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- 13.04.2003
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Das Geheimnis des Kleiderwerks
Die Klasse verhielt sich wie immer. Die Mädchen tuschelten und schauten abwechselnd zu einem der Jungen, hielten die Hände vor den Mund und versuchten, das Gekicher zu verbergen. Die Jungen rauften, einige tauschten Pokémon-Karten oder Panini-Bilder. Manche saßen auch stumm an ihrem Platz, unbeachtet, frei von sehnsuchtsvoll weggelachten Blicken, die morgen schon jemand anderem galten. Manche schauten sogar in die Schulbücher oder schrieben hektisch Hausaufgaben ab – für den Fall, der Lehrer kontrollierte sie.
Ein Junge war neu, saß nicht an einem der Tische, sondern in der Ecke. Er war nur mit einem gerippten Unterhemd und einer verschlissenen kurzen Hose bekleidet, von der ich nicht sagen konnte, ob sie einmal weiß, beige oder grau gewesen sein musste. Das Sonnenlicht ließ ihn fast durchsichtig scheinen. Niemand beachtete ihn.
»Weißt du, wer das ist?«, fragte ich Kalle. »Normalerweise kommen neue Kinder doch immer erst mit dem Lehrer in die Klasse und werden vorgestellt.«
Kalle brummte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf.
Frau Schiefer kam herein, legte wie jeden Morgen ihren kleinen Rucksack auf den Tisch, setzte sich auf die Tischkante und wünschte uns einen guten Morgen. »Bevor wir uns der Mathematik zuwenden, möchte ich mit euch gern die Projektwoche besprechen, in der wir die Gedenkfeier zum großen Feuer vorbereiten.«
Merkwürdig. Frau Schiefer begrüßte den neuen Jungen nicht einmal, fuhr fort, als säße er gar nicht da, stellte sich ihm nicht vor, stellte ihn uns nicht vor und bat ihn nicht, sich an einen der freien Plätze an den Tischen zu setzen.
Die Kinder murrten wegen der Gedenkfeier. Das klang schon langweilig. Nach Trauergottesdienst und Glockengeläut. In diesem Jahr sollte auch noch eine Tafel am Eingang der Ruine angebracht werden. Zu Ehren der zwölf Kinder und ihres Schichtführers, die damals in dem Fabrikgebäude erstickt waren.
Der neue Junge schüttelte leicht den Kopf, als wollte er widersprechen, doch er blieb stumm und sah mir direkt in die Augen, bevor er auf den Boden vor seinen Füßen blickte.
»Was gibt es da zu murren?«, fragte Frau Schiefer. »Ihr wisst doch, was damals passiert ist?«
Die Klasse murrte lauter. Jeder von uns wusste es. Wir saugten es mit der Muttermilch auf, noch bevor wir sprechen lernten oder in den Kindergarten kamen. Wann immer wir etwas nicht wollten, hieß es: »Wisst ihr, wie gut ihr es habt?« Seit 100 Jahren gedachten wir dieser Kinder als ewigen Vorwurf an uns. Unsere Großeltern, unsere Eltern, Tanten und Onkel: Alle waren mit diesem Vermächtnis aufgewachsen. »Weißt du, wie gut du es hast? Sei froh, nicht arbeiten zu müssen, weder in der Landwirtschaft noch in einer Fabrik. Die Kinder vor 100 Jahren hätten sich gewünscht, in die Schule gehen zu dürfen. Sie mussten Geld verdienen, dich bitte ich höchstens mal, dein Zimmer aufzuräumen, das Geschirr aus der Spüle zu holen oder den Müll rauszubringen.« Sie hätten nicht mal ein eigenes Zimmer gehabt, oft mussten sie sogar ihr Bett mit den Geschwistern, Mägden oder Knechten teilen. Ich kannte kein Kind, das diese toten Kinder nicht wenigstens manchmal abgrundtief dafür hasste.
Der neue Junge saß auf einmal hinter Frau Schiefer auf ihrem Stuhl, während sie versuchte, Freiwillige zu rekrutieren, die einen Aufsatz zum Geschehen damals schrieben, einen Film oder einen Podcast darüber erstellten, an einem Verkaufsstand Kuchen oder Getränke anboten, Souvenirs aus Salzteig bastelten oder Informationen zu dem erwachsenen Helden zusammentrugen, der in ihren letzten Stunden bei den Kindern war und mit ihnen gestorben ist. »Möchtest du das nicht machen, Jonas?«
Es war klar, dass sie mich fragte.
»Da kann er ja wieder angeben«, tuschelten schon die Ersten. »Blöder Streber« raunten die nächsten, andere sagten etwas von runterholen und meinten nicht den Sockel, auf den mein Ur-Ur-Uropa in diesem Ort gehoben worden war.
»Hör nicht hin«, flüsterte Kalle und stieß mich an. »Wer dich kennt, weiß, dass du kein Angeber bist.«
Frau Schiefers Blick brannte in meinem Gesicht, ich schaffte es kaum, den Kopf zu schütteln. Klar und deutlich Nein zu sagen, war vollkommen unmöglich, also harrte ich aus, sah durch die Lehrerin hindurch zu dem neuen Jungen im verschlissenen Unterhemd, den immer noch niemand zu bemerken schien, obwohl er gerade auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch stand, die Hände wie zum Gebet vor der Brust faltete und mich so flehendlich ansah, dass ich einen Kloß im Hals bekam und noch schlechter antworten konnte.
»In Ordnung. Vielen Dank, Jonas«, schloss Frau Schiefer. »Holt bitte die Mathebücher raus und öffnet sie auf Seite 93.« Sie stieß sich von der Schreibtischkante ab und während sie sich zur Tafel umdrehte, fiel der neue Junge der Länge nach vom Stuhl.
Kein Fluch oder Schmerzenslaut war von ihm zu hören, kein Gelächter aus der Klasse. Frau Schiefer klappte die Tafel auf, übertrug die Aufgaben für die Gedenkfeier von ihrem Notizzettel darauf, schrieb die Namen der Kinder dahinter, die nicht schnell genug oder zu leise Nein gesagt hatten, klappte die Tafel wieder zu und rief Lara zu sich. Der neue Junge stand auf einmal neben mir. Seine Hose war nur mit einem Strick zusammengebunden und er zog sie immer wieder hoch, weil sie ihm über die schmalen Hüften rutschte. Er hockte sich hin, und um ihn mit auf meinen Stuhl zu lassen, rutschte ich ein Stück.
»Was ist los?«, fragte Kalle. »Musst du mal pissen?«
»Nein.« Ich deutete auf den Neuen und Kalle runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen zusammen und beide Schultern hoch.
»Er kann mich nicht sehen«, sagte der neue Junge.
Frau Schiefer unterbrach Lara, die gerade stockend und überlegend einen Beweis an die Tafel quietschte und sah auf Kalle und mich: »Kalle, führst du den Beweis bitte zu Ende, wenn ihr fertig mit eurer Unterhaltung seid?«
Warum Kalle? Der Neue und ich hatten doch gestört.
»Deine Lehrerin kann mich auch nicht sehen.«
Ich zuckte zusammen, legte den Zeigefinger auf die Lippen und sah ihn an.
»Keine Angst, sie können mich auch nicht hören.«
»Aber mich.«
So ein Beweis war für Kalle kein Problem. Er war gut in Mathe, zeigte mir oft, was ich nicht verstanden hatte. Trotzdem flüsterte er »Vielen Dank auch«, als er sich wieder neben mich setzte.
»Sorry.«
Wieder brannte Frau Schiefers Blick auf mir, jetzt strafend, fordernd. Hoffentlich riefe sie mich nicht an die Tafel.
»Jonas, es wäre schön, wenn wir fortfahren könnten.«
Ich nickte, sah auf die Tischplatte und mein aufgeschlagenes Mathebuch und von dort auf die milchblassen Oberschenkel des Jungen, der mit mir auf dem Stuhl saß.
»Wir reden in der Pause«, sagte er. »Ich will nicht, dass du Ärger oder Stockschläge bekommst.«
›Nicht antworten Jonas. Warte, bis die Stunde vorbei ist, so schwer es auch fällt und so absurd es auch scheint.‹ Sacht versuchte ich, meine Hand auf den Schenkel des Jungen zu legen, griff aber auf den Stuhl. Es saß niemand neben mir.
»Was ist los?« Kalle verließ einen halben Schritt hinter mir das Klassenzimmer. Ich hörte ihn, antwortete, es sei alles okay, hielt aber Ausschau nach dem Jungen in Feinripp und kurzen Hosen.
»Jonas, du fragst mich nach einem neuen Jungen, den es nicht gibt, du redest mit der Luft an deiner Seite, siehst offenbar Gespenster und sagst mir, alles wäre in Ordnung? Würde ich dich nicht kennen, würde ich dich für verrückt halten.«
Ich blieb stehen, drehte mich um und schaffte es, ihn anzusehen. »Verzeihung wegen der Tafel.«
»Darum geht es doch gar nicht.« Kalle ging an mir vorbei Richtung Kiosk und stellte sich in die Schlange. Ich stellte mich zu ihm und fingerte mein Geld aus der Hosentasche.
»Ich habe gerade dasselbe gedacht.«
Kalle drehte sich um. »Dass du verrückt bist?«
Ich erwiderte seinen Blick, bis jemand fragte: »Geht ihr auch mal weiter oder steht ihr gar nicht an?«
Wir schlossen in der Schlange auf. »Du bist nicht verrückt, Jonas«, sagte mein Freund dem Hinterkopf des Mädchens vor ihm. Ich verstand ihn kaum. Aber das Mädchen sagte laut: »Oh doch, das ist er.« Dann war sie an der Reihe.
Wir gingen nach draußen, setzten uns auf einen der hochkant um die Schulprojektbeete eingelassenen dicken Äste.
»Ich habe wirklich einen Jungen gesehen. Er war etwa dreizehn, also so alt wie wir, hatte nur ein Feinrippunterhemd und eine verschlissene kurze Hose an.«
»Das klingt nach einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie in den Fabrikbüchern meines Vaters«, antwortete Kalle.
»Du glaubst mir?«
»Nein, aber wenn man es mit Verrückten zu tun hat, soll man auf sie eingehen, habe ich gehört.« Er grinste, stieß mir den Ellbogen in die Seite, wie er es immer machte, wenn er mich hochnahm.
Der neue Junge setzte sich an meine andere Seite. Ich spürte ihn nicht so, wie man den Körper eines anderen spürt, wenn er im Kino auf dem Stuhl neben einem sitzt oder im Gedränge hinter einem steht. Ich spürte keinen Atem, keine Wärme, höchstens einen Hauch, so wie den Wind auf der Haut, wenn man am Strand liegt oder auf einem der Aussichtstürme unserer Berge steht, von denen man sich die Gegend von oben anschauen konnte.
»Er ist ehrlich mit dir«, sagte der Junge. »Wenn du möchtest, kann Kalle mich sehen.«
»Was möchtest du von mir?«, fragte ich.
»Meinst du mich?«, erwiderte Kalle, »oder den Jungen, den du gerade beschrieben hast?«
Der Junge stand auf, quetschte sich zwischen Kalle und mich, obwohl keiner von uns zur Seite rutschte. Wenn andere ihn sehen konnten, dachten sie wahrscheinlich, er säße auf unserem Schoß, aber er wog nicht mehr als eine Vogelfeder oder ein getrocknetes Blatt. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte er und verbesserte sich sofort. »Ich brauche eure Hilfe.«
»Wer bist du?«, fragten Kalle und ich gleichzeitig. Ich erschrak kurz und musste dann lachen, weil ich daran dachte, wie es wohl für die Kinder aussah, die uns zusahen.
»Oh doch, das ist er«, hallte es in meinen Ohren und mein dämliches Gelache ließ mich bestimmt nicht weniger verrückt erscheinen.
»Ich bin Johann Heinrich Kummer«, sagte der Junge. »Aber alle nennen mich …«
»… Hansi, weil es sowohl Johann als auch Heinrich schon gab«, fuhren Kalle und ich gemeinsam fort. Albert, August, Emil, Erich, Fred, Friedrich, Heinrich, Johann, Klaus, Udo, Viktor und Hansi, weil es sowohl Johann als auch Heinrich schon gab. Jedes Kind und jeder Erwachsene kannte diese Reihenfolge an Namen – bis auf Hansi alphabetisch geordnet.
Wäre der Junge schwerer gewesen oder hätten wir ihn berühren können, hätten wir an einen schlechten Scherz gedacht. So aber waren wir alt genug, ihm zu glauben und jung genug, darüber nicht an unserem Verstand zu zweifeln.
»Wir brauchen eure Hilfe«, wiederholte Hansi. »Die anderen haben mich losgeschickt, dich zu holen, Jonas.«
Der Gong läutete das Ende der Pause ein. Kalle stand auf und rutschte dabei einfach durch Hansi durch. »Warum Jonas?«, fragte er. »Weil er ein Nachfahre von Alfred Witter ist?«
Hansi nickte. »Ihr müsst in die Klasse. Nicht, dass ihr unseretwegen in der Ecke stehen müsst oder vor allen anderen Stockschläge auf den blanken Allerwertesten oder einen Eintrag ins Klassenbuch bekommt.«
»Das gibt es zum Glück nicht mehr«, antwortete Kalle, »aber wir sollten dennoch gehen.«
»Ich warte nach der Schule vor dem Eingang der alten Fabrik auf euch. Dann erzähle ich, warum wir euch brauchen.«
Ich ging zwar in die Klasse, war aber die Umkehrung eines Geistes. Hansi konnte mit uns reden, obwohl sein fester Körper in der alten Fabrik verbrannt war. Mein Körper war in der Klasse, aber mein Geist war nicht dort, sondern in einem Raum der Fabrik. Ich konnte das Ende der Schule kaum abwarten, hatte alles so vorbereitet, mit dem Gong gleich losspringen zu können, aber Frau Schiefer hielt mich zurück.
»Danke, dass du den Vortrag über deinen Ur-Ur-Ur-Großvater übernommen hast. Ich weiß, das wird schwierig für dich.«
»Hatte ich eine Wahl?« Ich trat auf der Stelle, als klemmte ich mir die Beine zusammen. Kalle stand an der Tür, verzog das Gesicht.
»Wenn du Hilfe brauchst, unterstütze ich dich gern.« Sie ahnte sicher nicht, dass sie das Angebot nicht einhalten könnte.
»Ich habe es eilig, Frau Schiefer«, rief ich und rannte, ohne mich zu verabschieden, davon. Die Regel, in den Schulfluren nicht zu rennen, ließen Kalle und ich außer Acht. Zum Glück begegneten wir weder einem Lehrer noch dem Hausmeister. Keiner von uns beiden rief zu Hause an oder schickte eine Nachricht, dass wir nicht kämen oder wohin wir gingen. Wir liefen direkt zum Eingang der Fabrikruine, deren Schließung sich bald zum hundertsten Mal jähren würde. Früher gab es hier überall Warnungen, die das Betreten bei Lebensgefahr verboten. Jetzt galten die dem Betreten der Baustelle. Doch ich war viel zu aufgeregt, sie zu beachten. Überall standen Baufahrzeuge, die auf den Montag warteten, um wieder in Betrieb genommen zu werden. Die Ruine wird für die Feier gerüstet.
Hansi stand vor einem großen verwitterten Schild, auf dem verblasst noch immer der Schriftzug ›Textilwerk Faden‹ zu erahnen war. Er bückte sich und griff in einen Hohlraum des Steins, in denen die rechte Halterung des Schilds eingelassen war. »Zu meinen Lebzeiten lag darunter der Schlüssel für das Waschhaus, aber das wurde mit der Schließung der Fabrik zu gefährlich. Ihr müsst also schauen, ob ihr durch eines der eingeworfenen Fenster hineinkommt.«
»Warum sollen wir ins Waschhaus?«, fragte Kalle. »Seid ihr nicht im Fabrikgebäude umgekommen?«
»Das zeige ich euch gleich«, fuhr Hansi fort. »Viele Kinder arbeiteten auch in der Fabrik, weil sie sich hier waschen konnten, ja sogar mussten. Oft hatten sie vorher auf dem Hof der Eltern schon bei der Ernte geholfen und sollten die teuren Stoffe hier nicht mit den Händen beschmutzen.«
Kalle ging um das Waschhaus, um nach einer zerbrochenen Scheibe zu suchen, durch die er ein Fenster öffnen und ins Gebäude kommen könnte. »Mein Vater hat erzählt, in den Wohnungen und Häusern gab es oft kein Wasser, ihr musstet es aus einem Brunnen im Hof holen, wenn ihr kochen oder euch waschen wolltet«, sagte er.
»Ja«, erklärte Hansi. »Deshalb war die Arbeit in der Fabrik und die Möglichkeit des Waschens ein echter Segen für uns.«
Mein Freund blickte an der Mauer hoch zu einem zerbrochenen Fenster, das er entdeckt hatte. »Hier könnte es gehen. Kannst du mir mal hochhelfen?« Hansi und ich folgten ihm und ich schloss meine Hände zu einer Räuberleiter, mit deren Hilfe Kalle sich hochhangeln und auf den Sims vor das Fenster setzen konnte. Er brach vorsichtig mehrere Zacken aus der Scheibe, bis er hindurchlangen und das Fenster öffnen konnte. »Ich schaue mal, ob ich die Tür geöffnet bekomme.«
»Vielleicht liegt der Schlüssel auf dem Kasten für die Gastherme.« Hansi und ich gingen um das Waschhaus zur Eingangstür, die Kalle schon für uns geöffnet hatte. Ich wunderte mich, dass sie weder vernagelt noch versiegelt war, wusste aber nicht, wie ich darauf kam.
»Was wollen wir hier?«, fragte Kalle, als wir eintraten. Es roch nach Schimmel und abgestandenen Pfützen.
»Keine Angst, ich möchte euch nur erzählen, was hier passiert ist, bevor das Unglück drüben geschah«, erklärte, Hansi. »Ihr müsst euch hier nicht waschen.«
»Wie beruhigend«, sagte ich.
»Wie ihr seht, gab es keine Trennwände. Scham oder Hemmungen bei der Wäsche konnten wir uns nicht erlauben. Und es war normal, dass der Schichtleiter zwischen uns stand und kontrollierte, ob wir uns auch vollkommen auszogen.«
»Das möchten die in Schwimmbädern heute auch immer, obwohl es nur alte Männer machen«, bemerkte Kalle. »Kinder nur, wenn die Väter dabei sind.«
»Früher war das selbstverständlicher.«
»Aber es ist etwas passiert, das nicht selbstverständlich war?«, fragte ich.
Hansi nickte. »Was weißt du über Alfred Witter?«
»Kaum etwas. Er war mein Ur-Ur-Ur-Großvater. Sein Sohn, mein Ur-Urgroßvater hieß auch Alfred, war in eurem Alter, also auch 13 und mit Albert, Emil, Friedrich und Hugo in einer Klasse, mit den anderen nur zusammen in der Schule.«
Kalle legte mir eine Hand auf die Schulter. »Jonas hasst ihn manchmal und flucht über ihn, weil er ihm immer als Beispiel vorgesetzt wird.«
Hansi ging durch den Waschraum, in dem man überall noch glaubte, vergilbtes Wasser die Fliesen hinunterlaufen zu sehen, strich mit einer Fingerkuppe über die Wand und betrachtete sie. »So wie fast alle Kinder hier manchmal über uns fluchen?«, fragte er.
Wir beide nickten betroffen. Ich sah zur Tür, hielt die Luft immer wieder an, weil ich den Geruch unerträglich fand und dauernd niesen musste.
»Das ist nicht schlimm«, beruhigte uns Hansi. Das ginge jedem von uns wohl ähnlich. Und es gab eine Menge Menschen, an denen wir uns ein Beispiel nehmen sollten. Nur lebten die meisten davon noch.« Er ging zwischen uns durch zur Eingangstür, nahm einen Schlüssel von einem Fensterbrett und bot uns an, draußen weiter zu erzählen, wir hätten ja alles gesehen. »Jetzt gehen wir in die Fabrik.«
Ich freute mich über die frische Luft, atmete ein paarmal tief ein und sah Hansi danach schuldbewusst an.
Zorn blitzte kurz in seinen Augen auf, bevor er wieder lächelte. »Ich hätte bessere Gründe, dir gram zu sein«, sagte der, »genügend Gründe, mich an dir und deinen Eltern zu rächen, für das, was Alfred Witter getan hat, euch leiden zu lassen, wie wir gelitten haben, deine Eltern leiden zu lassen wie unsere unter unserem Verlust gelitten haben.« Er erklomm die Eingangsstufen, schloss das Tor zur Fabrik auf und sah uns an. Kalle und ich waren vor der ersten Stufe stehen geblieben. Mein Freund hatte sich vor mich gestellt.
Mit einer einladenden Geste bat Hansi uns herein. Kalle stemmte die Hände in die Hüften.
»Du glaubst nicht im Ernst, dass wir jetzt mit dir in das Gebäude gehen.«
Hansi schloss die Tür wieder, drehte aber den Schlüssel nicht. Wir wichen zurück, als er zur Treppe kam, und blieben erst stehen, als er sich auf die oberste Stufe setzte.
»Verzeiht. Wir wollen euch nichts tun, uns an niemandem rächen, wir brauchen eure Hilfe. Hätten wir euch töten wollen, hätten wir uns nicht zu erkennen geben müssen.«
»Da ist etwas dran«, räumte Kalle ein und entspannte sich ein bisschen. »Kannst du uns hier auf den Stufen davon erzählen oder schadet dir das Tageslicht?« Er blieb vor mir stehen und immer, wenn ich einen Schritt zur Seite machte, rückte mein Freund ein Stück, um sicher zu sein, dass ich in seinem Schutz blieb.
»Es ist egal, wo ich euch erzähle, was damals wirklich passiert ist. Wir dachten nur, dass ihr es besser versteht, wenn ihr euch in den Räumen des Geschehens befindet.«
»Das leuchtet ein, ist aber, glaube ich, nicht nötig.« Kalle ging auf Hansi zu und blieb so nah vor ihm stehen, dass der ganz in seinem Schatten versank. »Ich habe keine Angst vor Geistern. Und bevor du Jonas etwas antun möchtest, musst du es erst mir antun.«
Hansi klopfte auf den Platz neben sich auf die Stufen, wartete, bis Kalle sich gesetzt hatte und bat mich an seine andere Seite. Doch ich setzte mich lieber neben Kalle.
»So, wie du für deinen Freund einstehst, Kalle, so standen vor 100 Jahren auch die anderen Kinder für mich ein. Du bietest deine Gesundheit oder dein Leben für seines an. Albert, August, Emil, Erich, Fred, Friedrich, Heinrich, Johann, Klaus, Udo und Viktor haben diesen Preis von 100 Jahren gezahlt. Ich verspreche dir, von dir wird er nicht gefordert.«
»Was hat mein Ur-Ur-Ur-Großvater dir getan?«, fragte ich, versuchte, Hansi dabei ins Gesicht zu sehen, doch er sah auf die Stufen vor sich.
»Ich hatte Angst, dass du zerbrichst, wenn ich es dir erzähle. Einigen von uns war es egal, aber du kannst nichts für deine Ahnen.«
»Was hat er getan?«, fragte Kalle.
»Es wird dir wehtun«, antwortete Hansi, »du wirst in deiner Familie vielleicht als Verräter gelten, wenn du uns hilfst. Manche werden dich anfeinden oder dir vorwerfen, du wollest dich interessant machen …«
»Das werfen sie mir eh vor.«
»Was?«, fragte Kalle erneut.
»Wir können nicht zulassen, dass ihm ein Denkmal gebaut wird und mit Kalle an deiner Seite bist du stark genug, das zu tragen und uns zu helfen.«
»Was hat er getan?« Kalle betonte jedes Wort, während ich immer mehr fürchtete, was Hansi erzählen würde.
»Wer wird es uns glauben?«, fragte Kalle auf dem Weg nach Hause. Ich war nicht in der Lage zu reden. Ich war nicht mal in der Lage, zu denken. Jedenfalls nicht, wenn man Denken als strukturierten, Gedanken ordnenden Vorgang versteht. Es kreiste alles Mögliche in meinem Kopf: Ob Hansi die Wahrheit erzählt hatte, was er davon hätte, sie nicht zu erzählen, warum er die Hilfe ausgerechnet bei mir, dem Ur-Ur-Ur-Enkel gesucht hatte, nicht bei jemand anderem, der unbelasteter die nächsten Schritte gehen könnte – würden sie ihm denn überhaupt in den Kopf kommen oder dort einfallen.
Ich zuckte zusammen, als Kalle mir die Hand auf die Schulter legte.
»Verzeihung«, murmelte er. Ich schwieg. Dabei hätte ich mir nicht nur die Hand, sondern seinen ganzen Arm gewünscht. Vielleicht hätte ich dann wenigstens weinen können. Doch über was? Über die Aufdeckung der Unwahrheit in meinem Leben, und über den Tod der 12 Kindern und meines Ur-Ur-Ur-Großvaters? Über das Geschehen zuvor oder wegen der Überforderung, die ich fühlte, aber nicht benennen konnte?
»Was können wir antworten, wenn sie fragen, woher wir das wüssten?«, fragte mein Freund, während ich noch nicht mal imstande war, überhaupt die Frage zu stellen, ob ich den Kindern helfen wollte.
»Du bist noch nicht so weit«, sagte Kalle und legte endlich den Arm um meine Schulter, »das ist okay, aber ich weiß, dass du helfen wirst. Ignorier mein Geplapper und meine Fragen. Es ist nur meine Art, damit umzugehen.« Wir trotteten nebeneinanderher, jeder mit sich, dem Freund und den Geistern beschäftigt, doch ich war noch nicht fähig, aus dem Kreisel um mich herum herauszutreten. Wir gingen gemeinsam, bis er geradeaus, ich nach links weitergehen musste. Er nahm seinen Arm von meiner Schulter, sperrte sich, als ich ihn berühren wollte, hob nur die Hand, sagte »Tschau« und trottete davon, ohne sich umzusehen. Ich konnte noch immer nicht weinen, so sehr mir auch danach war.
Ich schlich so leise wie möglich in unser Haus, die Treppe hinauf in mein Zimmer, wollte niemandem begegnen, nicht meinem Vater, nicht meiner Mutter, nicht meiner älteren Schwester. Ich fuhr nicht, wie sonst immer, meinen Rechner hoch, schaltete das Smartphone auf ›Nicht Stören‹, legte mich auf das Bett und zog die Decke ganz über mich, weil ich so fror. Ich hörte die Haustür, meine Schwester die Treppe hochkommen, hörte den Wagen meines Vaters und wieder die Tür. Ich hörte meine Mutter meinen Vater begrüßen und sagen: »Das Essen ist gleich fertig, holst du schon mal die Kinder.« Mein Vater klopfte an unsere Türen, bat uns, zu kommen. Hunger hatte ich nicht, doch ich folgte seiner Bitte, setzte mich wortlos an den Tisch, füllte aus Gewohnheit meinen Teller, sah kaum, was es gab, schmeckte kaum, was ich aß. Der Körper funktionierte, als hätte ich einen Schlüssel im Rücken, den man nur aufziehen musste.
»Was weißt du über deinen Ur-Ur-Großvater, Papa«?
»Nicht viel«, antwortete er. »Bist du deshalb so schweigsam?«
»Ich soll einen Vortrag über ihn ausarbeiten.«
»Dabei kann ich dir wohl leider nicht helfen.« Er duckte sich über seinen Teller und ich hatte den Eindruck, er hielt sich mehr an der Gabel fest, als die Gabel zu halten.
»Was möchtest du wissen?«, fragte Mama, sah mich an und legte ihr Besteck auf den Teller.
»Hattest du auch Verwandte im Feuer?«
Meine Mutter stand auf, stapelte die Teller aufeinander, legte die Bestecke auf den obersten davon, und trug sie in die Küche. Ich folgte ihr mit zwei Töpfen.
»Hansi war der Bruder meiner Urgroßmutter. Warum lässt euch eure Lehrerin in dieser entsetzlichen Geschichte wühlen? Und dann ausgerechnet dich?«
Ich zuckte mit den Schultern, Lea, meine Schwester brachte die Schale mit den restlichen Kartoffeln und stellte sie auf die Arbeitsplatte.
»Soll ich mit Frau Schiefer reden, dass sie jemanden anderen bittet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nötig. Ich finde nur keinen Anfang.«
Die Klasse verhielt sich wie immer. Die Mädchen tuschelten und schauten abwechselnd zu einem der Jungen, hielten die Hände vor den Mund und versuchten, das Gekicher zu verbergen. Die Jungen rauften, einige tauschten Pokémon-Karten oder Panini-Bilder. Manche saßen auch stumm an ihrem Platz, unbeachtet, frei von sehnsuchtsvoll weggelachten Blicken, die morgen schon jemand anderem galten. Manche schauten sogar in die Schulbücher oder schrieben hektisch Hausaufgaben ab.
Kalle und ich saßen stumm an unserem Tisch und schauten uns immer wieder um, ob wir Hansi irgendwo sehen würden. Er war nicht da. Die Lehrer und Fächer wechselten stündlich, waberten an uns vorbei, ohne dass wir etwas davon mitbekamen. Eine gleichbleibende Geräuschkulisse, ab und zu von einem Gong unterbrochen. Dann strömten fröhliche Kinder plappernd und lachend in die Pause, holten sich etwas am Kiosk, kickten, spielten Tischtennis oder Fangen: tobten unbekümmert in der Frühjahrssonne, die Gedanken frei von Sorgen, zweifelhaften Helden, Schlägen, Scham, Feuer, Verrat oder Tod.
»Sie haben versprochen, ich könnte mich mit Fragen an Sie wenden, Frau Schiefer.«
Die Lehrerin stand wegen der Aufsicht auf dem Schulhof, überblickte den Platz, nicht das Geschehen, zu weit entfernt von Konflikten oder Streit, aber jederzeit bereit, einzugreifen, wenn sich jemand aufmachte, das Schulgelände zu verlassen.
»Was gibt es, Jonas?« Sie sah an mir vorbei auf eine Gruppe von Jungen, von denen einer den Ball in der Hand hielt, einige vehement einen Strafstoß forderten und andere den genauso vehement ablehnten.
»Hat man die Kinderleichen vor hundert Jahren eigentlich untersucht?«
»Wie meinst du das?« Ihr Blick wanderte von den Fußballern zu ein paar Jungen und Mädchen auf einer Bank, die lauthals lachten.
»Weiß man sicher, dass alle Jungen durch das Feuer gestorben sind und nicht vielleicht schon vorher?«, fragte Kalle.
»Davon gehe ich aus. Warum fragt ihr das?«
Was konnten wir darauf antworten?
»Wir haben da etwas gehört«, nuschelte ich.
»Es wäre ja denkbar, dass …«, überlegte Kalle laut, während Frau Schiefer die Hand hob, »Moment«, sagte und zu einem Mädchen ging, das von Stamm zu Stamm der Schulbeetumrandung hüpfte.
»Jonas«, sagte sie laut, als sie zurückkam, »wenn du den Vortrag nicht ausarbeiten willst, kannst du es sagen, aber nicht einfach die toten Kinder und noch weniger deinen Ur-Ur-Ur-Großvater verleugnen. Findest du das fair?« Sie fuchtelte mit dem Zeigefinger so nah vor meinem Gesicht, dass ich hätte reinbeißen können. Jedem Schritt, den ich nach hinten machte, folgte einer von ihr, mit dem sie mir folgte.
»Ich will ihn ja machen«, rief ich.
»Dann ist ja gut«, entgegnete sie, drehte sich um und ging zu ihrem Kollegen.
»Er hat doch nur eine Frage gestellt«, brüllte Kalle hinter ihr her. Doch sie drehte sich nicht einmal mehr um.
Der Gong ertönte, wir warteten, bis die meisten Kinder im Schulgebäude waren und gingen hinterher, bis Hansi sich in den Weg stellte. »Ihr könntet im Zeitungs- oder Stadtarchiv nach Berichten forschen. Sagt einfach, es ist für ein Schulprojekt.« Wir nickten beide, gingen durch ihn hindurch, als wäre er gar nicht da und gelangten zur Tür.
»Und vielen Dank an euch. Auch im Namen der anderen elf Kinder.« Er war nicht mehr zu sehen.
Archive hatte ich mir immer als erhabene Gebäude vorgestellt, in denen sich in massiven Regalen vor mit Mahagoni vertäfelten Wänden Bücher und alte Zeitungen befinden, deren Staub wie Nebel durch den Raum wabert, wenn man sie mit weißen Handschuhen herausnimmt.
Stattdessen forschten Kalle und ich vor kalkgetünchten Kellerwänden und kämpften uns auf entsprechenden Lesegeräten durch auf Mikrofilm gebannte Schriften. In beiden Archiven trafen wir auf hilfreiche Mitarbeiter, die uns zeigten, wie wir die Filme richtig einlegten und über die vier Richtungsknöpfe durch den Inhalt navigierten. Mitarbeiter, die alles bereitstellten, was im fraglichen Zeitraum erschienen war. Nicht nur über das Feuer, auch über dessen Aufarbeitung. In beiden Archiven stand plötzlich Hansi bei uns, sah mit uns auf die Lesegeräte, gab uns manchmal Stichworte, nach denen wir suchen könnten.
Wir lasen von fleißigen Kindern, dem Stolz ihrer Eltern, immer artig, höflich und hilfsbereit, als hätte nie jemand mit ihnen schimpfen müssen.
»Stimmt das?«, fragte ich Hansi, der in dieser Umgebung viel weniger durchsichtig schien als im Tageslicht.
»Wir waren Kinder wie ihr. Was glaubst du?«
»Du fragst den Falschen«, sagte Kalle und stieß mir in die Seite. »Jonas ist so entsetzlich artig, dass auch mit ihm niemand schimpfen muss. Wart ihr wie er, wart ihr alle Engel.«
»Das war einer der vielen Gründe für uns, ihm zu vertrauen.«
Warum hatte ich mir Geister eigentlich immer als unheimliche Schemen vorgestellt, die weder Schmerz noch Freude empfinden, weder weinen noch lachen können? Wenn es die Seelen Verstorbener sind, müssten sie doch so sein, wie der Mensch, dem sie entsprungen sind gewesen ist, als er noch lebte: fröhlich oder traurig, agil oder phlegmatisch, böse oder gut. Hansi lachte lauthals. »Natürlich waren wir alle Engel«, sagte er prustend. »Wir sind gestorben, weil der Herrgott uns unbedingt so schnell wie möglich bei sich haben wollte, so gut waren wir.« Er hielt einen Moment inne, lachte nicht mehr, sondern blickte uns nachdenklich an. »Und jetzt steht dort diese riesige Wand an Lügen, die uns hindert, endlich in seine Welt zu treten.«
»Ich habe hier etwas!«, rief Kalle, folgte den Zeilen auf dem Monitor, fuhr das Bild mal vor, mal zurück, bevor er stoppte. »Gibt es ein dunkles Geheimnis um Alfred Witter?«, las Kalle vor und fuhr fort: »Die Eltern des beim Feuer ums Leben gekommenen Johann Heinrich Kummer erheben schwere Vorwürfe gegen den Helden, der mit den Kindern seiner Schicht sein Leben gelassen hat. Sie sprechen von Gewalt, von anzüglichen Bemerkungen im Badehaus und Demütigungen. ›Hansi könnte noch leben, wenn wir ihm geglaubt hätten‹, werden sie zitiert. ›Doch wir haben ihn trotz seiner Bauchschmerzen zur Arbeit geschickt und ihm gesagt, er solle sich nicht so anstellen.‹«
Hansi schluckte und räusperte sich. »Wir haben an dem Morgen darum gestritten«, erzählte er. »Ich wollte nicht zur Arbeit, hatte Angst, er würde wieder …« Seine Stimme stockte, die Erzählung brach ab. Ich bewegte intuitiv die Hand zu seiner Schulter, doch stieß ich nur hindurch. Kalle konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als er es sah, entschuldigte sich sofort, doch Hansi lachte mit ihm.
»Es gab sogar schon Leserbriefe«, sagte mein Freund, »aber die lese ich lieber nicht vor.«
»Mach ruhig«, antwortete Hansi. »Ich weiß, was dort steht. ›Er wird sich danebenbenommen haben, respektlos gewesen sein, ihn provoziert und sich die Schläge verdient haben.‹ Als ginge es nur um die Schläge.«
Wie tröstet man jemanden, wenn man ihn nicht berühren kann?
»Dann muss ich es erst recht nicht vorlesen«, sagte Kalle.
»So war das damals. Wer Kinder erzog - Eltern, Lehrer, Schichtleiter - disziplinierte sie mit Gewalt.«
»Das können wir uns heute kaum vorstellen.« Ich konnte Hansi nicht trösten, ihm keine Hand auf die Schulter legen, ihn nicht umarmen. Doch er kam so nah an mich heran, dass er in mich zu kriechen schien, dass ich seine Trauer und seine Wut spürte, seine Angst um sein Leben und seine Erniedrigung und Scham, als mein Ur-Ur-Ur-Großvater …
Vielleicht empfand er ja diese Nähe als Trost?
»Hat deine Mutter in ihrer Familie darüber gesprochen?«, fragte Hansi mich. »War es ein Thema bei euch, dass die Aussagen meiner Mutter einfach vom Tisch gewischt worden waren?«
»Ich wusste bis gestern nicht einmal, dass es zu irgendeinem der Kinder Geschwister gab, nicht, dass du eine Schwester hattest und erst recht nicht, dass die meine Ur-Ur-Oma ist.«
»Also nein. «
Kalle rutschte auf seinem Stuhl. Wir waren bestimmt schon eine Stunde oder länger im Archiv. Das Lesen der Filme war nicht nur für die Augen anstrengend. »Ich glaube, wir müssen nicht weitersuchen«, sagte er, schüttelte dabei den Kopf und drehte sich zu uns. »Es gab keine Obduktion.« Mein Freund wendete sich wieder dem Lesegerät zu und suchte die Zeile, bei der er unterbrochen hatte. »Um das Andenken und die Würde der Kinder und ihres Schichtleiters zu bewahren, verzichte man angesichts der klaren Umstände auf kriminaltechnische Untersuchungen des Gebäudes und der bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Körper.«
»Sie haben nicht mal untersucht, ob es nicht Brandstiftung war«, sagte Kalle bitter.
»Habt ihr danach gesucht? Das hätte auch ich euch sagen können.« Hansi trat einen Schritt zur Seite und ich konnte wieder etwas freier atmen und fühlen, etwas besser ich statt er sein. Das erleichterte mich, aber wegen der fehlenden Nähe bedauerte ich es auch.
»Das wissen wir, Hansi«, antwortete Kalle. »Aber wenn wir euch helfen wollen, das Denkmal zu verhindern, reicht es nicht, dir zu glauben. Wir müssen Beweise vorlegen, damit man auch uns glaubt.«
Keiner der Tage entsprach meiner Stimmung. Es blieb sonnig, fast wolkenfrei. Nur der kalte Wind fühlte sich richtig an. »Tust du mir einen Gefallen«, bat Kalle auf dem Weg vom Stadtarchiv zurück nach Hause. »Setzt du dich bitte gleich einfach nur mit mir an den Rechner und zockst?«
»Okay.« Ich nahm mein Smartphone aus der Tasche und teilte meinen Eltern mit, dass ich später kommen würde. Bei Kalle setzten wir uns in sein Zimmer, öffneten den Browser und loggten uns in seinem ›Minecraft‹-Account ein. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht. Auch Kalle war nicht bei der Sache. Er sah ständig vom Monitor zu Hansi, der uns begleitet hatte und kaum verstand, was wir vor diesem Bildschirm versuchten. Wir beantworteten kaum die Fragen, die er stellte und zwischendurch erinnerte ich mich daran, dass Kalle ihn zu Beginn nicht sehen konnte und wünschte, es wäre wieder so, denn Hansis Anwesenheit schien meinen Freund zu stören.
»Ich bin müde«, sagte Kalle. »Lasst mich bitte allein.«
»Okay.«
»Was ist los?«
»Nichts.«
Das stimmte nicht, irgendwas hatte sich verändert, seit wir das Archiv verlassen hatten.
Hansi begleitete mich. Ich erschrak, als er mit in die Wohnung kam, doch dann fiel mir ein, dass meine Eltern ihn nicht sehen konnten. Er saß mit uns am Tisch, sagte wiederholt »Jetzt!«, doch ich verstand zunächst nicht, was er meinte.
Meine Eltern bekamen davon nichts mehr, unterhielten sich über ihren Tag, planten das nächste Wochenende, Einkäufe, Unternehmungen, Besuche, Gartenarbeit, während Hansi mir vorhielt, ich verpasse eine Gelegenheit nach der anderen.
Am liebsten hätte ich ihm gesagt, er solle sich verpissen. Ich suchte die ganze Zeit nach einer Möglichkeit, meine Eltern zu fragen, warum die Geschichte von vor 100 Jahren kaum Thema bei uns war, wie es kam, dass sie sich ineinander verliebt hatten, obwohl die Familien sich feind hätten sein müssen. Waren sie das überhaupt nach so langer Zeit noch oder wussten sie selbst nicht, was sie trennen müsste? Durch Hansis Gequengel fühlte ich mich nicht besser, es setzte mich unter Druck. »Kann ich aufstehen und nach oben gehen? Ich fühle mich nicht.«
»Immer noch das Referat?«, fragte meine Mutter und mein Vater nickte. »Dann schlaf dich aus.«
Hansi folgte mir in mein Zimmer, setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, während ich mein Shirt über den Kopf zog und plötzlich zögerte.
»Musst du nicht zu den anderen?«
Hansi regte sich nicht. Auch ich verharrte in der Position, die ich bei der Frage hatte, schaute ihn an, konnte nicht spüren, ob er den Blick erwiderte oder durch mich hindurchsah.
»Was willst du?« Ich erschrak, wie gereizt ich klang. Hatte Kalle das gespürt und uns deshalb fortgeschickt. Er hatte ähnlich gereizt geklungen.
»Es ist schon Mittwoch«, sagte Hansi. »In drei Tagen soll das Denkmal enthüllt werden und ihr seid noch keinen Schritt weiter.«
Ich holte Luft, öffnete den Mund, wusste aber nicht, was ich antworten sollte, also setzte ich mich auf mein Bett, zerrte am Saum meines Shirts, wollte mich umziehen, Zähne putzen, zur Toilette, mich waschen, schlafen, doch fühlte ich mich zu sehr beobachtet.
»Ist dir das egal?«
Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, es wäre mir egal, doch das war es nicht, ich wusste nur nicht, was ich tun konnte, fühlte mich hilflos, klein und verloren.
Ich erschrak über den Signalton einer Whatsapp-Nachricht auf meinem Smartphone, wagte nicht, darauf zu schauen, sah aus dem Augenwinkel, sie kam von Kalle.
»Antworte ihm ruhig, dass ich noch da bin.«
Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder, hoffte, Hansi hätte sich aufgelöst, doch das hatte er nicht. Und selbst wenn, hätte es nicht bedeutet, dass er verschwunden wäre.
»Ist er weg und können wir reden?«, hatte Kalle gefragt.
»Nein«, tippte ich und ließ drei Smileys folgen. Einen mit Tränen, einen mit rotem Kopf und einen mit Wolke.
»Nun zieh dich schon um, musste ich mich ja vor deinem Ur-Ur-Ur-Großvater auch.«
Das war es also. Wollte er mir antun, was mein Ahne ihm angetan hat? »Ich dachte, ihr wolltet euch nicht rächen. Warum bist du auf einmal so kalt?«
»Ich bin tot, schon vergessen? Tote sind nun mal kalt.«
Ich bekam kaum Luft, es roch nach Feuer und Qualm, brannte aber nirgends. Ich blieb sitzen, tat nichts.
»Wenn du wüsstest, wie oft ich dich schon gesehen habe. Aber da hast du es nicht gemerkt, nicht die Scham gespürt, die Erniedrigung, den Schmerz.«
Hansi stand auf, kam auf mich zu, setzte sich auf meinen Schoß, kroch in mich, viel weiter als in der Bibliothek, so weit, dass ich im Waschhaus unter der Dusche stand, Alfred Witter vor mir, die anderen Jungen in seinem Rücken. Sie zerrten an seinen Armen, versuchten ihn von mir zu reißen, schlugen auf seinen Rücken, auf seinen Kopf, bis er sich umdrehte.
Ich japste, als erwachte ich aus einem Albtraum, saß wieder in meinem Zimmer, Hansi drehte sich noch, so plötzlich musste er sich aus mir gelöst haben. Ich hatte keine Tränen, keine Schreie, kein Flüstern.
»Na, hast du gespürt, wie es war?«
Ich hatte kein Nicken.
»Ist es dir immer noch egal, ob dieses Scheiß-Denkmal errichtet wird?«
Ich hatte kein Kopfschütteln.
Die Tränen kamen als erstes zurück, liefen mir übers Gesicht.
»Was glaubst du, wie sehr ich geflennt habe. Alfred Witter war das auch egal.«
»Aber uns ist es nicht egal«, flüsterte ich zwischen den Tränen. »Wir sind beide nicht wie er. Du hättest mich nicht gefragt, hättest du das nicht gewusst.«
Ich wäre so gern diesem musternden Blick ausgewichen, doch ich konnte mich nicht davor verstecken.
»Es sind vier Generationen seitdem vergangen«, flüsterte ich.
Hansi hob die Hand. »Sag es nicht«, flüsterte er zurück. »Natürlich bist du nicht dafür verantwortlich.«
»Wenn meine Eltern sich darüber streiten …«
»Führe auch das nicht aus«, sagte Hansi, »auch das bringt uns weder zurück, noch verhindert es die Feier oder das Denkmal.«
Es klingelte. Ich schaute auf das Smartphone, obwohl ich wusste, dass jemand an der Tür stand. Es war nach 21. Uhr, doch der Klingel folgten Schritte auf der Treppe.
»Ich weiß nur nicht, wie ich es verhindern kann.«
»Ich weiß.«
Meine Mutter klopfte an der Tür, fragte, ob ich noch wach bin und als ich bejahte, ließ sie Kalle ins Zimmer. »Macht nicht zu lange«, ermahnte sie ihn.
Kalle sah zuerst mich an, dann Hansi, bevor er sich zwischen uns stellte. »Geht es dir gut?«, fragte er. Ich nickte.
»Du bist wirklich ein toller Freund«, sagte Hansi. »Ich lass euch mal allein.« Es blieb das Gefühl, er hätte sich nur unsichtbar für uns gemacht. Kalle schien es ähnlich zu gehen, jedenfalls schaute er sich um, atmete tief ein, ging durch den Raum, bevor er sich setzte.
»Übernachtest du hier?«
»Meine Eltern gehen wohl davon aus.«
»Verzeihung für vorhin«, murmelte ich, während ich mein Shirt über den Kopf zog.
»Nicht schlimm«, antwortete Kalle. »Mich nervte es einfach, dass wir nur noch mit Hansi beschäftigt sind. Ich wollte einfach ein bisschen Zeit mir dir haben. Ohne deine Ahnen, ohne Auftrag, einfach Spaß.«
»Ich auch, aber ich mochte ihn nicht einfach fortschicken. Ich fühle mich so …«
»… schuldig?«
Ich hob leicht die Schultern, zog meine Hose aus, ging in Unterhose ins Bad und putzte mir die Zähne. Kalle folgte mir, wartete die zwei Minuten, die ich brauchte, bevor er seinen Aufsatz auf die Zahnbürste steckte. »Ich habe nichts mit. Hast du morgen früh eine frische …«
»Natürlich.«
Ich holte eine zweite Decke vom Schrank, legte sie neben meine und setzte mich auf das Bett. »Ist alles wieder in Ordnung?«, fragte Kalle, als er aus dem Bad kam und sich unter die Decke an der Wandseite des Bettes legte.
»Ich weiß es nicht.«
»Wir haben das Unrecht nicht begangen. Wir können es nicht ungeschehen machen und wir haben alles uns Mögliche getan, ein weiteres Unrecht zu verhindern.«
»Aber leider vergeblich.«
Kalle rutschte von seiner Decke unter meine, drehte sich zu mir, aber berührte mich nur mit seinem Knie, das an meinen Oberschenkel stieß. Er sagte nichts, sein Atem wurde ruhiger und irgendwann wusste ich, er war eingeschlafen. Ich lag weiterhin auf dem Rücken und grübelte.
Kalle und ich versuchten es noch auf einem Polizeirevier, fragten, ob sich so spät noch jemand exhumieren ließ, und was nötig wäre, das zu tun. Wir suchten einen Redakteur bei der Zeitung, der uns glauben würde und obwohl wir ihn nicht bezahlen könnten, einen Anwalt, der uns wenigstens zuhörte. Wir besuchten das Stadtarchiv noch einmal und fotografierten die entsprechenden Passagen, die Kalle zu einem Reel montierte und in den sozialen Netzwerken hochlud. Aber sie blieben fast unsichtbar, hatten vielleicht vier Betrachter, denen sie nicht einmal einen Hasskommentar wert waren. Sonst hätten wir vielleicht eine Chance gehabt, dass es viral gegangen wäre. Hansi tauchte ab und an auf, ließ uns aber Luft.
Am Tag vor der Gedenkfeier musste ich der Klasse erzählen, was ich zu Alfred Witter zusammengetragen hatte. Viel war es nicht. Mein Vater wusste weniger als ich.
Hansi hatte mir erlaubt, auch die familiäre Bindung zu ihm über meine Mutter zu erwähnen. Ich erzählte von den Besuchen im Archiv, davon, dass es keine Untersuchung der Vorfälle gegeben hatte und warum. Kalle unterstützte mich, erzählte auch mit dessen Erlaubnis von Hansis Phimose, die mein Ur-Ur-Ur-Großvater zum Anlass zur handgreiflichen Schulung in Körperhygiene genommen hatte. Woher Kalle diese Formulierung hatte, weiß ich nicht. Aber ich staunte oft darüber, was mein Freund alles konnte. Die Klasse kicherte darüber, die Mädchen riefen laut »Iih-Gitt«, Frau Schiefer unterbrach Kalle sofort und baute sich vor ihm auf. Fast wäre sie zu einer Lehrerin von vor hundert Jahren geworden, die Hand hatte sie schon angehoben, den Schlag ins Gesicht nur nicht gelandet, weil ich mich dazwischen gestellt hatte. »Dass du dich nicht schämst, solche Lügen zu verbreiten!«, brüllte sie. »Warum zum Teufel tretet ihr das Andenken eines solchen Mannes mit Füßen, warum zieht ihr einen Helden in den Schmutz und trampelt auf den Gefühlen der tragischen Opfer herum?«
»Weil es wahr ist!« Meine Stimme überschlug sich, so sehr kreischte ich und kämpfte mit den Tränen. Kalle zuckte mit dem Unterkiefer. Wäre ich nicht so wütend gewesen, hätte ich lachen müssen, weil er aussah wie ein atmender Fisch. So stumm war er auch. Seine Fäuste hatte er geballt, die Arme angespannt.
»Raus!«, befahl Frau Schiefer schneidend. »Alle beide. Und wagt es ja nicht, morgen zur Gedenkfeier zu kommen oder irgendjemandem von diesem Blödsinn zu erzählen.«
Hansi stand neben der Tür, blass und durchsichtig wie milchiges Glas. Es war gut, ihn zu sehen, denn sonst wäre ich wutentbrannt aus der Klasse gerannt und hätte die Tür laut zugeschlagen. Kalle war cooler, atmete einmal aus, ließ die Anspannung aus den Muskeln entweichen, bevor er sich bei der Tür noch einmal umdrehte. »Das haben Sie zum Glück nicht zu entscheiden.« Er schloss die Tür ruhig und leise, bevor er sich gleich danach auf den Boden sinken ließ und die Hände vors Gesicht hielt.
Hansi stellte sich hinter ihn, ich hockte mich vor ihn, strich ihm über den Kopf, wahrscheinlich eher, um mich zu trösten und beruhigen, als ihn.
»Was passiert nun«, fragte ich Hansi.
»Ich weiß es nicht. Aber was es auch sein wird, wir drei bleiben Freunde.«
Am großen Tag versammelte sich die Stadt um das verhängte Denkmal. Die Fabrik war zu einem Kulturzentrum umgebaut. Räume, in denen Bands proben konnten, Künstler ein Atelier fanden, Schreibworkshops für Dichter angeboten wurden, aber auch Seminare für künstliche Intelligenz, Töpferarbeiten oder Gesang. Es gab ein Theater und ein Kino, eine Freilichtbühne und einen Konzertsaal, kleine Bistros und Restaurants. Im alten Waschhaus gab es eine Therme zur Entspannung, die ein FKK-Klub gemietet hatte. Das konnten sie unmöglich erst in der letzten Woche umgebaut haben.
Der Tag war so sonnig wie alle Tage davor. Die Menschen schlenderten über das Gelände und durch die Gebäude, sprachen mal mit dem, mal mit jenem, freuten sich, wie schön es geworden sei. Frau Schiefer unternahm nicht einmal den Versuch, Kalle und mich nach Hause zu schicken.
»Vielleicht wagt sie es wegen unserer Eltern nicht?«, mutmaßte ich.
»Höchstens wegen deiner«, mutmaßte Kalle.
Sie sahen nicht die Schemen des Unglücks zwischen den Menschen, nicht die Geister, die sie unwissentlich beschworen hatten. Sie glaubten, es wäre die Hefegärung des Sekts, durch die es nach Gas röche. Kalle und ich sahen alle. Albert, August, Emil, Erich, Fred, Friedrich, Heinrich, Johann, Klaus, Udo, Viktor und Hansi, weil es sowohl Johann als auch Heinrich schon gab.
»Wir müssen sie warnen«, sagte ich, während wir das Gelände verließen. »Unsere Klasse, unsere Freunde, deine Eltern.« Ich wollte aufs Gelände zurück, den nächstbesten anschreien, der mir begegnete, und wenn es Frau Schiefer wäre.
»Sie werden uns nicht glauben«, antwortete Kalle und hielt mich an der Hand.