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- 07.07.2007
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Das Geräusch sich senkender Blicke
Das Geräusch sich senkender Blicke
Ich bin früh aufgestanden. Eine müde Kälte hängt an mir wie Fetzen eines immer wiederkehrenden Traums. Von irgendwoher glaube ich Pianoklänge zu vernehmen. Sanfte, beruhigende Klänge in loser Folge. Ich schließe das Fenster. Draußen schläft die Stadt. Der Herbst breitet sich aus. Ganz typisch für diese Gegend hier. Spiegelnde Straßenzüge, welkes Laub. Auch die Schönheit ist Bedingungen unterworfen. Blickt man in einen Spiegel, mit welchem Gefühl begegnet man dem Blick zurück? Demut, Arroganz, Ironie? Wieso fällt es mir so schwer zu glauben, dass diese traurigen Augen meine eigenen sind?
Für einen Moment bin ich versucht in den Schoß des Schlafes zurückzukehren. Doch ich bin zu müde, um schlafen zu können. Etwas wartet – dort draußen in der Morgendämmerung. Ich spüre, wie es hier drinnen an mir zerrt, mich treibt – weiter. Hinaus aus dem Schlafzimmer. Weg von der Vorstellung, ich könnte die unabänderliche Spirale aus Tag und Nacht umgehen, indem ich trotzig so tue, als gäbe es sie nicht. Es treibt mich in die Küche.
Das Gefühl inmitten all der wohlbekannten Ecken und Winkel meines Lebens ein Fremder zu sein, ist mir nicht neu. Neu ist die Intensität der Verachtung, die ich den Dingen, die alle auf ihrem Platz stehen und darauf warten, Teil der alltäglichen Routine zu werden, entgegenbringe. Sie füllt mich aus, erschlägt mich nahezu, dass mir schwindlig wird. Ich muss mich setzen. Und beginne zu weinen.
Ich weine, weil ich mich verloren glaube. Ich weine, weil mein Verstand für einen kurzen, aber entscheidenden Augenblick zu schwach ist, sich diesem Gefühl entgegen zu stemmen. Ich weine, weil ich schon seit Jahren nichts anderes mehr gefühlt habe als Verachtung und Selbstmitleid. Ich weine, weil ich zu nichts anderem in der Lage bin, als mich anzupassen. Und so passe ich mich auch jetzt der Traurigkeit an, die ich so unbedingt fühlen will. Ich weine.
Ich lache, als ich merke, dass die Tränen langsam versiegen. Es ist kein richtiges Lachen, eher ein Schnauben. Ich könnte auch den Kopf schütteln. Das Leben ist ein seltsames Spiel, wenn man bedenkt, dass niemand die Regeln kennt und es am Ende nur Verlierer gibt. Was bleibt einem anderes übrig, als den Kopf zu schütteln, aufzustehen und den nächsten Schritt zu tun? Immer in der Hoffnung, es möge nicht der letzte sein. Bis es der letzte ist und man zwei Meter tief fällt und die Welt einen vergisst, weil sie sich dreht und die Erinnerung an alles Leben hinausschleudert und zurückwirft in das tiefe, dunkle Nichts zwischen dem Hier und dem Nirgendwo. Oder dem Irgendwo, diesem wunderschönen Ort nahe einer Sonne, warm und beschattet zugleich, wo das Leben keine Rolle spielt, weil es unendlich ist, und der Tod nichts weiter als ein Traum.
Den Anzug habe ich vor ein paar Jahren erstanden. Er verleiht mir Souveränität und Anmut. Ich ziehe ihn nur sehr selten an. Gekauft habe ich ihn für die Hochzeit meines besten Freundes. Nun hängt er an einem Bügel am Kleiderschrank im Schlafzimmer. Ich fahre mit den Fingern über das Revers und erinnere mich genau, was die Braut seinerzeit zu mir gesagt hat:
"Hör zu", sagte sie, "du brauchst keine Angst zu haben. Und wenn du doch mal Angst hast, schließ einfach die Augen und stell dir vor, wie Gott dir ein Lächeln schenkt."
"Aber warum lächelt Er, wenn ich Angst habe?" fragte ich.
"Weil Er weiß, dass es nichts gibt, wovor du Angst haben musst", antwortete sie.
"Aber warum lächelt Er, wenn ich Angst habe?" fragte ich.
"Weil Er weiß, dass es nichts gibt, wovor du Angst haben musst", antwortete sie.
Ich lasse den Anzug im Schlafzimmer hängen und gehe ins Bad. Während ich dusche, versuche ich mir Gott vorzustellen und wie er lächelt. Doch was ich sehe, ist kein Lächeln. Wahrscheinlich ist es nicht einmal Gott. Denn was ich sehe, ist ein alter Mann, der mich auslacht. Mich und meine Angst. Ich vergesse mir die Haare zu waschen. Und auch in den nächsten Minuten bin ich unkonzentriert und fahrig. Der Anzug sitzt noch immer perfekt. Nur die Krawatte will sich nicht binden lassen. Es bedarf mehrerer Anläufe, bis ich sie entnervt aufs Bett werfe und mir sage, es wird wohl auch ohne gehen. Es wird ohne gehen müssen.
Der Weg zur Kirche ist nicht weit. Mit dem Wagen braucht man keine zehn Minuten. Ich brauche fast zwanzig, weil ich mich nicht in der Lage sehe, schneller zu fahren. Die Gedanken kreisen hinter meiner Stirn. Ich habe Mühe mich auf die Straße zu konzentrieren. Immer wieder denke ich darüber nach, wie ich mich zu verhalten habe, welche Worte die geeigneten sein könnten. Doch je öfter ich die Worte im Geist aufsage, desto lächerlicher klingen sie. Was kann ich sagen? Mir fehlt die Erfahrung in solchen Dingen.
Alle Parkplätze vor der Kirche sind belegt. Ich fahre vorbei und parke ein Stück weiter die Straße hinunter. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben schlendere ich zurück. Ich würde alles tun, um der ganzen Situation zu entkommen. Am liebsten würde ich fortlaufen. Ja, am liebsten würde ich mich irgendwo verkriechen, weit weg, wo mich niemand findet und mich niemand kennt, wo ich in aller Ruhe an den Worten feilen könnte, an den entscheidenden Worten. Doch es ändert sich nichts. Egal wohin man rennt, wie viel Abstand man meint, zwischen sich und allem gebracht zu haben, zwischen sich und die Vergangenheit und die Liebe zu den Menschen, die man nicht lieben will, weil man sie nie vermissen möchte, die Worte bleiben immer unvollkommen.
Das hohe Portal ist bereits geschlossen. Würde man es mir übel nehmen, wenn ich diese letzte Chance zur Flucht nutze? Plötzlich fallen mir Myriaden an Ausreden ein. Eine plausibler als die andere. Die Tür war schon zu, könnte ich sagen, und ich wollte die Andacht nicht stören. Nein, wahrscheinlich hätte man Verständnis für mich. Nicht weil die Ausrede so gut ist, nein. Sondern weil man ganz allgemein Verständnis für Menschen hat, die mit einer Bestattung überfordert sind. Denen allein beim Gedanken daran die Kraft fehlt, die gusseiserne Klinke nach unten zu drücken und sich in den Bannkreis eines Toten zu begeben, in dem nichts anderes existiert als Trauer und Schmerz und Tränen und Wut und Ohnmacht. Ja, man hat Verständnis für jemanden, der den Anblick der Leblosigkeit nicht ertragen kann, weil er erkennt, dass auch er . . . und sich nicht sicher ist, ob irgendjemand, wenn er . . . genauso verzweifelt einen Weg sucht, dem Ganzen zu entfliehen und dann doch das Tor öffnet und diese ganz stille Welt betritt, die nur ein Geräusch kennt, das der sich senkenden Blicke.
Ruhet sanft. Ruhet in Frieden.