich gegenseitig aufheben, annulieren, auslöschen. Und das gleich am Anfang der Geschichte... nicht gut. Wie wär´s mit: "Paul stand vor dem kleinen Geschäft. Er war noch nicht oft durch diese enge Gasse gegangen, die sich, weit ab vom tosenden Lärm der Hauptstraßen, zwischen dichtgedrängten Häuserfronten hindurchschlängelte. [Beschreibung der Gasse] Und so war ihm auch noch nie die kleine Glastür aufgefallen, vor der er jetzt stand, und die [und so weiter]."

Das Kopfsteinpflaster sah aus wie versenkte Dominosteine, diese leckeren Lebkuchen, die er sich immer vor Weihnachten haufenweise hineinschaufelte.
Finde ich ein wenig holprig - was ja durchaus zum Motiv des Kopfsteinpflasters passen würde. Trotzdem: Das Kopfsteinpflaster (Singular) und die Dominosteine (Plural) wollen so recht nicht zusammenarbeiten.

Seine Frau titulierte ihn dann immer mit „Verfressener Blödmann“.
Nette Ehe. Wer sind die beiden, Peg und Al Bundy?

Wie er so ging, schaute er auch nach links und rechts und betrachtete die Häuserfronten. Die Gebäude standen hier dicht an dicht, meist bis zu vier Stockwerke hoch. Sie waren alt, viele bestimmt über hundert Jahre. Es schienen hauptsächlich Wohnungen zu sein, wobei viele eindeutig leer standen. Öde Fensterlöcher, gähnenden Riesenmäulern gleich...
Erstens: Als er so ging...
Zweitens: Hmmm, ich weiß nicht so recht. Du willst in dem Absatz die unterschwellige Bedrohlichkeit dieser Gasse darstellen. Das durch die Häuserfronten auszudücken, ihnen ein Gesicht, ein Wesen zu verleihen, ist glaube ich ein guter Weg. So weit, so gut. Allerdings könnte man das noch intensiver gestalten, indem man die Häuser nicht nur "stehen", sondern sie vielleicht "sich drängen" ließe. Stärkere Verben, die eine Wesenhaftigkeit der Häuser ausdrücken können, wären hier effektiver. Z.B.: "Die Häuser drängten sich jetzt dichter aneinander." "Sie starrten mit leerem Blick auf die Gasse hinab." Rede besser nicht von leerstehenden Wohnungen, sondern beschreibe die Leere, die Schwärze, die Dunkelheit, die man durch die Fenster sehen kann! Es ist besser, in einem Bild zu bleiben, um die Stimmung zu wahren. Genauso fallen meines Erachtens die Skins und Rocker aus dem Rahmen. Du verleihst dem Absatz einen dunklen, unheilvollen, jenseitigen Glanz, der durch die Erwähnung von allzu weltlichen Erscheinungen wie Skinheads meinem Empfinden nach gestört wird.

„Woher...äh...woher kommen Sie denn?“, stotterte er.
Da ich kein größer Freund von ausgeschriebenen Öh´s und Ähm´s bin, würde ich folgendes vorziehen:
"Woher...", Paul schaute den Mann verwundert an. "Woher sind sie gekommen?"
Aber wie gesagt... Geschmackssache.

Dafür stapelten sich in jedem Winkel des Raumes, der vielleicht fünfzehn Quadratmeter maß, Kisten.
So aus dem Text gerissen wirkt´s nicht falsch. Ich finde aber, daß da noch mehr kommen muß. Der Satz beginnt mit "dafür", man erwartet etwas, was die vorher erwähnte, spartanische Ausstattung des Raumes übertrifft, man ist gerade im schwungvollen Lesen begriffen und bekommt... Kisten. Mjam... nö, zu wenig.
"Dafür stapelten sich in jedem Winkel des Raumes, der vielleicht fünfzehn Quadratmeter maß, Kisten und Kartons, bunte Schachteln, aus denen [wieß ich was] quoll, ... und so weiter. Fänd ich schöner.

Der Mann hinter dem Schreibtisch starrte seinem einst besten Mann mit großen Augen hinter her.
Müssen in unseren geschichten alle immer nur die Besten, Schönsten, Aufregendsten sein? Ich finde nicht...

Es stank um ihn herum und Paul musste feststellen, dass er uriniert hatte. [...]
„So ein Scheiß!“
Hehe... Uns Paule ist Meister des gepflegten Wortwitzes.

Jau, mein Vorredner hat´s gesagt. Pauls Wiedererlangen des Bewußtseins könnte ein wenig mehr Fleisch auffe Rippen vertragen. Z.B.: "Scheiß die Wand an, wie kommt denn der Elch in die Stube?" Nein, im Ernst. Kurze Sätze, an Fahrt zulegen, denn alles geht jetzt sehr schnell, ein paar mehr Details, Fassungslosigkeit, Gestank, Kot, Hirsch, Schrei und Ende.

Das war´s im Großen und Ganzen. Wie gesagt, die Idee ist beliebt aber immer noch gut, sie ist gut präsentiert worden, auch wenn ich ein paar der kürzeren Absätze in der Mitte irgendwie zusammengfaßt hätte. Aber egal. Gut so.

Du solltest nur, und das ist nur meine ganz bescheidene Meinung, in Zukunft darauf achten, daß Du Deine Wortwahl der jeweiligen Stimmung anpaßt. Saloppe Wörter wie "Fummelarbeit" oder "vollgeschissen" wollen so recht nicht mit dem Ton diseer düsteren Geschichte harmonieren. Und wenn Du eine mysteriöse, dunkle Gasse beschreibst, erwähne keine Steuererklärung, keinen Gen-Mais oder sonst etwas, was der Atmosphäre schaden könnte.

Wie gesagt, meine Meinung. Ich fand´s gut, bis auf den Ton.

Weiter so! Ich freu mich auf weitere Schauergeschichten.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom