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Das Fett muss brennen, Baby
Am Abend, als die ersten Mordgedanken sie überfielen, stocherte Sonja lustlos im Topf mit dem gedünsteten Kümmel-Fenchel. Vielleicht hatte das Gezeter von Chantal und Nadja sie abdriften lassen, ihr unablässiger Strom von Fitnesstipps und Zoten über die Männer des letzten Wochenendes, der von der kleinen Barzeile in Sonjas Loft in ihre Kochnische herüberschwappte. Vielleicht war sie auch nur von den Dünsten benebelt, die ihr in die müden Augen stiegen. Die Aussicht auf ein weiteres karges Mahl mit ihren beiden besten Freundinnen machte sie nicht munterer. Längst war alles Fleisch und Fett von ihrer Speisekarte verschwunden. Letzte Woche hatte Sonja noch Kümmel-Fenchel mit Mandelsplittern anrichten dürfen; die Lammkeule hatte sich längst aus dem Rezept verabschiedet. Diesmal bestand Chantal darauf, dass auch die Mandeln – „totale Fettbomben, der echte Horror, Schatzi!“ – aus dem Rezept gestrichen wurden. Nun döste Sonja unter ständigem Rühren irgendwie weg, stierte wie in Trance in den Topf, und sah darin ein blutjunges, herrliches, vor Lebenskraft strotzendes Lamm. Umbringen, dachte sie.
Ein scharfes, reißendes Geräusch ließ Sonja aus ihrer Phantasie hochschrecken. Wie ein riesiges Pflaster, mit aller Kraft von der Haut abgezogen. Was genau das war, was sich an der Bar ereignet hatte. Nadja brüllte wie angestochen, ihre rauchige Altstimme schraubte sich in ungeahnte Höhen.
„Scheiße, wie das blutet! Das ist ja Haut mit abgegangen! Du hast mich skalpiert, du Schlampe!“ Nadja sprach eigentlich ständig in Ausrufezeichen, fiel Sonja auf. Nadja, dieser Prototyp einer großen Blondine mit ihrem unerbittlichen Größenkomplex. Vielleicht hoffte sie, dass die großen Gesten und Sprüche etwas von ihrer Basketballer-Statur ablenken würden, die sie mit einem gnadenlosen Regime von Bauch-Beine-Po-Übungen bekämpfte, siebenmal die Woche, bei „Fatburner’s“. Ihr Schlachtruf: „Das Fett muss brennen, Baby!“
Chantals Gezeter wiederum kannte weder Punkt noch Komma. Das dürre Zwitschern eines schmalen, von ewiger Entschlackung gezeichneten Körpers: „... wolltest das doch so hast du’s gesagt so hast du das vorhin noch gesagt stimmts Sonjaschatzi hat sie doch gesagt das mit der Sofortenthaarung und dabei hab ich noch gesagt ...“
„Scheiße, halt die Klappe! Au, verdammt! Wie das brennt! Also, das nervt jetzt doch echt total!“ Nadja strich mit ihrer breiten Hand über den roten Streifen, den das Tape auf ihrem sonnengebräunten Innenschenkel hinterlassen hatten und begann hysterisch zu pusten. „Scheiß Bikinizone! Wie `ne Kampfzone sieht das jetzt aus!“
„... na dann passts ja“, näselte Chantal beleidigt und rührte hektisch in ihrem Slim-Fast-Cocktail, „ich meine bei den Nahkampf-Aktivitäten in die du dauernd verwickelt bist ...“
Nadja hörte mit dem Pusten auf. Ein Austausch tödlicher Blicke, ein Moment knisternder Stille. Dann entlud sich die Spannung in wildem Gewieher und Gegacker, Nadja und Chantal in enger Umarmung, auf ihren Barhockern kippelnd, kurz vorm Umfallen. Freistil-Ringerinnen in der letzten Runde. Beste Freundinnen eben.
„... und außerdem“, quakte Chantal, die sich als erste wieder halbwegs gefangen hatte, „hat unser Schatzi doch immer ihre Notapotheke im Haus stimmt’s Sonjaschatzi ...“
Sonja nickte müde. „Klar, Mädels.“ Mechanisch langte sie hinauf zur Rot-Kreuz-Box im Oberschrank, griff die Dose mit dem Desinfektionspray und einen Wattebeutel heraus und versorgte die Brandmale ihrer großen Freundin, während die kleinere unablässig weiterschnarrte und eine einsame Fenchelknolle im Topf langsam zu graugrünem Matsch verging. Was tut man nicht alles für seine besten Freundinnen, dachte Sonja.
Ja, was eigentlich.
Sonja spürte, wie sich ein Gedanke zwischen sie und das immer noch prustende und pustende Duo schob. Was tut man alles für sie, und was nicht, und wieso überhaupt. Und wie waren sie in ihr Leben gekommen. Oder auch nur in ihre Wohnung, an diese Bar, die sie nach ihrer Erinnerung nie eingerichtet hatte; an diesem Abend, an dem sie niemanden eingeladen hatte. Aber jetzt waren sie da. Wie immer eigentlich. War das nicht so, unter Freundinnen?
Etwas zischte, jemand brüllte, Sonjas seltsamer Gedankengang brach ab. Ein kehliger Laut, ein animalisches Röhren wie aus der Urzeit: Nadja wand sich auf dem Hocker unter Schmerzen. Sonja sah auf Nadjas roten Schenkel, dann auf ihre eigene Hand, in der sie das Desinfektionsspray hielt, die Düse immer noch voll gedrückt.
„Supi“ kiekste Chantal, lachte und klatschte in die Hände, „Volltreffer Schatzi! Brennt’s schön, Baby?“
„Danke, Mutti!“ schnaufte Nadja und starrte Sonja aus stahlblauen Augen an, während sie ihren wunden Schenkel rieb. „Und jetzt“, sie kippte einen gewaltigen Schluck Slimfast-Cocktail, griff sich ein neues Pflaster vom Tresen und wedelte damit drohend vor Sonjas Augen herum, „jetzt bist du an der Reihe!“
Am nächsten Mittag hatte sich das Brennen auf Sonjas Schenkeln zu einem leichten, wenn auch unangehmen Ziehen heruntergedimmt. Okay, damit konnte sie leben. Was sie in der Mittagspause aus dem Büro ins Freie trieb, war vielmehr der Geruch. Sie musste ihn loswerden, aus ihrer Nase, aus ihren Poren, überall klebte er an Sonjas Körper: Desinfektionsmittel. Ein scharfer, beißender, ätzender, medizinischer Geruch, der ihr anhaftete, davon war sie überzeugt, seit sie in die neue Stadt gekommen war.
Das war vor drei Jahren. Drei Jahre, dachte sie, während sie durch die Spätsommerhitze stapfte, das weiße Kostüm, der breitkrempige Hut und die große Sonnenbrille wie ein einziger Schutzschild gegen die Mittagssonne in der glühenden City. Drei Jahre bei Bodycare Inc., als Produktmanagerin in der Beauty-Industrie, das hatte sie immer gewollt. Als Produktmanagerin für „medizinische Hautpflege“, das hatte sie sich anders vorgestellt. Letztlich lief es darauf hinaus, dass sie den „expandierenden Markt der Desinfektionsmittel für die ältere Haut“, wie es der Juniorchef ihr in seinem öligen Marketingsprech erklärt hatte, beobachtete und „die Bodycare-Produktpalette immer gut in Form“ hielt. Was immer es an neuartigen Keimen, Bakterien, Bazillen gab, die die Haut der Frau ab 30 bedrohte: Bodycare würde die Waffe dagegen entwickeln, und Sonja hatte sie zu verkaufen.
Da sie selbst deutlich jenseits der 30er-Marke war, hatte sie den Einsatz in dieser Abteilung als leichte Kränkung empfunden. Die jungen, hageren Hühnchen im Betrieb durften die herrlichsten Duftwässerchen an die Frau bringen – Sonja blieb das Desinfektionsmittel. Der Geruch würde sie für den Rest ihrer Karriere, ihres Lebens begleiten, ahnte sie. Das – und der ständige Kampf mit Diätplänen, um ihre eigene Figur immer gut in Form zu halten. Um ein „präsentables Äußeres“ hatte der Juniorchef schon beim Einstellung gebeten und dabei einen ungebührlich langen Blick auf Sonjas Hüftgold geworfen. Sie hatte ihren Brechreiz mühsam herunterkämpfen müssen. Dann hatte sie freundlich lächelnd akzeptiert, dem Juniorchef die Hand gegeben, hatte ja gesagt zur medizinischen Hautpflege . Nun war sie von diesem Arsenal ständig umgeben, im Labor, im Büro, zu Hause. Ihr Loft war zu einem einzigen Lager an Sprays, Tabletten und Elixieren gewuchert, scharfe Keimkiller und sanfte Lavendel-Raumsprays und vollkommen nutzlose Wohlfühl-Pillen aller Art.
Was letztlich wohl der Grund war, warum Chantal und Nadja bei ihr irgendwann aufgekreuzt waren. Warum sie sich bei ihr festgesetzt hatten wie dieser Geruch, dieses Beißen, dieses Brennen. Sonja beschleunigte ihre Schritte, das Stakkato ihrer weißen Pumps auf dem heißen Pflaster nahm Fahrt auf. Doch so schnell sie in Gang gekommen war, so abrupt hielt sie inne. Der Geruch war verschwunden, für einen kurzen, kostbaren Moment, verdrängt von etwas noch Mächtigerem. Fleisch. Fett. Blut. Sonja schob die Sonnenbrille auf ihre Nasenspitze und sah durch eine große Rauchglastür ins kühle Dunkel einer Metzgerei, die sie noch nie zuvor hier im Büroquartier gesehen hatte.
Drinnen jagte ihr die eisgekühlte Luft einen Schauer über den Körper. Kälte stieg von den Kacheln empor, umschlang ihre Fesseln, strahlte von den Glasflächen und Stahlschränken auf sie ab. Sonja spürte, wie sich die Haut auf ihren Beinen, Armen und im Nacken spannte, wie ihre Sinne plötzlich messerscharf waren. Drei weitere Kunden warteten bereits vor der beleuchteten Fleischtheke, dahinter wuselte eine schmale Frau im Kittel. Dumpfe Hack- und Klopfgeräusche drangen aus einem rückwärtigen Trakt, der mit einer schweren Stahltür mit Bullauge vom Verkaufsraum abgetrennt war. Und über allem lag dieser wunderbar animalische Geruch.
Sonja drängelte sich vor, um hinter der gläsernen Wölbung der Theke all die wunderbaren Sachen zu bestaunen, denen Chantal, Nadja und sie selbst seit Monaten entsagten. Filetspitzen vom Rind, vom Kalb, vom Lamm; Steaks und Spieße, eingelegt in blumig duftende Kräuterlake; Hack und Mett und Schinken; selbst die kunstvoll wie in einer Schmuckvitrine drapierten Schweineschwänze, - füße und –ohren ließen Sonja leise seufzen. Wie verzaubert streckte sie ihre Hände aus, berührte das Glas mit ihren Fingerspitzen.
„Die Ohren sind zurückgelegt“, informierte die Verkäuferin sie nüchtern, während sie im Tresen nach ein paar Würsten gabelte.
„... zurückgelegte Ohren?“
„Genau. Für eine Stammkundin. Außerdem sind Sie noch nicht dran.“
„Ja, schon gut“, Sonja zog sich etwas zurück, um die Auslagen noch mal in ihrer ganzen Pracht zu betrachten. „Ich schau mich ja nur um.“
Weitere Kunden drängten in den Laden, und die Frau hinterm Tresen rief nach hinten: „Chef? Kannst du mal Kasse?“
Die Klopfgeräusche brachen ab, durch das Bullauge sah Sonja eine massige Gestalt näherkommen. Die Stahltür schwang auf, und die bullige Figur des Metzgermeisters schob sich in den Raum, beherrschte die Szene sofort, spürte Sonja. Das war etwas anderes als diese hippeligen Bürotypen, dachte sie. Sie beobachtete die zupackenden Hände, die muskulösen Unterarme, das ernste, fleischige Gesicht. Träumend blickte sie ihm in die ruhigen, rehbraunen Augen. „Ja?“ erwiderte er ihren Blick. „Haben Sie einen Wunsch?“
„Einen Wunsch?“ Meine Güte, was machte sie hier bloß? Flirten für Anfänger in der Metzgerei? „Ich, hm, ich wünsche mir ...“
Ungeduldiges Räuspern hinter ihrem Rücken.
„Haben Sie eine dicke Rippe?“ fragte sie forsch, bemüht, nicht zu unsicher zu klingen auf diesem ungewohnten Terrain. Was den Effekt hatte, dass sie unsicher klang und ihr forscher Tonfall schräg.
„Also, was ich persönlich auf den Rippen hab“, sagte der Metzger in einem gelassenen, sonoren Tonfall, den Blick gesenkt, „das geht Sie, wenn ich’s einmal direkt sagen darf, meine Dame, herzlich wenig an.“
Das Räuspern wuchs zu allgemeinem Gelächter.
„Aber wenn Sie meine schöne Sau hier meinen“, eine Kunstpause wie in einer Sitcom vor der finalen Pointe, „ja, sicher, die ist schön fett.“ Endlich blickte er sie wieder an, bübisch grinsend, aber nicht unverschämt, fand Sonja. Irgendwie ... charmant? Ein charmanter Metzger? Sonja lächelte verzeihend zurück. „Ja, fett hab ich’s gern. Packen Sie mir drei gute Stücke ein. Das ... wär dann alles.“
Mehr fiel ihr für den Moment nicht ein, was sollte denn da auch weitergehen. Doch als beim Kassieren seine Hände die ihren leicht berührten, diese starken, zugleich wohlgeformten und wohlmanikürten Männerhände, wie Sonja sogleich registrierte, war ihr klar: Diese Hände würden es tun. Sie können töten, und sie werden töten. Alle beide.
Sie war sich ganz sicher: Sie hatte die Barhocker weggeräumt. In den Keller. In ihren abgeschlossenen Keller am anderen Ende des Gebäudes. Sie hatte außerdem die schwere Tür zur Loft verriegelt wie jeden Morgen, wenn sie aus dem Haus ging. Doch all das war ungeschehen in dem Moment, in dem Sonja an diesem Abend heimkam, und den Schlüssel ins Schloss steckte, die Plastiktüte vom Metzger am Handgelenk wie eine brandneue Handtasche. Die Tür war bereits offen, drinnen standen die Hocker an der Bar, und darauf lungerten Chantal und Nadja herum, gelangweilt und zugleich wie aufgekratzt. Die pulsierenden Bässe von Chantals Lieblings-CD „Kuschel-Tekkno“ wummerten Sonja entgegen. Im Fernseher turnte eine Zwanzigjährige locker federnd die üblichen Verrenkungen für Nadjas unverzichtbare Sendung vor, „Fit für 40“; die Riesin selbst, im grellrosa „Fatburner’s“-Sweater, wackelte rhythmisch mit ihrem dunklen Lockenkopf dazu. Tablettenröhrchen kullerten übers Parkett. Der Eishauch von Bodycare-Desinfektionsmitteln lag über dem Idyll.
Kurz erschrak Sonja. Das alles konnte ja eigentlich nicht wahr sein. Nur eine Wahnvorstellung. Eine hysterische Reaktion auf ihren Irrsinnsjob und ihre irrsinnigen Verrenkungen, ihren Körper auf Idealmaß zu trimmen. Verschwindet, wollte sie schreien. Doch dann setzte wieder der Freundinnen-Reflex ein, und Sonja übernahm ihre angestammte Rolle im Trio. Die Verständnisvolle. Die Solide, leicht Spießige. Kein Gedanke mehr an Rebellion. Zumal Chantal aufgesprungen war und Sonja, noch mit Hut, Metzgertüte und Sonnenbrille, an die Bar zerrte: „... musst du einfach mitmachen Schatzi ist nur ein kleiner Piekser oder zwei und dann kann die Jolie sich aber mal ganz hinten anstellen mit ihrem fetten Fischmaul ...“
Sonja nahm die Brille ab, sah Chantal an, sah Nadja an: zwei Fratzen wie aus einer schlechten Stephen-King-Verfilmung. Aschfahle Haut, grotesk aufgestülpte Lippen und, im Falle Nadjas, blutunterlaufene Augen.
„Was habt ihr...“ flüsterte Sonja entgeistert. Weiter kam sie nicht. Nadja zückte eine Spritze, Chantal einen Karton mit kleinen, bernsteinfarbenen Ampullen.
„Botox-Party!“ kreischten beide und grinsten Sonja hoffnungsfroh an. Hoffnungsfroh, vergnügt und, wie Sonja endgültig feststellte, gemeingefährlich.
Mit leisem Klirren schlug Chantal einer Ampulle den Hals ab. Nadja senkte den metallenen Rüssel der Spritze in das Fläschchen. „Soll mal ein Kerl kommen nächstes Wochenende“, sagte Nadja im Tonfall einer großherzigen älteren Schwester zu Sonja und kullerte mit ihren roten Augen, „der nicht auf unsere Kussmäuler abfährt! Zum Knutschen! Wir drei!“
„Nadja ... deine Augen?“ fragte Sonja leise, während sie den Vorbereitungen der Prozedur wie teilnahmslos zusah.
„Wimpernzange! Kleiner Unfall, halb so wild!“
„... kann sie nachher bei dir auch noch machen Schatzi“, schnatterte Chantal, „dicke fette Retrowimpern wie bei Hilde im Kino da war’n wir doch auch grade Schatzi weißtnoch...“
Kleiner Unfall. Halb so wild. Scheiße, einen verdammt großen Unfall werde ich gleich haben wenn ich die so einfach machen lasse, irre Vampirschwestern, dachte Sonja, und sagte es zu ihrer eigenen Überraschung auch laut.
„Wieso irre Schatzi ...“ Weiter kam Chantal nicht, Sonja riss sich aus dem Griff ihrer knochigen Finger los, fuhr mit dem anderen Arm herum, um die Balance nicht zu verlieren, schleuderte dabei unwillkürlich den Metzgerbeutel hoch, der an Chantals schmale Stirn krachte. Knochen auf Knochen, schoss es Sonja durch den Kopf. Der Rest war eine Zirkusnummer: Nadjas athletischer Körper schnellte vom Hocker hoch, die torkelnde Chantal aufzufangen, drei dicke rote Schweinerippen segelten aus dem Beutel und durch die Luft, Sonja strauchelte, und alle platschten gemeinsam zu Boden.
„Oh mein Gott oh mein Gott Schatzi“, wimmerte Chantal, eine dicke Rippe auf dem Dekolletee, „was ist denn daaaas?“
Nadja weinte blutige Tränen, keuchte und erbrach sich aufs Parkett.
„Das, sagte Sonja, „war unser Abendessen.“
War es natürlich nicht. Als Sonja am nächsten Morgen schwer verkatert erwachte – und mit einem blutunterlaufenen Auge - spürte sie einen pelzigen Belag auf der Zunge und ein Brennen im Rachen. Chicoree mit Bio-Essig, darauf hatten sich die Freundinnen einigen können, nachdem das Fleisch im Mülleimer gelandet, der Boden gewischt und desinfiziert war und sie sich Reue und Treue gelobt hatten. Nie wieder Streit um die Kalorien. Um den perfekten Look. Um die Männer. Die letztlich an dem ganzen Stress Schuld waren. Darauf eine Caipi, und noch eine, und noch eine, und irgendwann gegen Zwei, halb Drei muss Nadja doch noch mit ihrer Wimpernzange durchgekommen sein. Alles wegen der Männer.
Umso beschämter stellte Sonja fest, dass sie noch im morgenwarmen Bett schon wieder an einen Kerl dachte.
Am Hintereingang wartete sie auf ihn. Der Metzgerladen vorn an der Straße war noch dunkel. So hatte sie sich in den rückwärtigen Hof vorgewagt. Eine einzige, schrundige Betonwanne, zur Mitte hin abgesenkt, wo ein Gulli gähnte. Rotbraune Schlieren zogen sich über das graue Pflaster. Aus einer angrenzenden Ziegelhalle drang Stallgeruch herüber. Sonja glaubte außerdem ein Grunzen und Quieken und Scharren zu hören. Dann Schritte, und eine massige Figur spazierte auf den Hof.
Wenn er erstaunt war über das Erscheinen einer Schönheit im weißen Kostüm, morgens um halb sieben, mitten auf dem Schlachthof, ließ er es sich nicht anmerken. Ohne seinen Gang zu unterbrechen – und ohne Sonja direkt anzublicken – steuerte er auf den rückwärtigen Eingang zu, fischte einen Schlüssel vom Fenstersturz und schloss auf. „Ja, waren die Rippen Ihnen doch nicht fett genug?“
„Wie? Ach, die Rippen. Nein, alles in Ordnung. Im Gegenteil. Ich wollte nur ...“ Lass dir was einfallen, Mädel. Irgendwas. Meinetwegen auch was Dummes. Lass ihn nur nicht alleine da reingehen und dich hier blöd stehenlassen. Ich wollte, ich wollte ...
„Wollten Sie nur mal sehen, wo all die dicken Rippen herkommen?“ Der Metzger hatte sich umgedreht. Der kleinste Anflug eines Lächelns spielte auf seinem feisten, glatt rasierten Gesicht. „Ob die wirklich schon fix und fertig aus der Kühltruhe kommen, schön eingeschweißt und abgestempelt, wie in Ihrem Supermarkt?“
Das war ihr Ticket. Ihre Chance. „Ja, genau“, grinste sie ihn an. „Das wollte ich Dummchen doch mal sehen. So blöde sind wir Frauen doch allemal, oder?“
Er verharrte in der Tür, den Schlüssel in der Hand, musterte sie. Zog eine Braue hoch. „Ja, dann.“
„Dann was?“
„Dann kommen Sie halt kurz rein. Tun Sie mir nur einen Gefallen, meine Liebe.“ Sonja klackerte mit ihren Pumps über den Hof auf ihn zu. „Stöckeln Sie mir nicht im Weg herum.“ Im schmalen Eingang blickte er ihr eindringlich in die Augen. „Es könnte sonstwas passieren.“
Drinnen im Schlachthaus überfiel Sonja wieder leichtes Frösteln. „Arbeiten Sie immer in dieser Eiseskälte?“
„Schon.“ Er band sich eine dicke Gummischürze um, krempelte die Hemdsärmel hoch. „Erkälten können sich die Viecher ja eh nicht mehr. Übrigens.“ Er wischte seine Rechte an der Schürze, streckte sie Sonja entgegen: „Metzger.“
Sonja legte ihre schmale Hand in seine. „Ja ... ich weiß?“
„Nein, nein. Metzger, Rudolf.“
„Im Ernst?“
„Voller Ernst. Und Sie?“
„Ernst, Sonja.“
„Sie scherzen.“
Ein sanfter Händedruck, ein Lachen, und es war ein wärmerer Raum, in dem sie sich nun befanden.
„Und, Frau Ernst, was will eine vornehme Frau wie Sie von mir wissen?“ Metzger prüfte mit konzentriertem Blick die Batterie von Messern und Beilen, die an Haken an einer Kachelwand hing.
„Ich will einfach wissen, wo mein Essen herkommt.“
Ein ungläubiger Blick Metzgers streifte sie.
„Doch, wirklich: Mein Gemüse kommt vom Bioland-Acker, mein Riesling aus dem Rheingau, aber woher kommt mein Fleisch?“
„Na, von hier.“ Er nahm sich ein Ausbeinmesser, fuhr mit dem Daumen über die Klinge, setzte es dann an einen Schleifstein und begann es zu schärfen.
„Und Sie bringen die ... ich meine ...“ Sonja musste ihre Stimme heben, um gegen das Kreischen der Klinge auf dem rotierenden Schleifstein anzukommen. „Sie nehmen die Tiere damit auseinander? Mit Ihren Händen?“
„Von allein tot umfallen tun sie jedenfalls nicht.“
„Und wie lange brauchen Sie dafür?“
Der Schleifstein hielt an, Metzger prüfte wieder das Messer, nickte zufrieden und hing es zurück an seinen Platz. „Für eine ganze Sau? Wenn man gut dabei ist, vielleicht einen halben Tag. Ach, kommen Sie her, ich zeig’s Ihnen kurz.“
Sonja folgte ihm durch die Halle zu einer langen Holzbank, die von tiefen Kratzern zerfurcht war. „Hier packen wir die Tiere drauf, wenn sie frisch gekeult sind. Dann fangen Sie am Kopf an, das Ganze in seine Teile zu zerlegen. Immer vom Großen zum Kleinen hin, immer mit den passenden Werkzeugen, dann kommen Sie zügig durch.“ Er erklärte Sonja die Galerie der Beile und Messer, „mein Besteckkasten“: das Hackbeil zum Enthaupten und Abtrennen der Beine vom Rumpf. Das Ausbeinmesser, um das Fleisch von den Knochen zu schälen. Das Zuschneidemesser, um aus Schultern und Schenkeln kundenfreundliche Portionen zu machen. Und so fort. Von der Schnauze bis zum Schwanz, stellte Sonja fest, hatte der Vielfraß Mensch sein liebstes Nutztier aufgeteilt in verwertbare Teile, und für jedes Teil ein Spezialwerkzeug geschmiedet. Bis zum Fleischwolf, in den die Reste hineinkamen, ganz am Schluss. Und der Anfang vom Ende, fragte Sonja? „Wie kriegen Sie die Sau aus dem Stall hinten im Hof raus und hier auf die Schlachtbank?
„Bolzenschuss. Kurz und schmerzlos. Merkt nix, die Sau. Aber das Wichtigste.“
„Ja?“ fragte Sonja erregt, in Erwartung einer Enthüllung.
„Horn.“
„Wie?“
„Hornkonzert, Mozart. Über die Lautsprecher.“ Metzger deutete mit dem Ausbeinmesser auf die kleinen Kugelboxen unter der Decke. „Beruhigt ungemein.“
Eine Pause, ein fragender Blick von Sonja.
„Zumindest mich.“
Und auch Sonja war beruhigt. Die Aussicht, dass sie ihre beiden Plagegeister vielleicht bald schon vom Hals haben würde, dass der Spuk ein Ende haben würde, verlieh ihr Hoffnung, und Mut. Sie spürte, wie sie es sogar ein bisschen genoss, sich auf die Gängeleien der Freundinnen einzulassen. Wie sie geduldig ihr allabendliches Erscheinen an der Hausbar ertrug. Ihr hysterisches Geschwätz. Und ihre Fragen. Sie machte sich einen Sport daraus, nie zu lügen – nicht gegenüber ihren besten Freundinnen – , aber auch nichts zu verraten, was ihren mörderischen Plan gefährden könnte.
Sein Beruf? Er ist selbständig. Unternehmer; inhabergeführte Firma. Lebensmittelbranche. (Nadja: „Gute Branche! Gefressen wird doch immer – außer bei uns!“)
Sein Typ? Kräftige Figur. Zupackendes Wesen. (Chantal: „Und wie packt er dich? Kommschon sagsuns Sonjaschatzi...“
Sein Geschmack? Hmmm... eher schlicht. Gedeckte Farben, Sakko-und-Hose-Kombi ... (Nadja: „Den wirst du dir schon ändern! Aber hallo!“)
... aber auch ein kultivierter Typ. Hört Mozart. Beim ersten Date hat er mir eine CD mitgebracht. Hornkonzert. (Schweigen, betretene Blicke).
Sonja hatte nicht allzu viel von Nadjas empfohlenen Dating-Tips anwenden müssen, um Rudi zu einem ersten Treffen beim Italiener zu bewegen, dann zu einem zweitem, dritten. Der Mann war Witwer, wie sich herausstellte. Und nicht ganz glücklich mit seinem Dasein als allein stehender Kleinunternehmer. Auch nicht mit seinem Körper.
Da hatten sie ihr gemeinsames Thema gefunden. Sonja erzählte (bei öltriefenden Antipasti und einem anregend prickelnden Orvieto) von den missliebigen Röllchen und Wölbungen und Rundungen, die ihr Selbstwertgefühl fast schon naturgesetzlich herunterzogen (Rudolf widersprach galant, ließ seinen Blick dabei freilich über jedes Röllchen, jede Rundung Sonjas schweifen, fahrplanmäßig, wie Sonja erfreut feststellte). Rudolf gab ihr im Gegenzug (beim Hauptgang: geschmorte Kalbshaxe Mailänder Art) einen kurzen Abriss seiner eskalierenden Gewichtszunahme seit seiner Verwitwung (Sonja murmelte etwas von ihrer Vorliebe für „starke Männer“). Keiner von beiden, so kamen sie bei einem sämigen Vitello tonnato überein, würde je eine Model-Figur haben. Wie auch immer sie sich dafür quälen würden, fügte Sonja hinzu.
„Quälen?“ fragte Rudolf nach. „Wie quälst du dich denn?“
Nicht wie, antwortete Sonja leise und schluckte einen letzten Lammhappen herunter. Nicht wie, sondern wer.
Und dann erzählte sie mit kaum gespielter Verzweiflung in der Stimme – alles. Was sie alles tat, um der Idealvision ihrer Freundinnen auch nur ein bisschen nahezukommen. Wie sie sich schindete: die Step-Aerobic, der Hometrainer, die Fitnessdrinks, die Botoxspritzen, der fade Chicoree und der beißende Essig. Kein bisschen Fett und Fleisch.
„Und alles nur“, sagt Rudolf amüsiert zwischen zwei fetten Bissen, „wegen dieser beiden Schreckgespenster? Ja, kannst du die nicht ganz einfach loswerden?“
Er hatte angebissen. Hatte verstanden, da war sich Sonja sicher. Sie ahnte nicht, wie recht sie hatte.
Zwei. Wochen. Sonja konnte es noch immer nicht fassen. Es hatte sich alles so gut angelassen. So ganz nach ihrem Plan. Und dann hatte er sie – am Telefon, aus der sicheren Distanz seines Mobilanschlusses – um zwei Wochen Geduld gebeten. Nein, kein Rückzieher, ist mein voller Ernst, hatte er rasch – allzu rasch? – hinzugefügt. Er habe halt eine Überraschung für sie. Wolle außerdem – „wie soll ich’s sagen ... in mich gehen“, hatte er gebrummelt. „Wegen ein, zwei Dingen, über die wir neulich gesprochen haben.“ Also – nur eine kleine Pause, ein wenig Abstand. Das sagen sie alle, dachte Sonja, und dasselbe keiften Chantal und Nadja, als sie am Abend – wozu sind Freundinnen da – das Dilemma besprachen. Eine Überraschung?
„Kann ich mir denken die Überraschung“, nölte Chantal.
„Danke für’s Blasen, Baby – und tschüss!“, polterte Nadja.
Das könnte ihm so passen, dachte Sonja. Und machte sich auf den Weg.
Es war noch dämmrig hell, ein Sommerabend in der City, Asphaltwärme, Abgasdünste, Frittenfett, das Parfüm des Hochsommers. Aufgekratzte Teenies in wild summenden Schwärmen. Schnurrende Pärchen auf dem Weg zum Kneipenabend. Und Sonja: eine schweigende weiße Furie, den wütenden Rhythmus ihrer Absätze ins Pflaster meißelnd. Eine Lenkwaffe auf direktem Zerstörungskurs. Allein: So ganz gerade verlief ihr Kurs dann doch nicht.
Das Kärtchen mit seiner Adresse in der Hand, fand sie sich bald in einem Neubaugebiet wieder, das ihr gänzlich unbekannt war. Keine Teenies hier, keine Pärchen, keine Szenekneipen. Nur hochgeklappte Bürgersteige. Ein Mann mit hochrotem Kopf und gelbem Polohemd brauste vor seiner Doppelhaushälfte einen aufgemotzten Landcruiser ab. Eine Alte im silbernen Jogginganzug klapperte mit Walking-Sticks über den Gehweg, wie ein Alien mit seltsamen Antennen. Einen Block entfernt hoppelte ein weiterer Jogger durch die Ödnis, registrierte Sonja müde. Auch in Silber, aber eher ein rundliches Modell. Ob man diese Idioten nach einer Straße fragen kann? Ob sie dieselbe Sprache sprechen? Sie schirmte ihr Gesicht mit der Hand gegen die tief stehende Sonne ab, sah noch mal zu dem Jogger und machte einen Satz hinter den Landcruiser.
„Hee ... wollnse ’ne Gratisdusche?“ maulte der Rotkopf und grinste zu Sonja herunter.
„Scht!“ zischte sie – das half meistens bei den Prolltypen, hatte sie festgestellt, und das tat es auch diesmal. Der Rotkopf wässerte weiter stumm seine Kühlerhaube und betrachtete nebenbei Sonjas Beine, während sie geduckt im Schatten des Blechmonstrums verharrte. Bis der Jogger vorbeigetrabt war. Aus seinen Ohrstöpseln zog eine feine Spur klassischer Musik hinter ihm her. Sonja erkannte das Stück. Horn. Das beruhigt, dachte sie, und spürte ein heißes Pochen bis zum Hals.
Der Jogger bog an einer hohen Ligusterhecke in die nächste Querstraße ein. „Dann noch viel Spaß beim Rubbeln“, verabschiedete sie sich von dem Rotkopf und nahm die Verfolgung auf. Doch hinter der Hecke war die Gestalt verschwunden. Sonja blickte die menschenleere Doppelhaus-Reihe mit ihren gleichförmigen Vorgärtchen hinunter, dann in die andere Richtung, wo die Straße völlig identisch aussah, wie ein Spiegelbild. Genau, dachte sie. Eine Fata Morgana. Was soll mein Typ auch in einem so albernen Aufzug. Um diese Uhrzeit. In einer so öden Straße. Sie blickte auf das Straßenschild. Auf das Kärtchen in ihrer Hand. Wieder auf das Schild. Es war das richtige. Okay. Na schön. Das heißt noch gar nichts, beruhigte sie sich. Ein paar Häuser weiter schlug eine Eingangstür zu.
Mit unsicheren Schritten steuerte Sonja auf das Haus zu. Einfach klingeln? Ihn überraschen? Wozu. Ist ja wahrscheinlich sowieso keiner da. Lieber erstmal umschauen. Allerdings: Die Fensterläden an der Seite waren geschlossen. Also zum Hintereingang – wie immer. Über einen niedrigen Jägerzaun zur Veranda. Glück: Die Wohnzimmerfenster nicht verrammelt. Auch keine Vorhänge, keine Gardinen, stellte Sonja anerkennend fest. Wusste ich’s doch: ein Mann mit Geschmack. Aus dem Fester im ersten Stock das Brausen einer Dusche. Freie Bahn, dachte Sonja, streifte die Pumps ab, schlich lautlos zum Fenster und spähte hinein. Sie musste Sonnenbrille absetzen, die Augen zusammenkneifen, sich beinahe die Nase an der Scheibe plattdrücken – die Abendsonne knallte direkt auf das Fensterglas, ließ im Dunkel des Wohnzimmers nur Schemen erkennen. Komm schon, wo ist sie. Wo ist deine Überraschung, Süßer? Dann sah Sonja sie, aufgebaut mitten im Zimmer, auf dicken Perserteppichen ruhend. Schwindelgefühle überkamen Sonja. Sie ging in die Knie. Rang würgend nach Luft. Nicht auch noch er. Nicht Rudolf. Dann trat er ins Zimmer: federnd, fröhlich pfeifend, mit blankem Bauch über der Sporthose, zehn, nein: eher 5 Kilo leichter, schätzte Sonja. Rudolf stieg auf seinen neuen Heimtrainer und strampelte vergnügt los.
Aus, vorbei. Allein. Okay. Dann muss ich es eben allein tun. So viel war Sonja klar. Auf einen vom Fitness-Virus infizierten Lover könnte sie jetzt nicht mehr zählen. Nicht bei dieser Sache.
Ein extradickes Trinkgeld, und der Taxifahrer hatte keine Fragen gestellt. Im Hinterhof der Metzgerei hatte er knappe fünf Minuten mit laufendem Motor gewartet und mit nur mildem Interesse verfolgt, wie seine Kundin den Schlüssel vom Fenstersturz geangelt, sich Einlass verschafft hatte und mit einer großen, offenbar schweren Einkaufstasche zurückgekommen war. Beim Einladen auf dem Rücksitz schepperte sie metallisch. Als die Kundin am Fahrtziel zahlte und eilig in einem Hauseingang verschwand, sah er noch, wie eine Messerspitze aus dem Boden der Tasche herausstach und im Schein der Straßenlaterne aufblitzte.
„Das glaubst du nicht Schatzi“, sprudelte Chantal Sonja schon an der Wohnungstür ins Gesicht, „dass noch keine von uns drauf gekommen ist – voll die Waffe!“
„Was für ’ne Waffe denn ....?“ fragte Sonja, schwitzend, keuchend vom Geschleppe und bemüht, die Tasche mit Rudolfs Besteckkasten möglichst unauffällig zu behandeln.
„Dinner Cancelling!“ kreischten beide Freundinnen.
„Nie! Wieder! Kochen!“ schmetterte Nadja. „Jedenfalls nicht mehr am Abend! Einfach alles weglassen! Was du dir da sparen kannst! Zeit, Kohle, Kalorien, Fett – alles gespart! Der neue Megatrend!“
„Mädels ... ich bin heute echt ziemlich ausgehungert ...“
„Nichts da ... Dinner Cancelling!“ Nadja und Chantal verfielen in ihr hysterischs Synchron-Gegacker, hakten Sonja unter und zogen sie einmal mehr an die Bar.
„Außerdem hat Nadja ein paar echt irre Sächelchen dabei, die uns vom Futtern garantiert abhalten werden Schatzi“ – hier tätschelte Chantal so kindisch Sonjas Wangen, dass sie kurz davor war, einfach loszubrüllen. „Ist auch ne echt geile Überraschung für dich dabei Schatzi ...“
Die Überraschung stand hinter Bar, trug einen „Fatburner’s“-Jogginganzug, dessen makelloses Weiß apart mit der Sonnenstudio-Bräune der haarlosen Brust kontrastrierte (Nadjas Killerpflaster, schoss es Sonja durch den Kopf), und mixte mit ausgesuchter Lässigkeit die Feierabend-Cocktails. 160 Pfund durchtrainiertes Muskelfleisch, taxierte Sonja den Burschen. Null Gramm Fett. Ein echter Kotzbrocken. Bevor sie sich laut fragen konnte, wie auch noch dieser Typ in ihr Apartment gelangt war, legte der Fatburner den Zeigefinger über seine Lippen und schüttelte mit gespielter Strenge den Kopf: „Sch-sch-sch! Ihr Ladies wollte euch doch an einem so wun-der-schönen Abend nicht über Fett und Pfunde streiten.“ Ein samtweicher Bariton wie aus der Kuschelrock-Werbung, was Sonja anwiderte, Chantal und Nadja in stummes Entzücken versetzte. „Sex On The Beach für alle?“ Er begann den silbernen Cocktailshaker in sanftem Rhythmus zu schütteln. „Die Null-Kalorien-Variante natürlich. Saschas Special ...“ – hier zwinkerte er, Sonja konnte kaum glauben, diese Uralt-Masche nochmal selbst erleben zu dürfen, ihr tatsächlich irgendwie neckisch zu. Ihr stand der Verstand still. Ihre Stimme versagte. Was Chantal prompt missverstand. „Ist er nicht der Wahnsinn?“, flüsterte sie.
„Woher ...“
„Aus Nadjas Fitnessbude, irrewas Schatzi?“ wisperte Chantal.
„Und was ...“
„Wir dachten, wenn du auf Fleisch stehst und dir dein Metzger flöten gegangen ist – probier’s mal mit dem hier“, raunte Nadja.
Sascha goß mit Schwung eine blaugrün schäumende Soße in die vier Gläser auf der Bar, warf noch Eiswürfel und je eine Handvoll Tabletten hinein. „Lecker Vitamine, mein Geheimrezept – damit ihr mir nicht zu früh schlapp macht ...“
Noch ein Zwinkern, und Sonja riss sich endlich los. „Lasst mich ... lasst mich einfach mal einen Moment in die Küche, Mädels. Muss noch was auspacken, dann bin ich wieder für euch da, okay?“
Schön, sind es jetzt also drei, resümierte Sonja an ihrer Küchenzeile. Macht nichts. Macht überhaupt nichts. Kriegt jeder sein Fett ab. Für jeden von euch hab’ ich heute das richtige Messer dabei. Hackbeil, Ausbein-, Filetiermesser. Damit wird es ganz einfach sein. Immer vom Großen zum Kleinen hin, hörte sie Rudolfs Stimme. Dann kommt man zügig durch. Bloß: wie anfangen?
So vorsichtig und geräuschlos wie möglich ließ Sonja die Metzgersinstrumente aus ihrer Tasche auf die Arbeitsplatte gleiten, was ein durchdringendes Scheppern zur Folge hatte.
„Schaaaatzi?“ nölte Chantal von der Bar herüber. „Was treibst du denn da ohne uns?“ Grunzen, Gekicher.
Wie jetzt all die Messer erklären? Diese Ansammlung von Mordwerkzeugen? Sonja sah ihren Job als Hobby-Killerin mit zunehmender Verzweiflung. In den Fernsehkrimis ging das alles deutlich unkomplizierter. Skrupelloser. Nie musste da ein Täter seinem potenziellen Opfer das Vorhandensein des Tatwerkzeugs erklären. Also – was hatten die Messer in der Küche zu suchen?
„Sonjaschatzi – alles klar bei dir?“
„Ich ... ich hau mir nur ein paar Filetstreifen in die Pfanne“, stammelte Sonja. „Muss sie grad noch klein hacken. Schneiden! Klein schneiden, meinte ich.“
Genau. Einfach erstmal was in die Pfanne hauen, beruhigte sich Sonja. Sie holte einen Packen Lammfilet aus dem Kühlschrank – seit sie Rudi traf, hatte sie sowas irgendwie immer im Haus. Warf einen Batzen Fett in die Pfanne, stellte den Herd an und begann, mit dem Filettiermesser das zu tun, was sie sich bei Rudi abgeschaut hatte. Sie drückte die Klinge ins Fleisch, zog sie kraftvoll übers Brett, glatte, gleichmäßige Schnitte, immer zum eigenen Körper hin. „Hab schon gehört, dass du auf saftiges Fleisch stehst“. Der Kuschelbariton, plötzlich dicht hinter ihr, eine sonnengebräunte Hand an ihrer Hüfte.
Ohne nachzudenken wirbelt Sonja herum. Ein Ruck, ein Schnitt, ein Schrei: Sascha, einen Daumen kürzer. Er klingt gar nicht mehr nach Kuschelbär.
„Scheiße, verdammte Scheiße!“ Er torkelt zurück, umklammert die verletzte Hand mit der anderen, Blut spritzt in rhythmischen Abständen zwischen seinen Fingern durch, besudelt den weißen Sweater. „Scheiße, gib mir was zum Abbinden, du Sau, du Scheiße!“ Sonja starrt ihn regungslos an. Nadja springt mit einem athletischen Satz hinzu, reißt ein Küchenhandtuch von der Wand und wurstelt es um Saschas zuckende Hand, derweil das Opfer stöhnend durch die Küche trudelt. Chantal stakst auf Sonja zu, die Maske einer zornigen Aztekengöttin: „Und wir sind irre oder was? Ich will dir mal zeigen wer hier die Irre ist, Frau Oberschlau!“ Schon ist sie bei den Messern, greift sich das Hackbeil. „Schatzi ich muss dir schon längst mal was verraten“, hier gönnt sie ihrer Krächzstimme eine dramatische Pause, „DU NERVST!“
Sie geht auf Sonja los, lässt das Hackbeil niedersausen, rammt es an der Freundin vorbei in die Arbeitsplatte, tief hinein, unverrückbar fest. Jetzt. Jetzt, überlegt Sonja, das Filettiermesser noch fest umklammert. Jetzt ein tiefer, sauberer Schnitt, dann wäre die erste schon mal erledigt. Dann wäre ... Doch da taucht Nadjas massiger Körper neben ihr auf, schlägt Sonja das Messer aus der Hand.
„Scheißweiber!“ winselt Sascha, inzwischen direkt vor dem Herd zusammengebrochen, in einer Lache aus Blut, Schweiß, Tränen und Margarine. „Ihr Scheiß ...“ Dann bricht seine Stimme weg; der Rest ist Winseln.
Auch Sonja schießen die Tränen in die Augen. Okay. Netter Versuch. Guter Plan. Nur kann sie ihn nicht durchziehen. Kann es einfach nicht. Sie greift mechanisch zum Oberschrank mit der Rot-Kreuz-Box, um die gröbsten Verletzungen des Abends zu verarzten. Holt das Desinfektionsspray heraus. Da hört sie das Zischen. In der Pfanne. Ein sengendes, schäumendes Geräusch, das binnen Sekunden zu einem monströsen Rauschen anschwillt. Das reicht Sonja, um die Dose fallen zu lassen und quer durchs Loft zu hechten, hinter den Bartresen, bevor sich das Fett in einem Flammenblitz entzündet. Bevor die Büchse mit dem Spray hochgeht. Bevor Nadja in einem verzweifelten Rettungsversuch, einem uralten, irrsinnigen und tödlichen Impuls folgend, sich durch den Qualm zum Wasserhahn durchkämpft und die Düse auf das brennende Fett richtet. Bevor die Welt mit einem saugenden Knall explodiert.
Noch bevor die Feuerwehrleute angerast kamen, um eine restlos ausbrannte, menschenleere Etage auszuschäumen, war Rudolf zur Stelle gewesen, Sonja aus den kokelnden Trümmern zu zerren. Ein Überraschungsbesuch: Mit einem neuen, deutlich schmaleren Sakko war er an ihrer Adresse aufgekreuzt. Nur um mal ein kleines Lebenszeichen von sich zu geben, ein bisschen vielleicht auch den Lohn zu ernten für seine Entbehrungen – so ähnlich hatte er sich das zurechtgelegt. Bis er den Knall gehört, das Fensterglas als feinen Regen auf die Straße prasseln gesehen hatte. Im Laufschritt war er die drei Etagen hinaufgeeilt, und so hat sich die ganze Schinderei, dachte er später, doch irgendwie ausgezahlt. Ein bisschen aus der Puste war er dann freilich doch, als er die rußgeschwärzte Geliebte die drei Etagen heruntergetragen hatte. Erst als Sonja in den Ambulanzwagen geschoben wurde, fand er seine Stimme wieder. „Jetzt sag einmal.“
„Ja?“
„Was hast du da bloß angestellt?“
Sonja hob müde den Kopf, das leiseste Lächeln auf den Lippen. „Dinner Cancelling. Voll die Waffe.“
(c)2009 TA Eden