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Das Geheimnis
Das Geheimnis
Endlich konnte sie aufwachen. Vorsichtig, damit niemand etwas bemerken könnte, tastete sie nach dem Lichtschalter. Die plötzliche Helligkeit blendete die schlaftrunkenen Augen, doch ihr Geist war schon längst hellwach. Sie setzte sich im Bett auf. Die inneren Bilder versuchten sich wieder in ihren Kopf zu drängen, doch im Licht gelang es ihr, sich mehr auf die Bücher im Regal, das Spiralmuster auf dem Vorhang, und auf den Stundenplan und die Pendenzen für den kommenden Tag zu konzentrieren.
Ihr rasendes Herz beruhigte sich langsam, fühlte sich nun an, als ob eine fremde, eiskalte Hand es in eisernem Griff festhalten würde. Flach ihr Atem, und die Kälte blieb. Sie musste da raus. Es war vier Uhr morgens, noch drei Stunden bis sie sich auf den Weg zur Uni machen sollte. Sie zog den Laptop zu sich hin, startete ihn auf. Emails checken, MSN, Skype, natürlich ist niemand online um diese Zeit. Sie klickt sich von einer Seite zur nächsten durch, liest die neuesten Verführungstipps für Sie, und ob Er eher der häusliche oder der draufgängerische Typ ist.
Doch die Kälte blieb. Wie ein Schatten verfolgte sie sie. Im Bus hatte sie sich mehrmals umgedreht, doch hinter ihr sass immer nur die selbe Frau. Als diese einen kleinen Taschenspiegel hervorkramte um zu kontrollieren ob sie vielleicht noch Zahnpasta im Gesicht hatte, stieg ihr das Blut in den Kopf. Sie biss sich auf die Lippen und blieb bis zu ihrer Haltestelle steif sitzen, ohne sich noch einmal umzuwenden. Der Schatten sass direkt hinter ihr. Sie begann sich zu überlegen, in welchem Raum nun schon wieder die erste Vorlesung stattfinden wird. Entwicklungspsychopathologie, Lern- und Wahrnehumgspsychologie, Emotionale Entwicklung des Kindes standen auf dem Stundenplan. Letzteres zuerst. Vor einer Woche hatte sie den Dozenten in einer Pause diskret gefragt, ob er ihr nicht eine Adresse empfehlen könnte, die ihr helfen könnte um sich über gewisse private Dinge klarer zu werden. Er gab ihr seine eigene Praxis an. Welch ein Reinfall … Sie konnte doch nicht ihrem eigenen Dozenten erzählen … Sie ging in die Stunde, hielt sich zurück, konzentrierte sich auf sich selbst. Nur diesen Typen nicht anschauen.
Sie verstand nicht, was das sollte. Warum träumte sie immer wieder davon? War da irgendetwas nicht in ganz in Ordnung mit ihr? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so etwas erlebt zu haben, alle diese Dinge die sie da lernte in ihrem Studium. Das hatte doch nichts mit ihr zu tun. Sie hatte doch eine ganz normale Kindheit erlebt. Warum brachte sie das alles so durcheinander? Träumte sie vielleicht deswegen? Ihr wurde wieder schwindelig. Sie sass da auf ihrem Stuhl im Hörsaal und sah plötzlich die Welt um sich herum schwanken, langsam rechts hoch, links runter und zurück und links hoch und rechts runter, und zurück … Auch dies passierte ihr in letzter Zeit öfters. Als sie deswegen einen Arzt aufsuchte hat dieser ihr Eisentabletten verschrieben. Die Müdigkeit und der Schwindel kämen bestimmt von ihrem Eisenmangel. Sie nahm nun also pflichtbewusst jeden Morgen eine Tablette und trank ein Glas Orangensaft um die Wirkung zu verbessern. Aber es veränderte sich nichts.
Abends sass sie nun immer länger an ihrem Laptop. Wenn ihre Mitbewohner schon längst schliefen, brannte in ihrem Zimmer noch Licht. Sie hatte beim Stöbern im Internet eine Chatseite gefunden, auf der sich jederzeit einige User tummelten. Auch mitten in der Nacht konnte man sich da unterhalten. Sie wollte nicht schlafen. Nicht, wenn dort solche Sachen mit ihr geschahen. Sie zwang sich wach zu bleiben solange es nur ging. Der Chat half ihr dabei. Wenn ein Gesprächspartner schlafen ging, gab es sicher noch einen andern, der sich gerade erst eingeloggt hatte. Einigen erzählte sie von ihrem Problem, bei andern war sie die Zuhörerin. Wieder andere wusste sie sofort zu vergraulen, weil sie nur das eine wollten. Sie war immer ehrlich, aber einige Dinge erzählte sie niemandem. Niemand wusste, wer sie wirklich war.
Wenn der Schlaf nicht mehr zurückzuhalten war, legte sie sich hin und stellte den Wecker überpünktlich. Der grässliche Klingelton früh morgens würde sie derart aus dem Tiefschlaf schrecken, dass sie sich mit etwas Glück nicht mehr an den furchtbaren Traum erinnern konnte. Aber sie wusste sie waren da. Die Träume waren da, und der kalte, feuchte Schatten der sie verfolgte. Der liess sich nicht abschütteln, nicht am Tag, nicht in der Nacht.
Einmal sass sie im Bus auf dem Weg nach Hause. Sie hatte einen recht guten Tag gehabt. Hatte mit Freunden gelacht, zusammen über Dozenten gestöhnt, und die Stunden gingen eigentlich schnell und einfach vorbei. Aber hier im Bus fühlte sie auf einmal wieder diesen Schatten. Er war noch kälter als sonst. Über ihre rechte Schulter kroch er nach vorne zum Hals, legte sich über ihr Herz und über den Mund, ein anderer Arm kroch über den Nacken über ihren Kopf. Kalt, feucht und schwer wie ein dick mit Wasser vollgesogener Schwamm überdeckte er ihren Kopf und ihr Herz, saugte alle guten Erlebnisse vom Tag, von ihrem ganzen Leben aus ihr heraus und füllte sie mit seiner kalten, üblen Flüssigkeit. Das einzige was so in ihr zurückblieb war gefühllose Leere und Kälte, lahme, schwere Gedanken über sie selbst in dieser Welt. Was hatte sie überhaupt in dieser Welt verloren? Sie nützte der Welt doch nichts. Was für ein nutzloses, schlechtes Ding sie doch war … - Aber das kann doch nicht sein?! Endlich war sie zuhause, flüchtete sich in ihr Zimmer. Tür zu. Sie wollte diesen Schatten nicht! Der hatte nichts mit ihr zu tun. Der sollte weg! Sie sass da auf ihrem Bett und weinte. Sie hätte gern geschrien, sich die ganze Angst und Wut aus dem Herz geschrien. Sie schrie nur in Gedanken. Sie wusste nicht mehr wer sie war. Sie wusste nicht mehr, wie sie sich fühlte. In einer einzigen Sekunde hätte sie Schreien, Weinen, Lachen können. Und sie war wütend auf sich selbst. Wegen diesem Mist hatte sie schon wieder nur die Hälfte der Arbeit geschafft. Sie konnte sich noch eine schlechte Prüfung nicht leisten … Sie war wütend auf sich selbst, weil sie sich selbst nicht mehr verstehen konnte. Sie hatte doch sonst immer alles unter Kontrolle! Sie wollte da raus, sie weinte weil sie glücklich sein wollte, weil diese Angst sie traurig, verrückt machte. Sie lachte sich selbst aus, weil sie scheinbar zu blöd war glücklich zu sein. Wer ausser ihr konnte sogar so dumm sein, dass er nicht glücklich sein konnte, obwohl es weit und breit keinen Grund dazu gab?! Und sie hatte solche Kopfschmerzen. Die drohten ihr zusätzlich den Kopf zu zersprengen.
Nach einigen Stunden wurde es ihr langsam leichter um die Brust. Immer beim Einatmen ging es ihr ein bisschen besser, sie spürte wie die Wärme in ihren Körper zurückkehrte, wie die Kälte wich. Doch sie wusste es würde wieder kommen. Der Schatten, die Angst, sie würden wieder kommen. Immer beim Ausatmen spürte sie sie hinter sich. Mahnend, warnend. Nur keine falsche Bewegung. Keinen falschen Gedanken. Sie war sich nicht sicher, war sie es selbst die das machte? Machte sie sich selbst diese Gedanken? Aber das waren nicht ihre! Manchmal dachte sie, sie könnte sie wegmachen, wenn sie nur wollte. Aber vielleicht wollte sie ja gar nicht? Aber sie wollte doch! Aber sie konnte es nicht … Es schwindelte ihr.
Als sie wieder klar bei sich war, wusste sie, sie musste etwas unternehmen. So durfte es nicht weitergehen. Wie sollte sie so ihr Studium bestehen? Und selbst wenn, sie konnte doch nicht rund um die Uhr, tagtäglich mit dieser Angst leben! Sie musste doch schlafen. Niemand kann leben ohne zu schlafen. Aber sie konnte nicht schlafen, wenn dort solche Träume auf sie warteten.
Solche Träume. Es waren ja nur Träume. Aber sie fühlten sich so echt an. Sie konnte ja nicht wissen wie es war, das echt zu erleben. Gott sei Dank. Aber in ihren Träumen war es echt. Und es war …
Ihre Mutter empfahl ihr eine alternative Behandlung aufzusuchen. Sie hatte Glück, viel musste sie dort nicht erzählen. Sie erwähnte den Schwindel und dass sie Alpträume habe, weswegen sie sich vor dem Schlafen fürchte. Die Alternativmedizinerin wollte auch gar nicht viel mehr von ihr Wissen. Mit ihrer Technik befragte sie den Körper der Klientin. Danach gab sie ihr ein natürliches Präparat mit auf den Weg, das half, den Schatten und den Schwindel weniger zu spüren, und nach kurzer Zeit verschwanden auch die Träume.
Einige Monate später, sie hatte sich wieder gut erholt, wenn auch nicht vergessen was geschehen war, wurde sie von ihrer Mutter zu einem privaten Gespräch gebeten. Ihre Mutter erzählte ihr, was sie noch nie in ihrem Leben jemandem erzählt hatte. Es geschah von ihrem zehnten bis fünfzehnten Lebensjahr. Heute hatte sie von seinem Tod erfahren.