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Das Geheimnis der Gruft zu Köln

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02.09.2015
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Anmerkungen zum Text

Das Kölsch wurde in liebevoller Detailarbeit von @linktofink übersetzt.

Das Geheimnis der Gruft zu Köln

Kratzend glitt die Feder über das Papier, hinterließ geschnörkelte Buchstaben, die violett und feucht im Morgenrot glänzten. Ein tiefes Seufzen entglitt der Frau im schwarzen Kleid.

22.07.1860

Ich wusste, dass die Küchenmagd Minna uns beobachtete und aus unseren geheimen Treffen Wiener Klatsch und Tratsch machte. Der Herzog schien es nicht zu merken, wollte er mich immer wieder im Pavillon des Herrenhauses treffen.
Diese Nacht, in der ich dem Herzog so nahekommen wollte wie nie zuvor, musste ich den Blicken des Gesindels entgehen und einen anderen Treffpunkt bei ihm ersuchen. Ich konnte nur hoffen, dass Minna, die ein echter Spürhund zu sein schien, dieses eine Mal fern blieb. Eine weiße Taube sollte dem Herzog den Weg weisen.
So schlich ich mich aus dem Dienstboteneingang. Die Alte Wien war im Sommer nicht mehr als ein Rinnsal. An ihren steinernen Ufern sah ich schon vom Weiten die schlanke Gestalt des Herzogs. Die Sehnsucht nach seiner Umarmung, seinen Küssen …


»Frau Uexküll!« Eine hohe Stimme kam aus dem Büchersarg. »Was schreiben’s denn da in der guten Tinte? So viele leckere Buchstaben!«
Nun erschien auch das Gesicht zur Stimme. Ein grüner Wurm mit einem roten Hut, an dem eine weiße Feder wippte, robbte aus dem Bücherregal in Richtung Schreibtisch. Rückte sich die Brille zurecht.
»Mon Dracula, hüte dich Kasi, meine Memoiren zu fressen!«, rief Frau Uexküll und klemmte sich eine widerspenstige Locke hinter das rechte Ohr, die sich aus ihrem gesteckten Dutt gelöst hatte. Vielleicht war es ein Fehler, den Holzwurm damals auf Bücherdiät zu setzen. Aber wie hätte sie wissen sollen, dass Kasimir nicht den Leim und die Blätter annagte wie jeder herkömmliche Bücherwurm, sondern nur die Buchstaben fraß und nichts als leere Seiten hinterließ?
Sie seufzte. »Alors, Kasi. Dies ist ein besonders wichtiges Kapitel. Die Nacht, in der ich starb und …«
»Vermissen tun’s den Herzog schon noch?«, fragte Kasi, der mittlerweile den schwarz lackierten Schreibtisch hochkroch. »Dabei hat er Sie doch sitzen lassen.«
»Kasimir, das versteht ein Bücherwurm nicht. Wen eine Frau einmal liebt, den … «
Heftiges Klopfen ließ Frau Uexküll kurz aufschrecken. Eine weiße Taube saß auf dem Fensterbrett, schlug ihren Schnabel gegen das zerkratzte Glas. Ihr Gefieder schimmerte, als hätte sie ein Bad im Sternenhimmel genommen.
»Eine magische Taube!« Voller Erwartung öffnete Frau Uexküll das Fenster. »Wie aufregend.«
»Nicht doch!«, rief Kasi und versteckte sich hinter dem Tintenfass. »Tauben fressen Würmer! Haben’s das vergessen, Frau Doktor.«
»Keine Sorge, Kasi. Magische Brieftauben fliegen sofort wieder heim, wenn sie ihr Ziel gefunden haben.«
»Ihr Wort in Draculas Ohr.« Kasi quetschte sich zwischen die raschelnden Blätter mit den Memoiren.
Als sie auf den Schreibtisch sprang, gurrte die Taube eine Melodie, die an eine Symphonie von Mahler erinnerte. Am Fuß der Taube hing ein Brief. Vielleicht vom Herzog? Frau Uexkülls Herz hätte schneller geschlagen, wenn es das noch gekonnt hätte.
Vorsichtig löste sie den Brief und rollte ihn auf. Sobald sie die magische Taube von ihrer Last befreit hatte, flog diese in einem Bogen aus dem geöffneten Fenster zurück ins Freie. Draußen war ein lautes Knattern zu hören.
»Die Luft ist rein, Kasi«, sagte Frau Uexküll und schloss das Fenster. »Diese Moepi werkelt wieder an dem ollen Moped rum.«
»Die Taube ist wirklich weg?« Kasis Hut erschien zwischen den Seiten. »Puh, Glück gehabt.« Der Wurm sah Frau Uexküll mit großen Augen an, während ihm Schweißperlen über das Gesicht rannen. »Was steht denn da?«
»Warte, warte!« Die Vampirin rückte ihr Monokel zurecht. »Sehr geehrte Frau Dr. Uexküll«, las sie vor. Sie räusperte kurz ihre Enttäuschung weg. Dieser Brief stammte nicht vom Herzog, dem einzigen Wesen auf dieser Welt, das sie beim Vornamen nennen durfte. Er hätte niemals … Sie fuhr fort: »Eine gemeinsame Bekannte aus Wien, die Werwölfin Fräulein Minna, hat mir Sie, gnädigste Dame, wärmstens empfohlen. Als ich dann hörte, Sie seien nach Köln gezogen, da war mein Eifer umso größer, Ihnen zu schreiben und mit Verlaub, gnädige Frau, höflichst um Ihre Hilfe und Expertise zu bitten. Es geschieht etwas mit mir, das ich nicht erklären kann. Aber bitte sehen Sie selbst und besuchen Sie mich und mein bescheidenes Heim auf dem Melaten-Friedhof zu Köln, Gruft 123. Fräulein Minna erklärte Sie zur Expertin bei solchen Angelegenheiten. Mit vorzüglichster Hochachtung, Ihr Hofrat Egon Meyer.«
»Ein Abenteuer!« Kasi hüpfte aufgeregt auf und ab. »Endlich! Es ist so fad im Büchersarg.«
»Hm. Das hört sich wahrhaft so an, als würde der gnädige Herr in einer Notlage sein. Wir sollten ihm einen Besuch abstatten. Zudem wäre ein Freund in dieser Stadt etwas Schönes. In diesem Haus leben ja nur so unkultivierte Vampire. Hätte ich das gewusst, dann wäre ich in eine andere WG gezogen. Diese Moepi, eine richtige Göre. Und dieser Giftzwerg im Garten …« Frau Uexküll strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Dann nix wie los.« Kasi robbte zur Tischkante und ließ sich in Frau Uexkülls Lederbeutel fallen.
»Par mon Dracula, was ist das?« Frau Uexküll rückte ihr Monokel zurecht. Sie strich mit dem rechten Zeigefinger über den Tisch. Es blieben blaue, geschnörkelte Buchstaben auf ihrer Fingerspitze kleben. »Kasi, du solltest doch nicht.«
Aus dem Beutel war ein leises Rülpsen zu vernehmen. Gerade als Frau Uexküll zu einer Standpauke ansetzte, klopfte es.
Mit schnellem Schritt ging die Vampirin zur Zimmertür.
Vor ihr stand ein molliges Pärchen mit Koffern und dicken Wintermänteln. Der Mann trug eine neu glänzende Digitalkamera um den Hals. Ein schönes Teil. So etwas fehlte ihr noch.
»Ist das hier Zimmer 7? Wir haben über Sky Mo’n’Ster gebucht.« Der Dicke kratzte sich die Nase. Den Duft von B negativ witterte Frau Uexküll.
Die Vampirin schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht Zimmer 7.«
»Wo können wir es denn finden?«, fragte die Dame mit hörbarer Ungeduld.
Mit abschätzigen Blick betrachtete Frau Uexküll deren Konfektionsgröße. »Lassen sich mich einmal überlegen.« Sie presste die Lippen so zusammen, dass man ihre spitzen Zähne nicht sah. »Wo habe ich Zimmer 7 zuletzt gesehen? Alors, ich weiß, im Erdgeschoss neben dem Salon.«
»Ach, danke. Das müssen wir übersehen haben.« Der Mann rieb sich erneut die rote Nase.
»Zimmer 7 macht es einem auch nicht leicht. Bon S… Servus.« Mit diesen Worten schlug Frau Uexküll die Tür zu. Eigentlich hätte sie der Dame ein Intervallfasten vorgeschlagen, aber das lohnte nicht mehr und für Zimmer 7 waren die beiden eine ordentliche Portion. »Kasimir, wir statten jetzt dem Hofrat einen Besuch ab!«

Frau Uexküll schnappte sich den Beutel und eilte mit wehendem schwarzen Kleid die Treppen hinunter. Mit einem halben Ohr hörte sie noch die Ausrufe des Touristenpärchens. »Schatz, ein Whirlpool! Fantastisch!«, »Eine Spielzeugeisenbahn! Hast du so etwas schon einmal in einem Gästezimmer gesehen!«, »Herrlich! Dieser Ausblick.«
Als Frau Uexküll das Haus verließ, knallte auch die Tür von Zimmer 7 mit einem Schmatzen zu.

***

Die winterliche Morgensonne stand tief am Himmel. Es war ein angenehmer Tag ohne eine Wolke. Der Tag- und Nachtpassierschein des Grafen Dracula war sein Geld wert. Die beste Investition im Tod, die ein Vampir machen konnte und der Graf war wirklich wählerisch mit den Erwerbern. Es hatte sie Jahrzehnte gekostet, eine Audienz beim Fürsten der Nacht zu erhalten.
»Kasimir, da ist schon das Haupttor des Friedhofs.«
»Fein, da wird der Hofrat überrascht sein, dass Sie so schnell seinem Ruf folgen.« Es bewegte sich etwas im Lederbeutel.
»Tu ne manges pa mes notes!« Die Stimme von Frau Uexküll klang streng, als sie den Bücherwurm rügte. Dass dieses gefräßige Tier stets ihre Aufzeichnungen vertilgen musste.
»Keine Sorge, Frau Doktor, der Kugelschreiber schmeckt, mampf, abscheulich.«

Es dauerte nicht lange, bis sie die Gruft 123 fanden. Leise schlug Frau Uexküll mit dem Türklopfer an die eiserne Pforte, die mit zahlreichen Ornamenten verziert war.
Kasimir schaute neugierig aus dem Lederbeutel. »Er wird schlafen um diese Zeit.« An seinem Mund baumelte ein kleines r.
»Tretet ein!«, raunte es dumpf aus den Tiefen der Gruft. Die Tür wurde wie von Geisterhand geöffnet. Dabei knirschte sie laut in den Angeln. Die groß gewachsene Vampirin musste sich bücken, als sie den Vorraum mit seinen schmucklosen Wänden betrat.
»Oh, das ist aber unheimlich hier!«, jammerte Kasimir. »So dunkel auf einmal.«
»Vampire brauchen kein Licht.« Frau Uexküll stieg die steinernen Stufen in die Gruft hinab. Bei jedem ihrer Schritte klapperten die Absätze ihrer Stiefel. »Herr Hofrat Meyer?«
»Um die Ecke durch das Holzgewölbe«, rief eine tiefe Stimme. Schließlich erreichte sie einen steinernen Raum, in dem Särge wohlgeordnet an den Wänden gestapelt waren. Ein brauner Sarg mit goldenen Scharnieren stand geöffnet in der Mitte und in ihm saß der Hofrat. Putzmunter! Und wie er aussah! Frau Uexküll schauderte es, als sie den Herren mit dem manierlich gestutzten grauen Bart betrachtete. Seine Wangen waren rosig wie die eines jungen Burschen.

»Sie müssen Frau Doktor Uexküll sein«, sagte der Hofrat und fuhr sich durch das volle, silbermelierte Haar.
»Sehr wohl, gnädiger Herr.« Frau Uexküll machte einen kleinen Knicks.
»Nicht doch, die Dame. Ich freue mich, dass Sie so schnell kommen konnten! Ich hätte es fast nicht glauben wollen, als das Fräulein Minna erzählte, sie hätten einen Tag- und Nachtpassierschein des Grafen.«
»Eine lange Geschichte. Doch erzählt von Euch selbst. Ich sehe, es geht Euch gar nicht gut.«
Der Hofrat entstieg seinem Sarg und strich sich mit den Händen über die Wangen. »Sie sagen es, gnädige Frau. Die Nächte kann ich nicht mehr schlafen, wandle am Tag durch die Gruft, mein Gesicht glüht und ich fühle mich … Wie soll ich es erklären, als sei – halten Sie mich nicht für verrückt – Leben in mir.«
»Par mon Dracula! Das ist ja schrecklich.« Frau Uexküll trat einen Schritt auf den Hofrat zu und fühlte seine Stirn. »Ganz warm sind der Herr, sicher 35 Grad Celsius. Und …« Sie tastete an seinem Handgelenk nach dem Puls und zählte. Es war ihr, als ob … das konnte nicht sein, alle zwanzig Sekunden spürte sie ein Pulsieren in den Adern des Hofrats. »Das ist ja wirklich höchst seltsam! Und besorgniserregend.«
Frau Uexküll fühlte, wie Kasimir ihre Beuteltasche verließ und sich an ihrem Kleid Richtung Boden hangelte. Vermutlich war er wieder einmal hungrig und wollte die Gruft nach ein paar Büchern durchsuchen.
Der Hofrat schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Sehen Sie, Frau Doktor. Es steht schlimm um mich. Ich trinke schon nur noch Null-Negativ, aber es hilft nicht. Ich dachte, vielleicht kommt es von diesem Konservenblut und ich labte mich sodann an ein paar Friedhofsbesuchern, aber mein Zustand verschlimmert sich von Tag zu Tag.«
»Alors, es wird nicht an der Blutnahrung liegen.« Frau Uexküll setzte sich auf einen kleinen Sarg und runzelte die Stirn. »Es muss etwas anderes sein, das Euch – ja, es scheint ganz so – Leben einhaucht. Quel accident! Herr Hofrat, ich werde Euch bald wieder besuchen. Es kann ja nicht sein, dass Ihr der erste Vampir seid, den eine solche Krankheit befällt.«
»Ihr Wort in Draculas Ohr. Ich will Sie reichlich belohnen, wenn Sie die Ursache für mein Leiden finden. Ich werd jetzt etwas meditieren, denn mir ist, als hätte ich Hunger auf eine Ähzezupp.« Kopfschüttelnd legte sich der Hofrat zurück in seinen Sarg und schloss die Augen, als Frau Uexküll die Treppe wieder nach oben stieg.
»Kasi!«, rief sie flüsternd. »Kasimir, wo bist du denn?«
Sie blieb kurz vor dem Ausgang der Gruft stehen, als sie ein leises Keuchen vernahm. »Frau Uexküll, warten’s doch!« Kasimir kämpfte sich die steinernen Stufen hoch. »Ui, ui, mir ist gar nicht gut.«
Schnell schritt Frau Uexküll wieder ein paar Stufen herab und nahm den Bücherwurm auf ihre Hand.
Der Kleine sah grüner aus als für gewöhnlich. »Oh, oh, diese Buchstaben müssen schlecht gewesen sein. Passen’s auf. Ich …« Mit einem Röcheln übergab Kasimir sich auf Frau Uexkülls Hand. Zwischen einer schleimig grünen Masse schwammen alte Buchstaben.
»Oh, Kasimir. Wie …« Angewidert verzog Frau Uexkükll den Mund, doch dann stutzte sie. »Kasimir, woher hast du die?«
»Ich weiß nicht, war so dunkel in der Kammer.«
»Welche Kammer?«
»Die unter der, in welcher der Hofrat schläft.«
»Dort ist noch eine Kammer? Aber die Stufen endeten kurz vor derjenigen des Hofrats.« Frau Uexküll runzelte erneut die Stirn. »Das ist äußerst interessant. Lass uns hoch gehen und die Buchstaben näher betrachten.«
Wieder im Sonnenlicht angekommen, legten sie die verwitterten Buchstaben auf eine weiß gestrichene Parkbank.
Aufgeregt huschte Kasimir über die Sitzfläche.»Das ist ein Y, ein M, ein L, drei E … Ein bisschen Magenschleim …«
»Hm, ein Y, das wird sicher zu Meyer gehören. Legen wir diese Buchstaben zusammen, dann ergeben die restlichen …« Frau Uexküll schob die Buchstaben hin und her.
»Lase, Lesa …«, las Kasimir eifrig vor.
»Elsa!«, rief Frau Uexküll. »Elsa Meyer!«
»Und?«, fragte der Bücherwurm, dessen Wangen wieder hellgrün waren.
»Das muss eine Vorfahrin des Hofrats sein. Alors, lass uns morgen in den Archiven recherchieren. Ich habe da so ein Gefühl, dass diese zweite Kammer und diese Elsa …«
»Ach, Frau Uexküll. Das wäre aber schon ein großer Zufall.«
»Comme tout dans ce monde. Lass uns zurück zur Villa gehen.«

***

»Frau Dr. Uexküll.« Kasulke lehnte sich in dem Sessel zurück und schob die Lesebrille Richtung Nasenspitze. »Haben Sie sich schon gut eingelebt?«
Frau Uexküll setzte ein Lächeln auf, bei dem sie die selbst für einen Vampir äußerst spitzen Zähne zeigte. »Sie sollen nicht rauchen! Schon gar nicht im Salon!«
Eilig drückte Kasulke die Zigarette aus. Er war mittlerweile einiges von seinen WG-Bewohnern gewohnt, aber die Wiener Gouvernante jagte ihm immer noch Angst ein. Vielleicht, weil sie ihn an eine alte Lehrerin aus der Schulzeit erinnerte. Mathe und Latein. Kasulke schluckte. Dieses Bild hatte er schon vor Augen gehabt, als die Vampirin zum ersten Mal vor seiner Tür stand. Sie tupfte sich damals den Mund mit einem weißen Spitzentaschentuch ab und entschuldigte sich damit, dass so selten Taxifahrer ohne Blutalkohol und Zigarettenaroma zu finden sind. Anschließend drückte sie sich an ihm vorbei durch die Tür. Erzählte etwas von einem Passierschein, während sie ihm die Zigarette aus dem Mund zog und schließlich sagte: »Das ist nicht gut. Weder für das Raumklima noch für Ihre Lungen.«
Von diesem Moment an war ihm klar, dass diese Gouvernante gekommen war, um ihm das Rauchen auszutreiben. Noch hielt er sich aber standhaft.

»Danke, der Herr«, sagte Frau Uexküll. »Mir geht es gut. Ich hätte da aber eine Frage.«
»Nur zu!«, sagte Kasulke und unterdrückte ein Husten, blies dazu die Wangen auf.
»Haben Sie in Ihrer Bibliothek etwas über Kölner Stadtgeschichte? Über den Friedhof vielleicht?«
»Aber Frau Uexküll, Sie wollen uns doch nicht wieder verlassen!« Kasulke ging zum Regal und suchte in einigen staubigen Exemplaren.
»Nein, nein. Ich habe heute einen Freund besucht und dachte mir, wie wohl der Friedhof früher einmal ausgesehen hat.«
»Ah, so etwas suchen Sie. Ich hätte hier ein Buch mit alten Stadtplänen. Vielleicht ist dort auch der Friedhof eingezeichnet.«
»Wunderbar!« Frau Uexküll nahm den dicken roten Einband entgegen. »Den darf ich mir ausleihen?«
»Sicher, sicher«, sagte Kasulke und setzte sich zurück in seinen Sessel, schlug das Buch auf und las: Der amerikanische Bürgerkrieg und seine Folgen für die globale Wirtschaft. »Seltsam, seltsam …«, flüsterte er und putzte sich die Lesebrille. »Wo sind die Buchstaben hin?«

***

»C’est très interessant!« Frau Uexküll strich sich die widerspenstige Locke hinter das Ohr. »Schau, Kasimir. Es sieht so aus, als sei an der Stelle, wo heute Gruft 123 ist, eine Gruft leicht versetzt gewesen.«
»Ach zeigen’s her. Ja, das könnte sein. Durch eine Ritze im Gemäuer bin ich in diese Kammer gekommen. Es roch nach Buchstaben und Papier.«
»Dann hat die Gruft der Meyers wohl ursprünglich eine andere Position gehabt. Die Kammer ist geblieben und die neue Gruft wurde einfach draufgesetzt.«
»Die Karte ist von 17 – schmatz – 80.« So wie Kasimir über die Zahlen huschte, waren sie auch schon verschwunden. »Sehr lecker!«
Ein Poltern auf dem Flur ließ die beiden aufschrecken.
»Diese Mitbewohner …«
Frau Uexküll schritt zur Tür und setzte bereits zur Standpauke an, als sie diese öffnete. Es war jedoch niemand zu sehen. An der Türklinke baumelte aber etwas.
»Kasimir, Zimmer 7 hat uns die Kamera vorbeigebracht. Als könnte es Gedanken lesen. Die kann ich morgen gut gebrauchen, wenn wir zum Schattenstadtarchiv gehen. Ich bin gespannt, ob wir etwas über Elsa Meyer herausfinden.«
Kasimir robbte zur Schreibtischkante. »Puh, wo dieses unheimliche Zimmer 7 wohl wieder hin ist? Einen Albtraum habe ich gehabt, dass ich auf ein offenes Buch gekrochen bin und plötzlich klappten die Seiten zu … ich sag’s Ihnen, Frau Doktor. Mit Schweißperlen bin ich aufgewacht.«
»Alors, Kasi. Keine Sorge.« Frau Uexküll kam zurück und legte die Kamera neben das Buch. »Für Zimmer 7 wärst du doch nicht einmal ein Betthupferl.«

***

Bereits früh am nächsten Morgen saßen Frau Uexküll und Kasi zusammen im Stadtarchiv, das heißt in seinem Schatten.
»Frau Doktor, das ist das Paradies!«, sagte Kasimir. »Was für ein Glück, dass das Archiv so schnell eingestürzt ist, dass der Schatten zurückgeblieben ist. Diese Schattenbücher! Einfach köstlich! «
»Mon Dracula, du wirst nicht alles verschlingen!« Frau Uexkülll blätterte in einem alten Kirchenblatt. Ihre Finger glitten über die vergilbten Seiten. »Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur.«
Der Bücherwurm kam angekrochen, robbte über die geöffnete Seite eines Aktenordners, der verwitterte Schriftstücke enthielt. »Das sind aber alte Buchstaben. Ob die noch gut sind?«
»Alors, Kasi, du sollst sie nicht essen, sondern lesen!« Frau Uexküll kramte in ihrem Lederbeutel nach der neuen Digitalkamera, Sie fotografierte eifrig die Seiten ab.
»Jetzt machen’s nicht so spannend!« Kasi robbte über das Schriftstück und verschlang dabei ein paar Buchstaben.
»Par mon Dracula! Wie gut, dass ich die Kamera jetzt habe.«
Der Bücherwurm wurde leicht rot. »Das tut mir sehr leid! Keine Angst, die schmecken schon recht ranzig.«
»Das musst du lesen! Hier steht, stand, Elsa Meyer ist im Alter von zwanzig Jahren in das kirchliche Krankenhaus eingeliefert worden, weil ihre Wehen zu früh kamen. Sie muss die ganze Nacht um ihr Leben gekämpft haben und um dasjenige des Kindes. Am Ende starb sie. Das Kind konnte gerettet werden, erlag aber bereits vier Wochen nach der Geburt dem plötzlichen Kindstod.«
»Das ist aber eine tragische Geschichte«, sagte Kasimir. Seine Backen glichen denen eines Hamsters.
»Hier steht weiter, dass Mutter und Kind auf dem Melaten in einer Gruft begraben wurden, die eigens für sie erbaut worden ist.«
»Das muss die alte Kammer unter Gruft 123 sein!«
»Genau, und … ach, das ist tres interessant!«
»Was denn?« Kasimir rückte Hut und Brille zurecht. »Die verbliebenen Großeltern trauerten sehr und ließen vom Steinmetz am Eingang der Gruft eine Statue errichten.«
»Steinmetz!« Frau Uexküll strich sich ihre Locke hinter das Ohr. »Meinst du …«
»Das sollten wir prüfen«, rief Kasi und ließ sich zurück in Frau Uexkülls Lederbeutel fallen.

***

Als Frau Uexküll und Kasimir am späten Abend Kasulkes alte Gründervilla betraten, war es ungewöhnlich ruhig. Vermutlich waren die anderen Mitbewohner unterwegs oder schliefen. Der Steinmetz würde als Vampir ohne Tag- und Nachtpassierschein im Haus sein.
Frau Uexküll klopfte laut an seiner Tür. Es rührte sich zunächst nicht. »Monsieur Tailleur de Pierre?«
»Wer will dat wisse?«
»Frau Uexküll!«
»Und Kasimir …«, flüsterte es aus dem Beutel.
»Psst!« Frau Uexküll zog den Beutel an seinen Bändern zu.
Die Tür öffnete sich und das Gesicht des Steinmetzes erschien. Sein dichter Schnurrbart ließ ihn noch wuchtiger wirken, als er es ohnehin war. »Leeve Frau Uexküll, kummen Se doch eren. Wat för en freudige Övverraschung!«
Frau Uexküll betrat das Zimmer, rümpfte die Nase.
»Exküseere ens dat Chaos. Ich han nit opjeräump.«
»Das kann man laut sagen«, krächzte es aus dem geöffneten Fenster. Der Kopf einer Gargouille erschien, bewegte sich während der Rest des Tieres noch aus Stein war. »Er entschuldigt sich für das Chaos hier.«
Frau Uexküll bahnte sich ihren Weg durch das Zimmer. Überall lag Werkzeug verstreut auf dem Boden herum. Sie schluckte eine tadelnde Bemerkung herunter. Nun war nicht die Zeit, ihr Wissen über Aufräumen und die damit verbundene Befreiung des Geistes Preis zu geben. Obwohl der Steinmetz einen solchen Kurs ersichtlich nötig hätte.
»Monsieur Tail…«
»Sagen Se Manni!«
»... de Pierre, ich bin da einer Sache auf der Spur und brauche die Hilfe von einem echten Kölner. Wir – ich war heute im Schatten des Stadtarchivs und bin auf die Geschichte einer Elsa Meyer gestoßen. Sie starb im Jahre 1780 bei der Geburt ihres Kindes. Eine Gruft wurde für sie gebaut. Schauen Sie die alten Zeichnungen an.«
»För de Kirchhoff han ich e paar Fijure gemaht. En klein Zobrud.«
»Das dachte ich mir und sehen Sie am Tor der Gruft, da ist etwas eingezeichnet. Ein Engel oder so …«
»Jo, jo, ich erennere mich, Gruft 123. Ävver dat wor kein Engel, dä ich maache sullt.«
»Sondern?«
»Ne Fijur noch em Ölbeld. Dat Avbild vun ner junge Frau met em Nüggelche om Ärm. Ävver woröm dät Se dat esu interessiere?«
Der Speimane rekelte sich, wobei Steinbröckchen von seinen Flügeln fielen. Er breitete sein Gefieder aus und flatterte durch das geöffnete Fenster in den Raum. »Nüggelche, was soll die Dame damit anfangen? Ein Neugeborenes. Was es sie interessiert, will er wissen?«
»Hm, nun, ein Freund von mir wohnt nun in Gruft 123. Nicht in der alten, sondern in einer neuen, die oben auf gebaut wurde.« Frau Uexküll strich sich über das schwarze Kleid, als könne sie so die Unordnung wegwischen.
»Jo, han ich jehürt, dat die ahl Jrüffe övverbaut worde sin. En paar vun dene besonders staatse Fijure han se in en Museum övverführt, minge leider nit. Et es en Schand.« Der Steinmetz zwirbelte seinen Bart zusammen. »Dat es ävver trorich, möhten Se en Dos Bloot han?«
»Er fragt, ob Sie etwas Blut haben möchten?« Der Speimane pickte ein paar Brotkrummen vom Tisch auf.
Manni ging zu einer Kühltasche, öffnete diese und angelte eine silberne Dose mit einem großen A heraus.
Kopfschüttelnd ging Frau Uexküll im Zimmer auf und ab. »Der Freund von mir, er ist krank. Es ist fast so, als würde das Leben in ihn zurückkehren. Gar einen Herzschlag bekommt er. Ganz zaghaft, aber …«
»En Hätzschlag!« Manni erstarrte in seiner Bewegung.
»Einen Herzschlag!« wiederholte der Speimane und tastete mit seinem Flügel nach dem eigenen. »Noch aus Stein. Wie spät haben wir es?«
Manni ignorierte den Vogel und zerquetschte die Blutdose zwischen den Fingern, sodass aus der kleinen Öffnung etwas von dem Lebenssaft wie ein Springbrunnen sprudelte.
Frau Uexküll blieb so abrupt stehen, dass Kasimir fast aus dem Lederbeutel gefallen wäre. »Rosige Wangen hat er. Haben Sie je von so etwas gehört?«
Manni setzte sich mit einem Ruck auf einen Stuhl, der unter seinem Gewicht knatschte, rieb sich das Kinn. »Lossen Se mich övverläge, dat jung Fräuchen es bei der Nidderkunf gestorve. Dat jrößte Offer, dat e Frau ihrem Ditz brenge kann. E tragische Geschicht. De Großeldere wore baschtich bekömmert. Ich erennere mich noch, wie de Bestemo met de Klein op de Ärm … Leider hätt dat Klein net lang övverläv, ävver beids zesamme, Mooder und Ditz, künnte …«
»Könnten?« Frau Uexküll wurde ganz aufgeregt und merkte, wie auch Kasi in der Tasche wild umherkroch.
Der Speimane pickte weitere Krümmel vom Tisch auf. »Bei der Niederkunft ist sie gestorben, das junge Ding. Die Großmutter war mit dem Kind auf dem Arm …«
»Jo, se künnte zo nem Levvensgeis geworde sin! Dat duurt manchmol Johrhunderte, bes der Jeis von Mooder und Ditz verschmelze un dann met esu speziell Energie strohle.«
»Ein Lebensgeist, par mon Dracula. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin!« Frau Uexküll klatschte in die Hände.
»Ein Lebensgeist! Beim heiligen Wasserspeier!« Der Speimane verschluckte sich und hustete Krummen aus Brot und Stein auf den Boden.
Manni sprang auf. »Ich han do evvens en Idee, ävver doför möhte mer in de Jruff.«

***
»Herr Hofrat, wir haben die Lösung.« Erschrocken blieb Frau Uexküll am Eingang zum Raum mit den Särgen stehen, als sie den Hofrat sah. Er schlief tief und fest in seinem Sarg. Mitten in der Nacht! Seine Wangen glänzten und er, sie konnte es kaum glauben, schnarchte.
»Bei Dracula, esu schlääch es et öm den bestellt!« Manni zuckte zusammen. »Wann der Levvensjeis noch länger in singer Nähe bliev, dann weed hä noch zom Minsche!«
Frau Uexküll rüttelte an des Hofrats Schulter. »Herr Hofrat, so wacht doch auf!«
»Wie, wie, was, wo bin ich!« Der Hofrat rieb sich die Augen.
»Frau Uexküll und Monsieur …«
»Manni!«, sagte der Steinmetz und hielt dem verwirrten Hofrat die verhornte Hand hin.
»Wir haben die Lösung für Euer Problem.« Frau Uexküll weihte den Hofrat in den verwegenen Plan des Steinmetzes ein. Vor Aufregung pochte die Halsschlagader des alten Mannes. »Ein Lebengeist! Potzblitz! Und das mir!«
»Mer möhte uns beiele. De Zick weed spack!«, sagte Manni schließlich und holte drei Stangen Dynamit aus der Tasche. »Esu möhten mer et in de ahl Jruff schaffe. De Zogang möht koot hingerm Engang zo däm Raum sin.«

***

»Hoffentlich fällt nicht die ganze Gruft über uns zusammen!«, flüsterte Kasi und schaute kurz aus Frau Uexkülls Lederbeutel raus, die ihn sanft zurückschob. »Schnell nach oben, Gnädiger Herr«, sagte Frau Uexküll und half dem Hofrat aus dem Sarg.
Manni hetzte die Treppen hoch, während Frau Uexküll und der Hofrat bereits auf der weißen Friedhofsbank saßen. Es folgte ein lauter Knall und ein greller Blitz.
»Ui, ui, ui.« Kasimir wimmerte im Lederbeutel.
»Psst«, sagte Frau Uexküll. »Man wird dich irgendwann einmal hören, wenn du nicht still bist, und dann schmeißt Kasulke uns aus der Villa. Ein buchstabenfressender Wurm in einer Villa voller Bücher.«
»Besser als Löcher im Sarg.«

»Ich jon widder eraff!«, sagte Manni. Unter seinen schweren Schritten schienen die Stufen der alten Gruft zu barsten. Die anderen beiden folgten ihm vorsichtig.
Manni blieb abrupt stehen. »Pass op. En Deil vun der Trapp wod mit wegjesprengk, ävver hee! Ich hatt Rääch, mer han dat Loch direk am Avgang vun de Trapp in de ahl Jruff gesprengk.«
»Wunderbar! Sie sind ein Genie!«
»Mer danke baschtich, Gnädigste.«
Die drei Vampire folgten den nun frei gesprengten Stufen weiter hinab in die Gruft. Sie waren so verwittert, dass Frau Uexküll mit ihren Stiefeln Probleme hatte, darauf Halt zu finden. »Mon Dracula!« Sie wischte sich über die Stirn. »Dort … dort ist etwas?«
»De Statue!«, rief Manni aus. »En Praachstöck, nit wohr?«
»Sehr schön …«
Manni nahm sein Hämmerchen vom Gürtel, klopfte um den Kopf der Figur herum, holte schließlich mit der Faust aus. Ein Knarzen schallte durch die Gruft.
»Aber, aber …« Frau Uexküll hielt die Hand vor den Mund und der schlaftrunkene Hofrat wirkte auf einmal ganz wach.
»Herr Manni«, sagte er. »Die wundervolle …«
Der Steinmetz rüttelte derweilen an dem Kopf, bis er ihn in den Händen hielt. »He, halde Se dat mol evvens!« Mit diesen Worten drückte Manni dem Hofrat den Kopf in den Arm.
»Han Se de Milch?«, fragte Manni.
»Ja, einen Moment.« Frau Uexküll holte die Packung aus ihrer Tasche, auf der Frischmilch stand. Mit einem Seufzen reichte sie dem Steinmetz diese. »Ich ahne, was sie vorhaben.«
Mit einem Grinsen schüttete Manni die Flüssigkeit in die geköpfte Statue. »Milch, der Levvensaff vun dä Minsche. Hä weed dä Levvensjeis aanlocke. Ich waade he un Sie, Frau Uexküll, locke dä Jeis us singer Kammer.«
Frau Uexküll nickte und ging tiefer in die alte Gruft hinein. Zuerst durchquerte sie eine leere Kammer, in welcher einige Dokumente verstreut lagen.
»Ui, ui«, sagte Kasimir, der wieder aus dem Beutel schaute. »Hier habe ich diese Buchstaben gefunden.«
Frau Uexküll bückte sich und hob die Papiere an. Dort fehlten tatsächlich einige Buchstaben. Den Namen »Heinrica« konnte sie noch entziffern. »Das wird das Kind sein«, sagte sie und ließ die Blätter wieder fallen. »Wir müssen weiter.«
Die beiden verließen die Kammer durch eine bogenförmige Tür im Mauerwerk. Sie standen anschließend in einer weitaus kleineren Kammer, in deren Mitte die Reste eines Holzsarges und ein Haufen durcheinander gewirbelter Knochen lag. Abgebrannte Kerzen waren überall verteilt. In einer Ecke lag ein kleiner Schädel.
»Hier ist’s aber gruselig, Frau Doktor!« Kasimir zog sich so weit in den Beutel zurück, dass nur noch der rote Hut mit der weißen Feder herausschaute.
»Nichts zu sehen von einem Geist.« Mit klappernden Stiefeln ging Frau Uexküll durch die Kammer. »Elsa? Oh, oh …«
»Was ist, Frau Doktor?« Kasimirs Gesicht erschien wieder. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, ich fühle mich sogar sehr gut. So als würde neues Leben durch meine trockenen Adern strömen.«
»Herrje, der Lebensgeist, Frau Uexküll!«
»Er muss irgendwo hier sein.« Frau Uexküll merkte, wie ihre Wangen warm wurden und dann sah sie etwas. Es war nicht mehr als flüchtiges Schimmern, das über dem Kinderschädel schwebte.
»Der Lebensgeist.« Kasimir schaute nun so weit aus dem Lederbeutel hervor, dass er fast rausfiel.
Mit einem Windstoß schoss das Schimmern auf die beiden zu.
»Schnell! Wir müssen fort hier.« Frau Uexküll rannte aus der Kammer. Das Schimmern hinter ihr her. »Wenn der Lebensgeist mich kriegt, werde ich wieder zum Menschen.«
In der größeren Kammer kam Frau Uexküll ins Rutschen, fiel auf den Boden. Kasimir wurde aus der Tasche geschleudert. Frau Uexküll rappelte sich auf. »Kasimir? Wo bist du? Merde les papiers!«
Das Schimmern kam in die Kammer geflogen. Frau Uexküll fand den Bücherwurm bewusstlos kurz vor den Stufen. Er musste sich den Kopf gestoßen haben. Der Hut hing schief und er hatte seine Feder verloren. »Kasimir! Wach doch auf.«
Sie spürte ein warmes Kribbeln an ihrer Haut. Das Schimmern war direkt hinter ihr. Atemlos sprang sie auf und sprintete die Treppe hoch, stopfte dabei Kasimir in den Lederbeutel. Sie würde ihm eine neue Feder besorgen müssen. Das Schimmern war dicht hinter ihr, griff immer wieder nach ihrem Rockzipfel.
»Schnell!«, rief sie als sie oben ankam. »Er ist hinter mir.«
Manni stellte sich mit der geköpften Statue an die Treppe. Frau Uexküll hechtete an ihm vorbei und riss dem Hofrat den Kopf aus dem Arm. Dann schoss das Schimmern nach oben, verharrte kurz und flog direkt in die Statue.
»Der Dätz!« Manni stellte die Statue auf.
Frau Uexküll setzte den Kopf zurück. Es war ihr, als würde es aus dem Inneren der Figur jammern.
»Das war knapp«, sagte sie und merkte, wie das ungewohnte Atmen nachließ.
Derweilen rührte Manni in einem kleinen Gefäß Zementmörtel an. »Halde Se dä Dätz jood feste«, sagte er und begann schließlich, diesen wieder zu befestigen.
»Und nun?«, fragte der Hofrat, dessen Wangen auf einmal gar nicht mehr so rosig aussahen.
»… geht Ihr zurück in Euren Sarg und ruht Euch gut aus. Dann seid Ihr bald wieder der Alte«, sagte Frau Uexküll.
»Mer nemme de Statue met un stelle se beim Kasulke en dä Jaade«, sagte Manni. »Wä weiß, woför mer en Levvensjeis noch bruche künnt.«

***

»Das ist ein wunderbarer Platz«, sagte Frau Uexküll. »Monsieur Tai…«
»Manni.« Der Steinmetz war dabei, die Statue mit Zementmörtel zu verkleiden. »Ich weede se neu bearbeide. Durch dä Beton sullt der Levvensjeis nit uskiele künne.«
»Dann gehe ich einmal zurück ins Haus.« Frau Uexküll betrachtete den kantigen und großgewachsenen Steinmetz. Er hatte ungefähr ihr Alter.
»Na, wäre der nichts für Sie?« Kasimirs Stimme kam aus dem Lederbeutel.
»Kasi, du bist wieder wach!«, murmelte die Vampirin.
»Ui, ui, das war ein Schlag. Mein Schädel brummt.«
»Han Se jet jesaht?« Der Steinmetz betrachtete Frau Uexküll mit einem Stirnrunzeln.
»Nein, nein, schon gut.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging an dem alten Schuppen vorbei zurück zum Haus. An der Tür stand ein junger Mann mit einem riesigen Rucksack. »Endlich, niemand öffnet mir«, sagte er.
Frau Uexküll schnupperte. Der Duft von AB positiv stieg ihre Nase hoch. Sie schluckte. Sie sollte nicht, aber Zimmer 7 hatte doch schon das Touristenpärchen gehabt und sie …
»Ich habe Zimmer 7 gebucht. Der Zug hatte Verspätung …«
Frau Uexküll lächelte mit zusammengepressten Lippen. »Zimmer 7 – ist noch nicht fertig. Aber Sie könnten so lange zu mir hochkommen. Ich mache Ihnen einen Tee.«
»Das ist nett«, antwortete der junge Mann. »Ich bin wirklich sehr müde.«
»Das verstehe ich doch.« Frau Uexküll schloss die Tür zu Kasulkes Gründervilla auf. »Nach Ihnen.«
Aus ihrer Tasche protestierte Kasimir: »Frau Doktor, nicht doch … Frau Doktor haben sie vergessen? Die Null-Negativ-Diät!«
»Psst!« Frau Uexküll zog die Tür hinter sich zu und wies dem jungen Mann den Weg zur Treppe.

 

Hallo @GoMusic ,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe ja leider noch viel offene hier rumstehen und auch schon in der Romanrunde gestern gebeichtet, dass ich derzeit an zwei KGs für Ausschreibungen arbeite. Wenn Februar vorbei ist, werde ich hier die Kommentare an einem Wochenende einarbeiten. Deine Anmerkungen natürlich auch ?. Ein detailliertes Feedback kommt dann.

Freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Meine Idee war, dass die Uexküll-Stories ein wenig „Dark Miss Marple“ werden und sie mit immer anderen Bewohnern Abenteuer erlebt. Indiana gefällt mir aber auch als Vergleich. ?. Und lustig sollte es natürlich auch sein! Wäre ja sonst fad im Büchersarg ?.

LG
Mae

 

Hi Maedy,
Tolle Geschichte, sehr liebevoll und detailreich ausgeführt.

Als Österreicher hatte ich aber größte Probleme mit dem Kölnischen Slang:

junge Frau met em Nüggelche om Ärm.
Nüggelche?? das konnte ich höchstens aus dem Zusammenhang erkennen.

Kratzend glitt die Feder, begleitet von Seufzen, über das Papier, hinterließ geschnörkelte Buchstaben, die tiefblau und feucht im Morgenrot glänzten.
Sehr poetischer Anfang
Manni holte mit der Faust aus und schlug der engelsgleichen Figur mit dem Baby im Arm vor den Kopf. Ein Knarzen schallte durch die Gruft.
Sie schlägt ihr wohl den Kopf ab? Ich finde die Formulierung sehr schwammig und überhaupt: Entweder zersplittert der Kopf, wenn sie ihn so abschlagen kann oder andererseits müsste es selbst für einen Vampier nicht leicht sein, einfach Stein zu zerbrechen.

Weiters fand ich einige Ideen sehr erfrischend. So z.B den Tag und Nacht Passierschein und den Lebensgeist.

LG
Bernhard

 

Liebe alle,

uff ... sorry. Jetzt habe ich echte lange gebraucht mit der Überarbeitung. Aber ich war sehr fleißig in der Zwischenzeit und habe mehrere Kurzgeschichten für Ausschreibungen geschrieben.
Ich hoffe, Ihr verzeiht mir, dass die Uexküll etwas rumlag.

Lieber @linktofink ,

Finde das bis auf eine Ausnahme gelungen, später mehr. Eines vorneweg: Mir gefällt die Geschichte sehr gut. Sie ist gespickt mit außerordentlichen Einfällen, die nicht nur mit einer guten Portion Witz daherkommen, sondern in ihrer Absurdität paradox wirken, es aus der Vampirperspektive aber nicht sind.
Vielen Dank für die netten Worte! Es freut mich, dass die Geschichte so gut angekommen ist und das wäre sie sicherlich viel weniger ohne Deine fachmännische Hilfe bei Zement und Kölsch.
sind. Der Hofrat, der schwer erkrankt ist, weil er schrecklicherweise einen Puls hat und warm wird, na so was, arggh, der droht zum Menschen zu werden, herrlich!
Ich frage mich halt immer, warum das Vampirsein so oft in der Literatur verteufelt wird. Wenn man bedenkt, was so mancher für Schönheitsoperationen und Lifting ausgibt, da wäre doch so ein Biss ...
Würde mir da eine Kooperation wünschen, dass der Kasimir dem Liberatschi die Ixe, die Ypsilons und die Zetts wegfrisst, damit der weniger Allergiebeschwerden hat, but that´s another story.
Vielleicht begegnen sie sich einmal in einer Manni-Geschichte?
Der lebt von Luft und Tinte und nicht von Zellulose.
Genau!
Iwas stimmt da nicht. Nach meinem Sprachgefühl müsste es heißen: "Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Holzwurm damals auf Bücherdiät zu setzen."
Haha, ich habe das einmal breit unter den „Feuerkranichen“ diskutiert, nachdem der Friedel mir das „gewesen“ immer angekreidet hat (nicht als falsch, aber stilistisch unschön).
Mahler? Warum nicht Tschaikowskis Schwanensee? So als magische Taube ... :D
Weil Mahler in Wien lebte.
Der klassische Friedhof für alle Innenstädter war der Melaten. Gruft 123 hört sich arg nach Platzhalter an, wie Erika Mustermann, würde die Zahlen würfeln.
Oh, danke! Geändert!
Sky Mo’n’Ster ist auch schön, Airbnb für menschliches Futter. Denkt sie B negativ oder wittert/riecht sie das?
Geändert.
Zimmer 7. Würde noch etwas Suspense reinbringen, was im Zimmer passiert. Das Schmatzen ist schon gut, vllt. geht da noch mehr.
Das habe ich jetzt nicht gemacht. Zum einen mangels Idee, zum anderen weil ich Zimmer 7 doch als Sidekick beibehalten wollte. Die eigentliche Geschichte findet ja anderswo statt.
Der Sidekick macht deine Geschichte sehr lebhaft, gefällt mir.
Danke.
Würde das häppchenweise präsentieren, damit es relaxter zu lesen ist.
»Tretet ein!«, raunte es dumpf aus den Tiefen der Gruft. Die Tür wurde wie von Geisterhand geöffnet. Dabei knirschte sie laut in den Angeln.
Gekauft.
Das Adverb könntest du durch ein stärkeres Verb einsparen.
"Frau Uexküll stapfte die steinernen Stufen hinab in die Gruft."
Ich habe es ganz gestrichen, da zwei Sätze weiter schon die Stiefel klappern, was ein Markenzeichen der Frau Uexküll ist laut Charakterbeschreibung.
Der Raum erschien, war also vorher nicht da? Ein kleiner Raum ist für mich so gefühlte max. 3 x 3 m. Wie viele Särge passen da rein? Und wenn die Särge in Stapeln aufeinander stehen, kommt der unter Vampir dann gar nicht raus, oder wie? :confused:
Ich habe das “klein“ rausgenommen. In den anderen Särgen leben keine Vampire nach meiner Vorstellung. Wird ja nicht jeder Vampir, gell?
Das ist vermutlich nicht falsch, liest sich aber erst mal so, vllt. doch das ist nehmen?
Ich hatte das alles auf die zweite Person Plural geändert, um Frau Uexkülls Hochachtung auszudrücken.
Das würde ich unbedingt einfacher schreiben.
"Dieses Bild hatte er schon vor Augen gehabt, als die Vampirin zum ersten Mal vor seiner Tür stand. Sie flötete zur Begrüßung, dass so selten Taxifahrer ohne Blutalkohol und Zigarettenaroma zu finden seien. Anschließend tupfte sie sich den Mund mit einem weißen Spitzentaschentuch ab, zurück blieben rote Flecken. Als sie sich an ihm vorbeidrückte, murmelte sie etwas von Passierschein, zog ihm die Zigarette aus dem Mund und schalt ihn: »Das ist nicht gut. Weder für das Raumklima noch für Ihre Lungen.«
Ich habe es etwas anders gelöst.
in ein paar würde ich ersetzen durch in einigen.
Gekauft.
Du kennst die Geschichte mit dem Kölner Stadtarchiv? Ist beim U-Bahnbau vor 11 Jahren eingestürzt und der Neubau an anderer Stelle ist zwar fast fertig, aber noch nicht eröffnet.
Okay, da war ich jetzt etwas kreativ. Hatte ich total verdrängt.
im Alter von zwanzig Jahren ...
Gekauft!
Liest sich komisch, vllt. "Wer will dat wisse?"
Geändert.
Warum Vergangenheit?
Öh ...
Meine Bitte an dich, liebe Mae: Ich möchte es genau andersrum machen, heißt, er ist tagsüber versteinert und wird in der Dunkelheit/Mondlicht lebendig. Das würde für deinen Text auch einige Veränderungen bedeuten (nicht sooo :D viele) und würde helfen, die eine Stelle, die ich gleich anspreche, zu erklären.
Das habe ich etwas umgeschrieben. Und dabei gleich einen Zeitenfehler geändert, den ich versehentlich eh eingebaut hatte.
Huiui, ein leiser Anflug von Frühling in der Monster-WG? :D
?

Lieber @Peeperkorn ,

Das ist eine richtig gute Geschichte, die ich gerne gelesen habe. Sidekick Bücherwurm ist bestens eingesetzt (ich finde es zum Beispiel wichtig, dass er es ist, der die zweite Gruft entdeckt). Die sind ein gutes Gespann, die beiden.
Lieben Dank! Das freut mich, dass sie Dir gefällt.
Auch die Grundidee gefällt mir ausgesprochen gut, Lebensgeister, was für eine üble Sache!
Ja, auf die muss man aufpassen, vor allem, wenn man erst einmal tot ist.
Ich sehe da ein personifiziertes Seufzen neben der Feder, weil ich das begleiten eben auf die Feder beziehe.
Das habe ich auf mehrfachen Wunsch geändert.
Könnte man vielleicht eleganter einführen. Das würde sie eher nicht so schreiben.
Das war Absicht. Frau Uexküll schätzt als Gouvernante die Küchenmagd als „geringwertiger“ ein und hat ohnehin Probleme mit ihr. Vielleicht in einer anderen Geschichte ...
ist das bewusst verkehrt?
Ja.
Für meinen Geschmack zu weit auseinander.
Geändert.
Weiss der nicht, wo die Brücke ist, habe ich mich gefragt. Vielleicht nur: "den Weg weisen."
Okay, ich habe das abgeändert. Lag daran, dass ich eine bestimmte Brücke im Kopf hatte, aber das ist natürlich total unwichtig.
Weshalb ist das schlimmer? Mit den Blättern sind ja auch die Buchtstaben weg. Okay, Kasis Tempo ist höher.
Und wie ...
Das fand ich nicht so gelungen. Die beiden spielen keine Rolle in der Geschichte. Tut Zimmer 7 zwar auch nicht, aber da hast du zumindest einen hübschen Sideplot entwickelt. Hier nicht. Streichen oder ausbauen, wäre mein Rat.
Da habe ich lange überlegt; es dann aber so gelassen. Die Monster-WG-Geschichten müssen den schweren Mittelweg gehen, auch für Nichtkenner interessant und verständlich zu sein, aber den Kennern genügend Sidekicks zu geben. Die Stelle und die folgende kamen eigentlich gut an und ich denke, dass die Nichtkenner über die Namen hinweglesen können. Den Jason habe ich aber ausgebaut, weil er ausgezogen ist und nun Abenteuer fernab der Monster-WG erlebt.

Lieber @linktofink ,

Noch ein Nachtrag, liebe Mae: Ich traue dem Manni ja viel zu ... aber selbst Bruce Lee hätte wohl bei einer Steinfigur lieber den Maurerhammer genommen als die bloße Faust und den Hals damit rundherum erstmal angeklopft, zumal der Manni den Hammer immer im Halter am Gürtel mit sich trägt. ;)
Yo, geändert.

Lieber @GoMusic ,

danke auch Dir noch einmal für Deinen netten Kommentar.

Ein sprechender Wurm und Bücher?
Da musste ich sofort an Lemmi denken. :lol:
?
Sie spricht ja oft Französisch. Hat sie auch einen französischen Akzent? Erwähnt wird es zumindest nicht.
Nein, sie ist ja Wienerin und spricht französisch nur, weil das in „ihrer“ Zeit die Sprache der besseren Leute war. Sie war zwar nur Gouvernante, fühlte sich als solche aber gebildet.
Schön, wie du hier auch andere ganz kurz eingebunden hast.
Danke!
Das hört sich so harmlos an. Wie "der Serienmörder Fritzchen Müller".
Ja, das sollte es auch. Für die Monster sind Monster ja etwas ganz Normales.
Das hat Potenzial, zu seinem wiederkehrenden Wahlspruch zu werden.
Habe ich schon aufgenommen in der Charakterbeschreibung.
In zwei Geschichten spielt Zimmer 7 nun schon mit. Da steigt die Spannung, Zimmer 7's eigene Geschichte zu lesen.
Das ist wohl eine Aufforderung an @Christophe .
Hatte mir unter alten Schriftzeichen in dem Moment etwas anderes vorgestellt als "normale" Buchstaben.
Geändert. Du hast recht, ist ja nichts Ägypten oder so.
Gefällt mir gut, die Idee mit dem Gargouille
Das Lob geht an @linktofink .
Ich hätte mir aber ein originelleres Ende gewünscht. Keine Ahnung, wie/welches, aber eines das etwas mit dem Abenteuer / der Suche zutun gehabt hätte.
Hm ... na ja, ich wollte ein Ende, das wieder an den Anfang zurückführt und so offen ist, dass weitere Geschichten gut folgen können. Ich kann mir auch vorstellen, dass jede Geschichte von ihr mit einem AB positiv endet.

Hallo @Bernhard,

freut mich, von Dir zu lesen!

Nüggelche?? das konnte ich höchstens aus dem Zusammenhang erkennen.
Ja, dafür haben wir den Speimane eingebaut, damit er das Kölsch (von @linktofink übersetzt) erklären kann. Ich habe das jetzt noch ein bisschen ausgeweitet.
Sehr poetischer Anfang
Danke!
Entweder zersplittert der Kopf, wenn sie ihn so abschlagen kann oder andererseits müsste es selbst für einen Vampier nicht leicht sein, einfach Stein zu zerbrechen.
Das habe ich auch geändert, nachdem Linktofink hier auch Bedenken hatte als Erfinder des Manni.
Weiters fand ich einige Ideen sehr erfrischend. So z.B den Tag und Nacht Passierschein und den Lebensgeist.
Lieben Dank! Mir hat es auch sehr viel Spaß gemacht, diese Ideen zu finden und umzusetzen.

Lieben Gruß
Mae

 

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