Das Gasthaus der leeren Geister
Ein riesiger Schimmelfleck verunzierte die rissige Wand. Er wuchs. Jedes der seltenen Male, da ich an der alten Wirtschaft vorbei gewandert war, schien er mir größer geworden. Durch die verschmutzten Fenster waren Vasen und Pflanzen zu erkennen, die einst den Schankraum hatten verschönern sollen. Jahrelang waren sie nun schon ihrer Aufgabe enthoben.
Seit Ewigkeiten war das Lokal geschlossen. Bereits als ich in den Ort gezogen war, hatte der Betrieb still gelegen. Nur die matten Glasscheiben hatten Einen trübe angeglotzt.
‚Wegen Todesfall geschlossen ’, besagte das Schild an der Tür.
Wer wohl gestorben war? Vielleicht der Wirt?
Keiner im Ort wusste es und keiner sprach darüber.
Nur selten verirrte sich einer der Ortsansässigen in das kleine Wäldchen, in dem das alte Ausflugslokal lag.
Trotz allem oder vielleicht gerade deswegen bearbeitete es mich, dass die Pflanzen im Schankraum weder vertrocknet noch welk wirkten.
Wer versorgte sie wohl in diesem einsamen Haus, vor dessen Tür zwei riesige tote Bäume ihre verstümmelten Äste wie flehend zum Himmel streckten?
Ja, wer versorgte die Pflanzen, während das Gebäude selbst immer weiter verfiel?
Das fragte ich mich bis zu dem Tag, an dem ich wieder einmal neugierig durch die Fenster sah und ein bleiches Gesicht hinter der Scheibe meinen Blick erwiderte.
Erschrocken fuhr ich zurück, konnte es aber nicht lassen, noch einmal zu dem Fenster hinzublicken.
Traurige Augen trafen die meinen.
Ansonsten war das Gesicht ausdruckslos. Die Scheibe war zu verschmutzt um mehr zu erkennen.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen.
Vorsichtig hob ich die Hand und klopfte sacht gegen das Glas.
Das Gesicht presste sich gegen die Scheibe, bis es unförmig zu verlaufen schien. Die wässrig trüben Augen waren geweitet, als versuchten sie mich einzusaugen.
Und dann war da diese bleiche Hand, die mich zum Eingang des Hauses zu weisen schien. Das Winken war kaum wahrnehmbar und doch schien darin eine klare Aufforderung zu liegen.
Ich zögerte.
Noch nie hatte ich in diesen Räumen ein menschliches Wesen gesehen.
Für einen Moment verweilte ich unschlüssig vor dem Fenster, aber letztendlich siegte meine Neugier.
Vielleicht handelte es sich bei der Gestalt im Schankraum ja um die alte Frau des Wirtes, die sich mit Mühe und Not vergeblich um den Erhalt des Hauses sorgte.
Jetzt war meine Gelegenheit gekommen es herauszufinden.
Trotz allem waren meine Schritte schwer, als ich sie zögernd in Richtung des Eingangs lenkte.
Düster fielen die Schatten der toten Bäume auf mich.
Meine Hand erreichte die Klinke und drückte sie langsam herab.
Ein letztes Mal wandte ich mich um, warf einen Blick auf den Wald und den grauen Himmel. Dann öffnete ich die Tür.
Das heißt, ich versuchte es. Die Tür war verschlossen.
Dankbar seufzte ich auf. Es war, als hätte jemand ein Bleigewicht von meiner Seele genommen.
Ich konnte nicht in das Haus hinein. Es war verschlossen und würde seine Geheimnisse für sich behalten. Ich musste sie nicht erfahren.
Erleichtert ließ ich die Klinke los und drehte mich um.
Mein Spaziergang war beendet. Ich würde gleich nach Hause gehen, mit dem beruhigten Gewissen, dass es Geheimnisse gab, die nicht meine waren. Gott sei Dank, nicht meine.
Und da hörte ich es. Schritte schlurften zur Tür. Ein Frösteln überfiel mich bei diesem Geräusch. Der Schlüssel fuhr von innen ins Schloss und wurde knarzend darin herumgedreht. Alle Haare in meinem Nacken stellten sich auf.
Am liebsten wäre ich fortgelaufen, fort von diesem Haus, fort von bleichen Gesichtern und sich drehenden Schlüsseln.
Und zu gern wäre ich fortgelaufen vor einer sich öffnenden Tür und dem, was dahinter stand.
Wie gern wäre ich geflohen und doch stand ich da, unfähig auch nur einen Schritt zu tun.
Da war ich und starrte.
Dort stand sie, die gebeugte Gestalt einer alten Frau, die Kleidung von Motten zerfressen, das Gesicht staubig und bleich.
»Ich habe sie schon einmal gesehen,« sagte sie. »Oft schon sind sie an unserem Haus vorbeigewandert, ohne einzukehren. Doch das ist verzeihlich, denn mein Mann, der Wirt, hat die ganze Wirtschaft sehr verkommen lassen. Ich versuche Alles in Ordnung zu halten und nach dem Rechten zu sehen. Aber sehen sie selbst«, mit diesen Worten winkte sie mich herein, »wie der Staub zunimmt.«
Ich trat ein und ließ meinen Blick über die tief im Staub begrabenen Tische und Bänke wandern. Spinnenweben hingen in den Winkeln.
Dann sah ich die Frau genauer an.
Wie bleich sie war, wie dürr und schwach. Wie hatte ich mich nur vor ihr fürchten können?
»Und ihr Mann«, fragte ich sie voller Mitleid, »kann der ihnen denn nicht mehr helfen?«
Traurig schüttelte sie den Kopf und zeigte in eine Ecke.
Und erst da sah ich ihn hängen, staubig wie die Bänke.
»Ich würde ja helfen«, sagte er röchelnd, »doch sie nimmt mich einfach nicht ab.«