Das Geheimnis von Muirhead Castle
Nebel zog über das schottische Hochland und umhüllte die Bergketten.
„Der Nebel wird immer dichter. Wir müssen eine Rast machen“, sagte Hansen.
„Sieh mal! Dort drüben auf der linken Seite. Es sieht aus wie ein Schloss.“
Helga konnte trotz des gespenstig dichten Nebels vier hohe, spitze Türme erkennen.
„Laut Reiseführer ist das Muirhead Castle.“ Hansen kratzte sich den Dreitagebart.
„Sind in den letzten vier Monaten nicht drei Menschen hier in der Gegend spurlos verschwunden?“ Erinnerte sich Helga und schauderte bei diesen Gedanken. „Lass uns lieber die Kurve kratzen.“
„Nein, es fängt an zu regnen, und der Nebel wird immer dichter.“
Hansen bog links ab und fuhr einen langen, schmalen Weg entlang. Nach zweihundert Metern erreichten sie das Schloss. Die Gartenanlage war verwildert. Überhaupt wirkte das Schloss nicht gerade einladend.
Hansen zog sich einen gelben Regenmantel über und rannte zur Eingangstür. Eine lange Schnur baumelte an der großen Holztür. Hansen zog an ihr, und ein lauter Gong ließ ihn zusammenzucken. Einige Krähen flogen wie aufgescheuchte Hühner umher. Aber niemand erschien an der Tür. Hansen drehte sich zu Helga und deutete mit einer Geste an, aus dem Auto zu steigen.
Er sah seine Frau von oben bis unten an. „Deine knallrote Hose und die leuchtendgrüne Jacke durchdringt sogar den dicksten Nebel“, sagte Hansen barsch und verdrehte die Augen. Die Art wie Helga sich kleidete brachte ihn zur Verzweiflung. „Das du als Mode-Designerin so erfolgreich bist, ist mir unbegreiflich.
„Du hast eben keine Ahnung von Mode“, erwiderte Helga zickig.
„Wir sind zehn Jahre verheiratet, aber seit du vor einem Monat 40 Jahre geworden bist, benimmst du dich ausgesprochen kindisch. Hast du eigentlich heute schon in den Spiegel geschaut? Nicht nur, dass du aussiehst wie ein Papagei und deine Haare so kurz sind wie der letzte Sommer, du bist auch ein wandelnder Tuschkasten.“
Helga hob den Kopf und stolzierte Richtung Eingangstür. „Du übertreibst maßlos.“
Plötzlich öffnete sich unter lautem Knarren die schwere Tür. Wie versteinert blieb Helga stehen.
„Und? Was machen wir jetzt?“ fragte Helga und zitterte nicht nur vor Kälte.
„Na, reingehen. Oder willst du hier draußen Wurzeln schlagen?“
„Und wenn hier Untote ihr Unwesen treiben?“ Helga schauderte.
„Aber mein Schatz. Ich bin Polizist“, versuchte Hansen seine Frau zu beruhigen.
„Angeber.“
Vorsichtig betraten sie das Schloss. Drinnen war es stockdunkel. Sie tasteten sich langsam durch einen riesigen Raum. Ihre Schritte hallten gespenstig. Ein schwacher Lichtstrahl prallte auf zwei Kerzenhalter, die auf einem Tisch standen.
„Hier liegen Streichhölzer?“ bemerkte Hansen.
„Und genau zwei Kerzenhalter?“ wunderte sich Helga.
Hansen zündete die Kerzen an. Der Raum erhellte sich. Einige antike Stühle standen um den langen Tisch herum. Ein Gemälde von Maria Stuart zierte die Wand über den Kamin.
Helga neigte den Kopf zur Seite. „Schief“.
Ansonsten war der Raum leer und ungemütlich. Ein plötzlicher Windhauch ließ beide herumfahren.
„Hallo, hier ist doch jemand! Zeigen Sie sich! Wir sind bloß harmlose Touristen. Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben“, sagte Hansen in gepflegtem Englisch und mit kräftiger Stimme, die unheimlich widerhallte.
Aber niemand zeigte sich. Vorsichtig stieg Helga eine breite Treppe hinauf. Oben angelangt öffnete sie eine Tür und verschwand in dem dahinterliegenden Raum. Sekunden später stürzte sie aus dem Zimmer.
„Hilfe! Gerhard!“ Schreiend rannte sie die Treppe hinunter.
Hansen rannte ihr entgegen. „Was ist los?“
„Da, da, da hä.....“
„Nun rede schon!“ schrie Hansen seine Frau an, die mit weit aufgerissenen Augen nach Worten rang.
„Da hängt einer“, krächzte sie.
Hansen schaute ungläubig. „Du bist verrückt.“
„Da oben hängt ein Gehängter. Ich schwöre es beim Namen deiner Mutter. Los, geh rauf und sieh nach“, sprudelten die Worte aus ihrem Mund wie Sekt aus einer geschüttelten Sektflasche.
„Lächerlich“, nuschelte Hansen und ging mutigen Schrittes in das Zimmer.
„Und? Wo ist er?“
„Das gibt es nicht. Siehst du da oben den Haken? Da hing er.“
Hansen zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist er Tee trinken gegangen.“
„Du hättest Komiker werden sollen.“ Helga war beleidigt, machte kehrt und stolzierte die Treppe hinunter.
„Es ist besser wir gehen. Wir lassen besser die Polizei hier nach dem Rechten sehen “, bestimmte Hansen.
Ein markerschütternder Schrei ließ die Mauern des Schlosses vibrieren. Die beiden Touristen blieben wie angewurzelt stehen.
„W... w... was war das?“ stotterte Helga leichenblass.
„Es kam von dahinten. Lass uns nachsehen!“ befahl Hansen.
Sie schritten auf Zehenspitzen am Kamin vorbei und gelangten am Ende des Raumes an zwei verschlossenen Türen.
„Rechts oder links?“ Hansen kratzte sich den Kopf.
„Wir nehmen zuerst die Linke.“ Ruckartig riss Hansen die Tür auf, als erwarte er ein Ungeheuer dahinter. Stattdessen fiel ihm eine Leiche entgegen. Er sprang zur Seite, und die fürchterlich zugerichtete Frau knallte auf den Boden. Das Blut spritzte auf Hansens gelben Regenmantel. Helga schrie laut auf und fiel fast in Ohnmacht. Hansen fing sie auf und umarmte sie.
„Ist schon gut“, beruhigte er seine geschockte Frau. „Wir gehen, sonst sind wir die Nächsten“.
Sie drehten sich um und starrten in die ausdruckslosen, kalten Augen eines Mannes, der wutschnaubend mit einem Beil in der Hand ihnen den Weg versperrte. Ein wahres Muskelpaket. Mitte Zwanzig, etwa einsachtzig groß.
„Jetzt seid ihr dran“, brummte er brutal.
„W.. w.. wer sind Sie?“ stammelte Helga.
„Mein Name ist Igor Muirhead.“ Igor grinste und schwang seine Axt Richtung Hansens. Blitzschnell duckten sie sich. Der Schlag ging ins Leere und Igor verlor fast die Balance.
„Sie sprechen Deutsch“, bemerkte Hansen.
„Meine Großeltern waren Deutsche“, brummte Igor und holte zum nächsten Schlag aus.
Helga verschanzte sich hinter einer hohen Truhe. Hansen wich den Schlag gekonnt aus.
„Und wo sind Ihre Eltern oder sonstigen Verwandten?“ Hansen wartete auf eine Gelegenheit, Igor auszutricksen.
„Alle Tot. Ich habe sie alle im Verlies lebendig eingemauert.“ Igor lachte hämisch, dabei entblößte er seine völlig verfaulten Zähne. „Auch der Gehängte war nur ein Trick, um euch Ungeziefer loszuwerden.“
Mutig kam Helga aus ihrem Versteck. „Warum tun Sie das? Was haben diese Menschen Ihnen getan?“
„Sie wollten mir mein Eigentum wegnehmen. Mein Gold. Jeder will es mir wegnehmen. Auch ihr.“ Igors Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Seine Mundwinkel zuckten und seine Augen glühten vor Wut. Er stampfte auf Helga zu.
Verzweifelt versuchte Hansen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Das ist doch Unsinn. Wir wissen gar nichts von dem Gold. Das Gold hat dich um deinen Verstand gebracht. Es hat dich geblendet“
Igor hob das Beil. Die Klinge glänzte im Kerzenlicht. Im Bruchteil einer Sekunde raste sie auf Helga hinab. Das Beil verfehlte Helga nur knapp und landete unter lautem Krachen auf die Truhe. Dabei zerbarst der Truhendeckel in zwei Teile. Hansen hechtete zu Igor und riss ihn zu Boden. Mit seiner gefürchteten Linken schickte er Igor ins Land der Träume.
„Gut, dass ich mal Profiboxer war“, triumphierte Hansen und rieb sich den schmerzenden Knöchel.
„Dieser schwachsinnige Weichkeks hätte mich beinahe zu Gulasch verarbeitet“. Helga atmete tief durch und dankte Gott für einen so starken und mutigen Ehemann.
„Hör auf, Reden zu schwingen. Nimm deine Beine in die Hand und komm.“
Sie rannten als wäre der Teufel hinter ihnen her. Sie rissen die Autotüren auf und schmissen sich förmlich auf die Sitze. Mit quietschenden Reifen fuhren sie davon.
„Puh, das war knapp“, keuchte Helga.
„Das kannst du laut sagen.“
Hansen fuhr in Inverness sofort zur Polizei. Er erzählte was vorgefallen war. Der Inspektor, ein aufstrebender junger Mann, trommelte sechs Beamte zusammen und fuhr mit Hansen zum Schloss. Helga blieb im Hotel.
Am Schloss angekommen sahen sie nur noch ein Flammenmeer. Sie hörten Igors Schreie. Plötzlich war es totenstill.
„Er hat sich selbst hingerichtet“, drückte der Inspektor das aus was alle dachten.
„Ja. Das Gold hat ihm zu einem Monster gemacht.“
Hansen verabschiedete sich vom Inspektor und fuhr zum Hotel. Er nahm Helga in seine Arme und küsste sie leidenschaftlich.
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