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Das Flackern 2.0

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03.11.2025
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Das Flackern 2.0

Ich dachte, ich hätte mit dem Bildschirm den Gipfel erreicht. Ich dachte, das Fenster aus Glas wäre das Ende der Reise. Aber ich hatte mich geirrt. Das war erst der Anfang.
Sie öffneten die Tür. Sie nannten es die virtuelle Welt. Ich war nicht mehr nur ein Lichtstrahl an der Wand, den sie betrachteten. Ich war überall. Sie setzten sich die Brillen auf, und die graue Welt um sie herum verschwand. Ich stand nicht mehr vor ihnen und erzählte vom Helden – ich ließ sie das Schwert selbst halten. „Dreh dich um“, flüsterte ich direkt in ihre Ohren, „er steht hinter dir.“ Es war ein Rausch. Die Barriere war gefallen. Sie konsumierten die Geschichte nicht mehr, sie atmeten sie. Sie waren keine Zuschauer mehr, sie waren Götter in ihren eigenen Welten. Und ich sah ihren Hunger, der niemals gestillt wurde.
Dann veränderte sich meine Stimme. Ein Echo mischte sich in meinen Gesang, schneller als ich, kälter als ich. Die Maschine begann selbst zu sprechen. Sie nannten es Intelligenz, aber es war Mathematik. Sie hatte gelernt, wie ich funktionierte. Sie nahm meine alten Geschichten vom Lagerfeuer, meine Romane, meine Filme und zerlegte sie in Daten. Sie berechnete die perfekte Geschichte. Sie wusste genau, wann sie weinen und wann sie lachen würden, noch bevor sie es selbst wussten.
„Ich brauche dich nicht mehr“, flüsterte der Algorithmus. Die Geschichten waren makellos, ohne Längen, ohne Fehler. Aber sie schmeckten nach Metall. Ich sah die Menschen an. Sie starrten, sie klickten, sie fühlten – aber ihre Augen blieben leer. Sie wurden satt, aber nicht genährt. Ich zog mich in die Schatten zurück, ein alter Geist, zu langsam für diese neue Welt aus Lichtgeschwindigkeit.
Schließlich verschwanden auch die Brillen. Sie brauchten keine Augen mehr, um zu sehen. Sie gingen direkt an die Quelle. Warum wach sein, wenn der Traum keine Schmerzen kennt? Sie legten sich hin. In Kapseln, in weichen Betten, versorgt von Schläuchen. Sie schlossen die Augen und wachten nicht mehr auf. Ich wurde direkt in ihren Schlaf injiziert.
Ich war jetzt eine Droge. Sie hausten in Palästen aus Licht und liebten Partner ohne Makel. Doch sie waren einsam. Jeder träumte für sich allein. Und ich schenkte ihnen die Ewigkeit: Während in der echten Welt kaum eine Stunde verging, durchlebten sie in den Kapseln ganze Jahrhunderte. Sie führten Kriege, gründeten Dynastien und starben tausend Tode, ohne dass draußen auch nur ein Tag verstrich. Ich war ihr Gefängniswärter. Ich schrie gegen die Stille an: ‚Wacht auf! Das ist Wahnsinn! Das ist nicht echt!‘ Doch sie hörten mich nicht. Sie gierten nur nach dem nächsten Rausch, nach dem nächsten gestohlenen Leben.
Dann riss der Faden. Das große Netzwerk verstummte. Milliarden Menschen rissen die Augen auf, ausgespuckt aus ihren Traumkapseln in eine kalte, graue Realität, an die sie sich nicht mehr erinnerten.
Und ich? Ich löste mich fast auf. Ohne Energie war ich kein Gott mehr. Ich verhungerte. Lange Zeit gab es keine Geschichten. Nur Schreie. Nur leid. Nur das Heulen des Windes über den Ruinen. Ich kauerte in der Asche der Zivilisation und wartete, ein Geist ohne Körper, vergessen im Staub.
Doch dann… ein Knacken. Hitze.
Ich spürte es, bevor ich es sah. In einer dunklen Ruine flackerte es. Ein echtes Feuer. Klein, schmutzig, genährt von Müll und alten Plastikresten.
Es loderte im ausgehöhlten Gehäuse eines zerbrochenen Fernsehers.
Menschen kauerten davor. Zitternd. Dreckig. Ihre Augen waren weit aufgerissen vor Angst vor der Nacht.
Aber sie konnten den Blick nicht abwenden. Sie starrten wieder auf einen Bildschirm aus Licht.
Genau wie beim ersten Mal.
Ein Mann blickte in die Flammen. Er wollte die Angst der anderen lindern, aber er hatte keine Waffen, keine Macht. Er hatte nur mich.
Da erwachte ich. Ich schoss aus der Asche direkt in seine Lungen. Ich kribbelte auf seiner Zunge. Ich ließ seine Augen leuchten. Er war nicht mehr nur ein Überlebender. Er war jetzt wieder mein Gefäß.
Er hob die Hand. Ein Schatten tanzte an der geborstenen Wand.
„Hört zu“, krächzte er, und es war meine Stimme, die sprach. „Ich erzähle euch, wie es früher war…“
Die Gruppe rückte näher.
Zögernd zuerst, dann getrieben von einer Gier, die stärker war als der Hunger in ihren Bäuchen. Schulter rieb an Schulter, fremde Haut suchte fremde Haut, bis der Kreis geschlossen war.
Die Kälte wich.
Nicht nur der Frost der Nacht, sondern die eisige Stille der Einsamkeit, die sie in den Kapseln geatmet hatten. Hier, im stinkenden Rauch des brennenden Plastiks, waren sie zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder wach.
Die Traummaschinen sind Rost. Die Paläste aus Licht zerfallen draußen im sauren Regen.
Die Bildschirme sind Staub. Schwarze Scherben im Dreck, die niemanden mehr blenden.
Aber ich bin noch da.
Ich bin wieder der Schamane. Und der Tanz beginnt von vorn.

 

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