Das Foto
WIE ER ES SAH:
„Sieh mich an“, sprach das Foto und es hatte eine beruhigende Stimme. „Sieh mich an und sag mir, was du siehst.“ John musste lachen.
„Warum lachst du“, fragte das Foto und es war traurig. „Nun, du bist ein Foto und als solches kannst du doch gar nicht reden, oder sehe ich das falsch?“ John lachte laut auf.
Das Foto antwortete nicht, denn es war traurig. „Ok, ok! Ich werde dir sagen was ich sehe, in Ordnung?“ „In Ordnung“, sprach das Foto und es schien wieder glücklich zu sein.
„Ich sehe einen Mann mit schwarzen Haaren. Sein Blick ist dämonisch. Er hat ein Messer in der Hand und es ist mit Blut befleckt. Seine schwarz lackierten Fingernägel sehen wie Augenpaare aus, nur bleibt ein Finger dabei übrig. Der Daumen.
Der Mann steht vor einem Abgrund, es sieht wie das Ende der Welt aus. Ich glaube,… nein, ich bin mir sicher, dass es das Ende von Allem ist. Oh, habe ich schon erwähnt, dass der Mann sich gerade übergibt? Doch er lacht, ja das tut er. Sein Erbrochenes läuft ihm zwar an seinem schwarzen Mantel herunter, aber er lacht.
Schwarze Vögel fliegen um ihn herum, als wenn sie nur darauf warteten, dass er endlich springt. Sie umkreisen ihn. Der Himmel ist dunkel und traurig. Es wird wohl bald regnen, schätze ich. Außerdem redet der Mann gerade. Wenn ich mir seinen Blick ansehe, dann könnte er folgendes sagen: „Ihr Verräter! Ihr stellt mich vor diesen Abgrund, weil ich die Welt anders sehe als ihr. Ihr seid es, die bestraft werden müssten! Meine Phantasien und Obsessionen sind Produkte eurer autoritären Gesellschaft, welche am liebsten nur aus Ballkönigen und Ballköniginnen bestehen würde! Ich stehe jetzt am Rande der Welt und schaue nach unten, denn dort sind die geistigen Überbleibsel meiner Verbündeten. Ich weiß jetzt, wie Seelen aussehen, aber ihr wollt es gar nicht wissen.
Ihre Körper leben jedoch weiter. Menschen wie ich verkaufen nur ihre Seele, jedoch nicht dem Teufel. Sie haben ihre Seele der Gesellschaft verkauft. Doch ich werde nicht springen, ich werde hier verweilen, bis mein Körper zusammen mit meiner Seele stirbt.“
Stille.
WIE ES WIRKLICH WAR:
„Sieh dir das Foto an“, sagte Edward mit seiner ruhigen Stimme zu dem Kerl, der das letzte Mal auf seinen geistigen Zustand geprüft wurde. Sein Mandant musste lachen.
„Warum lachen sie“, fragte der Anwalt. Er war mit ihm doch schon viel weiter. Die Halluzinationen haben doch schon nachgelassen, doch jetzt sprach er mit einem Foto.
„Ok, Ok! Ich werde dir sagen, was ich sehe, in Ordnung?“ Edward schöpfte wieder Hoffnung. „In Ordnung“, sagte er ohne den euphorischen Unterton zu verbergen.
Das Foto zeigte eine Frau, welche eine goldene Krone aufhatte. Sie schaute den Betrachter des Bildes verführerisch an. In ihren Händen hielt sie ein silbernes Armband, an dessen Ende ein rotes Herz befestigt war. Ihre pink lackierten Fingernägel wirkten feminin und anziehend. Nur ihr rechter Daumen war nicht lackiert. Die Frau stand auf einer großen Bühne, welche mit Blumen und einem Podest dekoriert war. Es war die Bühne des Abschlussjahrganges der High School und anscheinend wurde sie gerade zur Ballkönigin gewählt. Sie spitzte ihren Mund und verteilte Handküsse. Sie weinte, denn die Freude über den Sieg schien ihr viel zu bedeuten. Die Tränen rannen an ihrem Kleid herunter.
Einzelne Blumen wurden gerade auf die Bühne geworfen. Sie waren bunt. Die Scheinwerfer waren grell und spendeten mehr Licht als nötig.
Die Ballkönigin schien glücklich zu sein. Man konnte sich mit etwas Phantasie vorstellen, wie sie das Podest betrat und sagte: „Danke! Ich bin so stolz darauf, dass ich Ballkönigin geworden bin! Ich danke meiner Mutter, meinem Vater und Gott, der das alles möglich gemacht hat. Ich werde versuchen diese Auszeichnung dafür zu nutzen, um der Gesellschaft mit meinem neu- gewonnen Ruhm zu helfen. Danke vielmals!“
Stille.
***
Als John seine Fotoanalyse beendete, schüttelte Edward seinen Kopf. Der Anwalt legte traurig seine Hand auf die Schulter eines Mannes, welcher scheinbar den Verstand verloren hatte. „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich habe dir eine Verhandlung versprochen und nicht ein Irrenhaus, aber ich glaube, dass ich versagt habe.“
Edward schaute sich um und sah die Augen des Richters, welcher offensichtlich Mitleid mit John empfand. Der Blick des Professors offenbarte nur Eile, denn er wollte nach Hause zu seiner Frau. Der Abschaum auf dem Stuhl war ihm egal. „Wir haben genug gesehen“, sagte einer der beiden Prüfer und verschwand zusammen mit einem weiteren Prüfer. „Es tut mir Leid, John“, sagte Edward erneut. „Du hast dich selber beschrieben, verstehest du? Es war kein Spiegel, es war doch ein Foto!“
Da drehte sich der Mann um, der den Rest seines Lebens in einer Anstalt verbringen würde, die ihre Insassen wie zurückgebliebene Kinder behandelte. Für einen Augenblick sah Edward den Ansatz eines Verstandes in den Augen seines Mandanten. „Wenn ich das Foto beschrieben hätte, würde ich sterben. Manchmal ist es besser, seine Seele zu beschreiben, wenn man sie - wie ich - in einem Spiegel vor sich sieht“, flüsterte John.
Es war der letzte Satz, der jemals wieder über seine Lippen kommen sollte.