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Das Gedicht

Ray

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23.09.2001
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Das Gedicht

Dunkle Seitenstraßen, gesäumt von aufragenden, grauen Mauern der namenlosen Hochhäuser. Aus der Ferne drängen die Hektik aus Motorengeräuschen, Stimmen und Hupen an Z´s Ohr, der Gestank der Großstadt in seine Nase. Nicht die Gerüche adrenalinbedingter Schweissausbrüche verliebter Menschen beim ertsen Anblick ihrer Verabredung, nicht die vielfältigen Aromen fremdländischer Gerichte, die in kleinen Ständen zubereitet werden. Z liegt in mitten eines großen Müllhaufens, den achtlos auf die Straße geworfene Abfälle bilden, stinkende Essensreste und vergammelte, durchweichte Kartons. Z kann sich kaum noch rühren, zerfetzte Reste Stoff, die vor einigen Tagen noch seinen besten Anzug dargestellt hatten, kleben klamm und stinkend an seinen vor Kälte regungslosen Gliedern wie gebadete Katzen an ihrem Retter. Seine Armani Krawatte mußte er vor zwei Tagen als Verband für eine Wunde verwenden, die ihm ein Straßenköter zugefügt hatte, als er ihm einen Hühnerknochen wegnehmen wollte. Nicht, weil er gehört hatte, daß Hunde an Hühnerknochen ersticken könnten, sondern weil er vor Hunger fast wahnsinnig wurde. Die Wunde war immer noch offen und eiterte, die dauernde Nässe verhinderte die Heilung. Die Dunkelheit brach langsam über ihn herein und mit letzter Kraft konnte Z einige lapprige Pappkartons über sich ziehen, als es anfing, zu schneien. Seine Beine hatten ihn bis zu diesem Haufen getragen, als er auf einmal Klavierspiel hörte. Er lauschte eine Weile: Das Spiel eine Mischung aus Jazz, Verstimmung und Nichtkönnen, aber ungemein intensiv und vor allem eins: ungemein traurig und schmerzerfüllt. Die Musik berührte ihn, machte ihn aus irgendeinem Grund glauben, daß er nicht mehr weiterirren müßte.
Obwohl das nun schon zwei Stunden zurück liegt, erklingt das Spiel immer noch auf seine markerschütternde Weise. Doch auch bei diesen Klängen kann er nur an das eine denken: das Gedicht.
Früher hatte er geschrieben und geschrieben, Kurzgeschichten, Gedichte, halbe Romane flossen nur so aus ihm heraus. Er wurde bewundert für seine Eloquenz, seinen Humor. Doch dann kam sie. Wunderschön, sie lag genau auf seiner Wellenlänge und nahm sein Herz im Sturm. Sie wußte durch Ehrlichkeit zu bestechen, wie es keine andere Frau davor tat, ließ ihm seine Freiheiten, was ihn nur noch mehr zu ihr hinzog. Er war glücklich gewesen. Auch sie las früher oder später in seinen Geschichten, auch die Liebes- und Haßgedichte und sagte einen Satz der mit der Zeit Z´s ganzes Denkvermögen in Anspruch nehmen sollte: "Schreibst Du auch mal ein Gedicht für mich?" Er hatte sich gedacht, daß wenn er einer Person in seinem Leben ein Gedicht widmen wollen würde, dann müßte es wohl sie sein. Und so setzte er sich am nächsten Tag sofort an den Computer, um auszudrücken, was er für sie empfand. Wäre er an einer Schreibmaschine gesessen, hätte hinter ihm nach einer Stunde wohl ein riesiger Haufen zerknüllter Blätter aufgeragt. So sammelte sich der virtuelle Abfall im Dustbin auf dem Desktop und sein Kopf rauchte. Ihm fiel nichts vernünftiges ein, die einzigen Ergebnisse waren kitschiges Rumgeschnulze und metaphorischer Trash. Jetzt machte er sich schon selber den Vorwurf, den er mal nach einer Lesung erdulden mußte, als er die Kurzgeschichte über einen erstickenden Penner in seinem gammeligen Appartement vortrug: "Willst Du die Leute aufhören lassen, indem Du nur noch über Ficken, Kotzen und Drogen schreibst? Hältst Dich wohl für sehr innovativ und schockierend.. Der reine Trash den Du da fabrizierst." Und jetzt gerade sah er es ein, obwohl in dem Gedicht, das er plante, niemand fickte, kotzte oder Drogen nahm. Trotzdem war jeder Anlauf nur ein weiteres Stück Trash. Jetzt, als er da in der Nebenstraße liegt und daran zurückdenkt, wird ihm die Ironie des Moments bewußt: Er, umgeben von miefigen Müllsäcken, sinniert über literarischen Trash, der ihn ebendorthin gebracht hatte.
Die nächsten Tage nach seinem ersten Versuchen, das Gedicht zu schreiben, dachte Z viel darüber nach, warum es nicht hinhaute. Er las andere Liebesgedichte, die er geschrieben hatte und die ihn immer noch irgendwie berührten, die er, egal was andere sagten, als wunderschön bezeichnete. Alte Erinnerungen an verflossene Lieben kamen hoch und er machte eine Feststellung: Keines der Gedichte für ein Mädchen war entstanden, als er glücklich mit ihr zusammen war. Er schrieb Zeilen an Verflossene, denen er nachtrauerte oder die Trennung verarbeitete. Verse an Mädchen, mit denen er wohl nie zusammen kommen würde oder mit denen er flüchtige Momente und Nächte verbrachte. Ein Gedicht richtete sich sogar an eine momentane Freundin, die mit einem anderen Kumpel ausging und ihn Zuhause sitzen ließ. Mann, war er da sauer gewesen. Und eifersüchtig. Er schmunzelte als er das las und daran dachte, wie anhänglich er damals war... Wie verrückt.
Da mußte doch was faul sein, keine Huldigung im Taumel des Glücks, nur schmerzliche Erfahrungen in sehnsuchtsvollen Zeilen zermahlen. Der Wahn, dieses eine Gedicht für seine Freundin zu schreiben, fing langsam an, sich in seinem Kopf auszubreiten. Nach einigen Tagen verbrachte er all seine Zeit nachdem er von der Arbeit kam, an der Kiste, um etwas fertig zu bringen, das seinen Gedanken entsprach, doch was er auch versuchte, schlug fehl. Seine Wohnung verwahrloste zunehmend und bei allen Überlegungen zu seiner Freundin ging er nicht mal mehr ans Telefon, obwohl sie ständig versuchte, ihn anzurufen. Er ging nicht mehr zur Arbeit. Hinter heruntergelassenen Rolläden brütete er mit dem Gesicht 10 cm über der klappernden Tastatur. Schrieb etwas, löschte es, schrieb etwas neues, aß hastig eine Packungssuppe aus einem benutzen Topf und löschte es wieder. Irgendwann kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht einen Tapetenwechsel benötigte und so beschloß er, loszuziehen. In seinem Anzug, den er seit Tagen trug, als er das letzte mal von der Arbeit kam, verließ er seine Wohnung auf der Jagd nach Inspiration und Ideen. Mit jedem neuen Versuch verschwand seine Erinnerung ein bißchen mehr, bald hatte er vergessen, wo er wohnte. Er schlief nächtelang im Park, unter Brücken und da, wo er vor Erschöpfung zusammenbrach. Im Schlaf wälzte er sich dann unruhig von einer Seite zur anderen, die Gedanken an das Gedicht verfolgten ihn und breiteten sich immer mehr aus. Eines morgens, als ihn ein Obdachloser, dem er die Bank weggenommen zu haben schien, fragte, wie sein Name sei, wußte er es nicht mehr. Der Landstreicher wunderte sich über das kleine Taschenlexikon, das Z immer mit sich herumtrug, um neue Ausdrücke für seine Ideen zu finden. Es war auf der letzten Seite aufgeschlagen. Der Buchstabe war umkringelt, alle anderen Wörter durchgestrichen. Also beschloß der Penner, ihn einfach Z zu nennen. Z irrte fortan umher, nahm kaum noch Leute war, immer nur auf der Suche nach dem Gedicht. Brabbelnd rempelte er sich durch überfüllte Strassen, lief vor Autos, ohne die schockierten Gesichtsausdrücke der gerade noch bremsenden Fahrer wahrzunehmen. Und so war er nun letztendlich in diesem stinkenden Müllhaufen in der Seitenstraße gelandet und lauschte dem Klavierspiel.
Sein Blick ist gen Himmel gerichtet, dessen dunkler Streifen zwischen den Häusern durchlugt. Plötzlich hört das Klavierspiel auf und über Z öffnet sich eine Balkontür, vor der wohl auch irgendwann einmal ein Balkon angebracht gewesen war. Ein großer sperriger Gegenstand wird hinausgeschoben, ein Schrank oder so, er kann hören, wie jemand schnauft und stöhnt. Stück für Stück wird das Ungetüm weiter aus der Maueröffnung befördert, Z´s Verstand sagt ihm, daß es besser wäre, von hier zu verschwinden oder wenigstens ein paar Meter zu rutschen, um nicht direkt unter dem Fenster zu liegen, doch sein Körper gehorcht dem Geist nicht. Die Person im Haus scheint Anlauf zu nehmen, denn schnelle Schritte und Schnaufen nähern sich. Ein dumpfer Stoss gibt dem Gegenstand den letzten Ruck zum Überkippen aus der Tür. Z´s Augen weiten sich, als der dunkle Schatten des riesigen Monstrums pfeilschnell auf ihn zurast und sich vergrößert. Bruchteile von Sekunden später zerschellt direkt neben Z mit einem ohrenbetäubenden Lärm ein altes, barockes Klavier, er wird von Holzsplittern, Saiten und kleinen Hämmerchen überschüttet. Die schreckliche Symphonie aller gleichzeitig angeschlagenen Töne verklingt langsam in seinen Ohren, als er ein hysterisches Lachen vernimmt. Es kommt von der Person, die noch an der Balkontür steht und, sich windend, dem Klavier nachsieht. Die Hysterie scheint langsam in ein Gefühl der Befreiung umzuschlagen, als die Gestalt die Fensterläden vor der zerborstenen Scheibe schließt.
Wie vom Blitz gerührt ist Z aufgesprungen. Aus dem Nichts kehren seine Kräfte zurück, um sich zurückzuholen, was ihnen gehörte. Er kehrt sich die Holzsplitter von der Schulter und läuft los. Vorbei an dem Penner, dem er seinen neuen Namen zu verdanken hat. Er hält nur kurz inne, als ihm auffällt, daß ihm auch sein eigener Name wieder eingefallen ist. Aber unwichtig. Sein Rennen erhält ein Ziel, als ihm auch zufliegt, wo er wohnt. Klare Gedanken bündeln sich und er betritt seine Wohnung und duscht. Gleich darauf wirft er den Computer an und verfaßte folgende Zeilen:
"Konnte nicht sagen, was Du für mich bist.
war lange weg und hab Dich vermißt.
Du fülltest mich aus von Kopf bis Fuß
Gedanken an Dich waren ein Muß..."
Wie erwartet, ergreift ihn schon nach diesen Zeilen der Ekel und die Abscheu vor seinem eigenen Mist. Er sieht nur noch zwei Möglichkeiten. Die erste: Er entledigt sich seiner Freundin, die ihn in dieses Dilemma gestürzt hatte oder... Doch es ist ihm bewußt geworden, daß er sich geirrt hatte. Hätte er es nicht so krampfhaft versucht, wäre er wohl nie so besessen von der Idee gewesen. Sie hatte ihn ja zu nichts gezwungen oder gedrängt. Da war diese eine Bemerkung gewesen. "Schreibst Du auch mal...?" Eine flüchtige Bemerkung ohne Druck. Doch jetzt war es zu spät, denn er ist mitten drin. Also entscheidet er sich für die zweite Lösung. Er springt auf, reißt den Monitor vom Schreibtisch und schleudert ihn in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers. Dort implodiert der Bildschirm und nimmt alle Last und alle Fehlversuche mit ins Jenseits.
Z konnte es noch nicht fassen, doch von diesem Zeitpunkt an war er erlöst und schrieb nie wieder ein Wort. Am nächsten Tag ging Z wie gewohnt in die Arbeit als wäre nichts gewesen. Seine Kollegen hatten sich gesorgt, wo er abgeblieben war, doch nach der kurzen Erklärung, eine schwerwiegende Grippe gehabt zu haben, war der Chef wieder versöhnt und gab ihm eine Gehaltserhöhung. Außerdem waren alle zufrieden und lebten glücklich bis an ihr Lebensende.

16.02.2000

"Es gibt so viele Dinge
Man kann fast alles kaufen
Doch am allerbesten ist immer noch
Saufen, Saufen, Saufen."
- Die Schröders

 

Bravo !
Wirklich sehr gelungen in Stil und Inhalt!
Schade wirklich , dass die besten Geschichten hier so wenig Feedback bekommen, weil man etwas länger und genauer lesen muss !

Lass diesen Märchenschluß mit dem "ewig leben" weg und Du hast eine rundum gelungene Story !

 

Jaja, wenn Schreiben zur Besessenheit führt ... ;)

Grandiose Story, hat mir echt sehr gut gefallen, obwohl auch ich finde, daß der letzte Absatz so nicht dahingehört.
Ansonsten: Kompliment für Inhalt und Stil!

Gruß,
Gambler

 

Bin mir über den letzten Absatz auch nicht ganz im Klaren, aber ansich vertrete ich den Standpunkt, die Geschichte so zu lassen, wie ich sie ursprünglich ausgeko.., ähh, verfasst habe. Nur, wenn die Logik zu sehr leidet (das nötige Maß an Logik von der Story abhängig), lege ich nochmal Hand an.

Aber hier überlege ichs mir selber schon, ob Änderung nottut...

Danke und schöne Grüße,
Ray

 

Mahlzeit!

Ja, ist gut, die Geschichte. Wobei ich leider sagen muß, dass sich Z. durch Beachtung einiger Grundregeln den ganzen Kram hätte ersparen können.

1. Bittet Dich eine Frau darum, für sie doch einmal ein Gedicht oder einen anderen Text (Brief, Story) zu schreiben ... vergiss sie! Geh in die Kneipe, besauf dich und spüls den Klo runter.

2. Gibt Dir eine Frau ALLE Freiheiten, stimmt was nicht. Setz einen Detektiv auf sie an. Meistens hat SIE dann schon mehr Freiheiten wie Du.

3. Frauen sind Dir grundsätzlich zwei Schritte voraus. Denk nicht drüber nach warum! Geh in die Kneipe und sauf.

4. Hast Du mehrwöchige Aussetzer infolge eines Problems mit Frau/Freundin, meld Dich freiwillig in der jeweils zuständigen Psychiatrischen Landesklinik. Man wird Dich dort als Hausmeister einstellen.

Soviel zum Leben. Die Geschichte war aber trotzdem gut.

Heiko

 

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