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Das Geschwür bin ich
Krebs!
Die Diagnose war eindeutig, unveränderlich, niederschmetternd. Schon seit Wochen, vielleicht auch Monaten, wucherten Metastasen in meinem Schädel, stetig wachsende Geschwülste, die das Gehirn zerfraßen; und niemand hatte es gemerkt, bis vor kurzem nicht einmal ich selbst.
Wäre nicht dieser Kopfschmerz, dieser dauernde, migräneartige Kopfschmerz, welcher sich selbst den Tabletten erfolgreich widersetzte, und die allmorgendliche Übelkeit, das Erbrechen nach dem Aufstehen, ich wüsste bis heute nicht, was mit mir, in mir, in meinem Kopf geschah.
Als ich mich auf den Weg zum Arzt machte, meinen Zustand untersuchen zu lassen, mich frohen Mutes und guter Gedanken von meiner Sibylle, meiner geliebten Sibylle, verabschiedete, hätte ich mir niemals träumen lassen, mit einem Tumor heimzukehren, dessen Ausmaße die Möglichkeiten einer Heilung längst überschritten hatten.
Die Risiken für das Eintreten "letaler neurologischer Schäden" nach einem operativen Eingriff seien zu hoch, sagte der Arzt. Dieser Quacksalber, dieser verdammte selbsternannte "Halbgott in Weiß", so trocken, so desinteressiert und ohne einen Hauch von Anteilnahme offenbarte er mir meinen Tod, gestand mir sogar, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt eine "medizinische Unmöglichkeit" wäre, überhaupt noch mit dem Leben verankert zu sein. Nun, ich lebte; jedenfalls noch.
Doch wie sollte ich jene Hiobsbotschaft nur meiner Sibylle übermitteln, meiner kleinen, zerbrechlichen Sibylle, ohne ihr armes Herz zu erschweren, ohne sie in die tiefsten Untiefen der Trauer zu stürzen? Ich wusste es nicht, konnte es nicht wissen. Woher auch? Niemand hatte mich vorbereitet, niemand hatte etwas geahnt. Und nun war es da, dieses unsägliche Schreckgespenst, dieses verfluchte Wesen einer Krankheit:
Krebs!
Ich fuhr nicht mit der U-Bahn nach Hause, wie ich es für gewöhnlich getan hätte, sondern zog es vor, einen Fußmarsch zurückzulegen. Ich wollte in diesem Moment nicht unter dicht gedrängten Menschen verweilen, wollte alleine sein, um meine Gedanken zu ordnen, meinen Geist zu klären, mich darauf konzentrieren, mit der neuen Situation konform zu werden.
Was würde ich Sibylle sagen? Wie würde ich es ihr sagen? Würde ich überhaupt etwas sagen? Meine Synapsen schossen sich auf diese zentralen Fragen ein, umkreisten sie immerwährend, ohne Unterlass, gnadenlos, ohne Rücksicht darauf, dass es mich mehr und mehr schmerzte, jene Gedanken fortzuführen. Ich war verkrampft, unsagbar verkrampft.
Allmählich verlangsamte ich meine Schritte, drosselte das Tempo, bis ich schließlich ganz zum Stillstand kam. Eine einzelne silbrige Träne kullerte meine Wange entlang, rann über das Kinn, tropfte herab und gefror noch bevor sie den Boden berührte. Wie in Trance nahm ich dieses Schauspiel wahr, ein zeitlupenhaftes Spektakel, als wäre es die erste Träne, die ich weinte, das erste salzige Wasser, das ich vergoss.
Ich richtete mich auf, sog die frostige Winterluft durch die Nase, lange, intensiv, bis sich ihre Kälte meines erhitzten Gemütes bemächtigte. Erst dann blickte ich mich um, gewahr erst jetzt, wie verlassen die verschneite Straße war, wie schneidend der fahle Wind auf meiner Haut, von welcher Anmut die blätterlosen Bäume am Wegesrand, deren karge Kahlheit unzählige Eiszapfen verzierten.
Kein Laut war zu vernehmen, alles versunken, alles eingehüllt in eine unheimliche Stille, die kaum besser die weiße Landschaft reflektieren hätte können. Nur das schwere Keuchen meines steten Atems, wie im Spiel mit der Kälte Kondenswölkchen in die Luft malend, zaubernd, durchbrach die Wand aus Schweigen, als ich unter dem leisen Knirschen des frischen Schnees meinen Weg fortsetzte, inzwischen von sanftem Graupel benetzt, meine Jacke fester zugezurrt...
Bereits beim Öffnen der Haustüre schlug mir ein herber, süßlicher Gestank entgegen, dessen Vertrautheit mich beruhigte, mich mit einem kurzen Gefühl von Stärke beseelte, mir einen Moment lang die Angst nahm; ich war daheim.
Doch dieses emotionale Fünkchen glücklicher Gedanken währte nicht lange und als ich den Mantel von den Schultern streifte, wurden sie sofort mit einer neuen Last beladen, einer Last, die man nicht sehen, nur spüren konnte.
Ich fand Sibylle so vor, wie ich sie zurückgelassen hatte; sie lag ausgestreckt auf der Couch im Wohnzimmer, leicht bekleidet, nur in ein durchsichtiges Dessou gehüllt, und ihr blondes Haar wallte sanft über das beige Ledersofa. Im Hintergrund flimmerte der Fernseher, bunte Bildchen huschten hektisch hin und her, quietschende Farben und Töne gingen eine kakophonische Symbiose ein. Die Szenerie schien gespenstisch.
Ich setzte mich neben Sybille, küsste sie zärtlich auf die Schläfe, streifte den herabgerutschten Träger ihres BHs an seinen Platz zurück. Was würde ich ihr jetzt sagen?
Mein Mund fühlte sich urplötzlich trocken an, klebrig, kalter Schweiß perlte mir von der Stirn, rann aus jeder Körperfalte, Hitzewallungen stiegen unerbittlich in mir auf, alles verschwamm vor meinen Augen, die Realität wurde zum Zerrbild ihrer selbst.
Ich stützte mich auf der Armlehne ab, als ich mich erhob, fröstelnd, zitternd am ganzen Leib, kaum fähig alleine zu stehen, und wankend ins Badezimmer torkelte. Kaltes Wasser strömte über mein Gesicht, meine Haare, durchnässte meine Kleidung, floss auf den Fußboden, wo es sich zu einer einzelnen Pfütze sammelte. Langsam beruhigte ich mich wieder. Doch ein Blick in den Spiegel genügte, um mich daran zu erinnern, was ich in mir trug; meine Wangen waren so tief eingesunken, dass die Knochen spitz hervorragten, dunkle Ringe zeichneten sich unter meinen Augen ab und ihr Weiß war trübe, so unendlich trübe...
Als ich zurückkam, lag Sibylle noch immer an ihrem Platz, räkelte sich stumm, räkelte sich, doch bewegungslos, nur in meiner Erinnerung. Ich verscheuchte die Fliegen, die um sie herumschwirrten.
"Na, meine Kleine," setzte ich an, spürte abermals einen dicken Kloß im Hals: "Was hast du denn Feines gemacht, während ich fort war?"
Sie starrte mich an, der Blick stumpf, den Mund halb geöffnet, starrte, wie wenn sie mich nicht sähe, keinen Laut von ihren Lippen gebend. Eine dicke Made quoll aus ihrer hübschen Nase, wand sich possierlich im Todeskampf, als ich sie zärtlich zwischen meine Finger nahm und langsam das Leben aus ihr quetschte. Ich verteilte den zähflüssigen Matsch in meinem Gesicht, sorgfältig, keine Stelle vernachlässigend, alles gleichmäßig einschmierend, jede Pore abdichtend. Eine wohlige Erregung durchflutete mich und ich gab mich der Wonne hin, die sie verursachte, genoss diese ganz spezielle Kur für meine spröde Haut, genoss die willkommene Ablenkung vor dem schweren Unterfangen, das noch vor mir lag.
Dann beschaute ich mir das Spektakel, welches sich in Sibylles Schädel abspielte. Durch die leeren Höhlen konnte ich unzählige kleine Käfer ausmachen, ein wuselnder schwarzer Pulk aus Chitin, der sich an ihrem Gehirn gütlich tat, es Stück für Stück abtrug, um es schließlich zu verzehren.
Mein Mund fand Sibylles Lider, liebkoste sie, fuhr mit der Zungenspitze langsam, so endlos langsam über den Rand der kleinen, fleischig-weichen Löcher, die einst Einbettungen ihrer Augäpfel waren. Beinahe schmeckte ich Reste alten Ejakulats, beinahe hörte ich ihre schmerzverzerrten Schreie, als mein Glied sich langsam in ihren Schädel bohrte, sich weiter, immer weiter in ihr hübsches Köpfchen drückte, die zarten Äugelein zum Bersten brachte. Beinahe fühlte ich, wie ihr Tränenwasser meine Eichel benetzte, wie ich in ihr auf sachten Widerstand stieß, ein Widerstand, so nachgiebig, ein Gewebe, so einmalig im menschlichen Körper, so unabdingbar und doch so anfällig, so... Ich unterbrach meinen Gedankengang. In meinem Kopf schien es zu pulsieren, gegen den Schädelknochen zu hämmern, mich von dort heraus zerreißen zu wollen; der Tumor meldete sich wieder zu Wort.
Ich musste es ihr sagen, es ging kein Weg daran vorbei. Doch ich konnte nicht, so sehr ich wollte, konnte nicht, nicht in diesem Zustand. Woher bekäme ich nur den nötigen Mut, den nötigen Mumm in den Knochen? Mir blieb als Ausweg einzig der Alkohol...
Sachte pflückte ich einige Dungfliegen von ihrem wesenden Körper, prall und vollgesaugt, gefangen im geronnen Blut, festhaftend, Opfer ihrer Gier. Sie ließen sich von mir ernten wie reifes Obst und manch eine zerplatzte unter dem eigenen Gewicht, als ich sie unter einem kurz saugenden Geräusch von ihrer letzten Ruhestätte zog. Ich leckte mir die Finger, erfreute mich an der roten Flüssigkeit auf ihnen, ungeachtet dessen, dass der eine oder andere grünlich schimmernde Flügel zwischen meinen Zähnen stecken blieb. Ich fühlte mich wie ein Kind, das Brombeeren vom Strauch in Nachbares Garten stahl; so frei, so übermütig.
Ich platzierte meine Ernte in einer kleinen Schale auf dem Tisch, griff nach dem rostigen, schmutzigen Skalpell, welches daneben lag, und wendete mich wieder meiner Sibylle zu; etwas noch fehlte mir für meinen Cocktail.
Ihr Rumpf war ab dem Bauchnabel nach oben hin aufgebrochen, der Brustkorb und das Rückgrat entfernt, das übrige Fleisch einem schlaffen Behältnis gleich, in dem alle Innereien haltlos umherwaberten. Ich beugte mich über sie, nahm eine gute Brise des köstlichen Leichenduftes, faulig und herb, doch auf gewisse Weise mit einem nahezu süßlichen Bouquet veredelt, schob das nässende Fleisch der tiefen Furche nach entzwei und griff mit der blanken Hand in einen Hort aus Maden und Käfern, durchwühlte ihren Tummelplatz, grub die Därme von oben nach unten um, durchpflügte knackende Sehnen, splitterte Reste von Rippen und Wirbelsäule, alles unter matschigen Lauten, ähnlich dem Tritt in einen saftigen, frischen Hundehaufen, bis ich fand, was mein Begehren stillte; ihre Nieren!
Ich füllte die entfallenen Stücke, halb verrottet, angenagt, aber für meine Zwecke doch noch zu gebrauchen, wieder zurück in ihre Lagerstätte, versiegelte diese notdürftig mit etwas Paketklebeband - oh, wenn sie nur hätte sehen können, wie gut es ihr stand! - , ergriff meine Zutaten, meine wunderbaren, meine wundervollen Ingredienzien, und schlenderte in die Küche.
Eine halbe Flasche Wodka und der Pürierstab erfüllten mir die finale Anweisung des Rezepts und bescherten mir eine vitaminreiche und schmackhafte Mischung von dunkelrotem bis nahezu violettem Aussehen, leicht körnig, welche ich sabbernd und unter gierigem Lechzen ausschlürfte, Schluck um Schluck, Tropfen um Tropfen. Die verschiedenen Geschmäcker, eben erst vermischt, separierten sich in meinem Mund, explodierten zu einer solchen Vielfalt, dass ich den folgenden Taumel kaum ergreifen konnte. Über allem stand ein fruchtiges Aroma von Urin und dem Sud faulen Fleisches, das meinen Gaumen umspielte, sich auf meiner Zunge festsetzte und in mir die tiefe Lust nach mehr verursachte.
Mein Hauptziel hatte ich jedoch leider nicht erreicht. Als ich zurück zu meiner Sibylle, meiner kleinen Sibylle, schritt, war ich angetrunken, aber nicht enstpannt, nicht bestärkt genug in meinem Vorhaben, ihr diese endgültige Wahrheit zu offenbaren; der Alkohol hatte mir etwas vorgegaukelt, hatte mich glauben lassen, ich wäre nun weit genug, mich überwinden zu können, doch meine Angst in Wirklichkeit nur noch verschlimmert. Ich schämte mich für meine Feigheit, schämte mich für meine Schwäche, schämte mich dafür, dass ich nicht fähig war, mich vor ihr zu öffnen....., wie sie sich mir geöffnet hatte, so ganz ohne Scham mich tief in ihr Inneres blicken ließ.
"Tut mir leid, Schatz, ich muss leider noch einmal weg.", kam es über meine Lippen und ehe ich wusste, was ich tat, hatte ich mich wieder in meinen Mantel gehüllt, bereit das Haus zu verlassen, die Haare nur notdürftig zur Seite gekämmt, das Gesicht weniger gründlich abgewischt, als es Not tat, den faulen Odem nur spärlich aus dem Mund gegurgelt.
Ich würde mich betrinken, würde mich abfüllen, bis ich alles vergaß, bis alles irrelevant würde...
Schon von Weitem war es mir unmöglich, die Geräuschkulisse, das Schreien, das gequälte Schreien, den intonierten Zorn, den Zerstörungsdrang, die Gewalt, den Blutesrunst, welcher die abendliche Luft schwängerte, zu überhören, stetig ansteigend, einem Crescendo gleich, je näher ich meinem Ziel kam.
Das randalierende Pack, diese Kreaturen ohne Anstand, alles zerschlagend, alles zertrümmernd, breitete sich wie die Pest - wie Krebs! - über das Viertel, das eigentlich so hilflose, so unschuldige Viertel aus, wenn die Sonne sank; glücklicherweise gab es für diese Zysten am Arsch der Gesellschaft eine sehr effiziente Heilungsmöglichkeit: den grün-weißen Einsatzwagen, der sie alle verschlang, all diesen Abschaum, diesen wertlosen menschlichen Dreck aus dem Verkehr zog und den kleinen Whiskeyschuppen für mich reinigte. Wenn doch nur alles so einfach aus der Welt zu schaffen wäre...
Ich öffnete die ärmlich Pforte, eine einstmals robuste Eichenholztür, gute alte Wertarbeit am Ende ihrer Tage, angenagt von Zerfall und Vergänglichkeit, vom Wurmstich befallen - Krebs! - , und beschaute, was das heillose Spektakel in der Kneipe angerichtet hatte. Müll und Scherben lagen am Boden verstreut, der von klebrigen Getränkelachen überzogen war - kleine Pfützchen von Bier wohin man schaute - , die moderne Musikanlage war zertrümmert, weshalb ein alter Plattenspieler Ersatz leisten musste, und das Mobiliar sah ebenfalls recht mitgenommen und verschrammt aus. Sofort fühlte ich mich an den versifften Hafenteil der Stadt und seine Zechen erinnert; allesamt Rattenlöcher, bevölkert von gescheiterten Existenzen, Alkoholikern und Drogenabhängigen - Langsam füllte sich auch diese Spelunke wieder mit der täglichen Stammkundschaft, die ebenfalls schon bessere Zeiten erlebt haben dürfte; damals, als die Welt noch gesund war...
Ich besorgte mir eine Pulle mit Hochprozentigem aus dem reichhaltigen Kontingent und verzog mich in eine relativ unbeschadete Ecke, um mich meiner Melancholie hinzugeben.
So saß ich dort wohl eine ganze Weile, krampfhaft an meine "Jack Daniel's"-Flasche geklammert, kettenrauchend, umhüllt von nebelartigen Rauchschwaden, Gestank von durchnässtem, aufgedunsenem Holz, vergorener Gerste und kaltem Schweiß in der Nase, und sinnierte über die alten Tage, als ich noch jung war und mit ungebrochenem Willen den harten Prüfungen des Lebens trotzte.
Das Knarren morscher Türangeln ließ mich kurz aus meinen Gedanken aufschrecken und aus meinem dunklen Winkel nahm ich einen schmalen Lichtspalt wahr, der seltsam gespenstisch in die Kaschemme brach. Den trüben Schein der nächtlichen Laterne im Rücken, betrat eine schemenhafte Gestalt den Raum. Ich stieß ein desinteressiertes Grunzen aus der Nase und widmete mich wieder meinem Whiskey. Die verdammte Flasche war fast leer!
Ich weiß nicht, welche Zeitspanne von diesem Moment an verging, doch dauerte es nicht lange, so schien mir, bis ich abermals aus meiner Umnachtung gerissen wurde. Der billige, alte Plattenspieler, ein Grammophon, das meinem Urgroßvater hätte gehören können, spuckte die ersten leisen Töne eines Liedes aus, das ich trotz meines Zustandes nur zu gut erkannte.
"Kraft durch Krebs! Krebs macht frei!", hallte es in meinen Gehörgängen wider; es war der blanke Hohn! Ich griff meine Flasche und schleuderte sie laut fluchend gegen das hämisch dudelnde Gerät. Ein Bersten von Glas und Holz, dann Stille. Befriedigung machte sich in mir breit. Ich blickte kurz auf, um mein Werk zu betrachten, von dem die anderen Gäste nicht einmal Notiz genommen hatten; zu tief schwelgten sie in ihrer Ebrietas.
Lediglich der Flaschenhals baumelte unversehrt an der Abtastnadel und bot damit ein Bild, welches mir zu diesem Zeitpunkt nahezu ästhetisch anmutend erschien.
Schwere Schritte in meine Richtung waren plötzlich auf den Dielen zu vernehmen, jeder einzelne ein donnerndes Dröhnen in meiner benebelten Stirn, ein Widerhall wie von Kampfstiefeln, und als ich mich schließlich wieder umwandte, stand eine große, hagere Gestalt vor mir, bleich und in eine schwarze Ledermontur gehüllt, irgendwie unecht, silhouettenhaft. Ein obskurer Typ.
"Bei dir alles in Ordnung?", fragte er mich.
'So viel Anteilnahme. Schade, dass sie mir nichts nutzt!', grummelte ich zynisch in mich hinein, entschied mich dann aber für ein kurz gerauntes: "Nichts ist in Ordnung! Verschwinde!"
Statt dessen verzog der Kerl das Gesicht und setzte sich zu mir an den Tisch.
'Auch gut,' dachte ich mir, jetzt spürbar vom Alkohol angeschlagen: 'Wenn er es nicht anders will, dann soll er sie eben haben, die Geschichte meines Leidens.'.
"Mir geht es derzeit nicht ganz so gut," ergriff ich das Wort, den gesamten Satzkomplex sarkastisch überbetonend, und spuckte dabei abfällig in eine Ecke: "Ich habe Krebs."
Mein Gegenüber nickte nur mitleidig, mit Ansätzen unterschwelliger Belustigung, die ich mir aber in meinem Rausch, meinem Delirium, auch eingebildet haben konnte, und war im Begriff sich wieder zu erheben.
"Was bildest du dir eigentlich ein?!", fuhr ich ihn plötzlich an, sichtlich erbost, sichtlich betrunken: "Du kommst zu mir rüber, ungebeten, ohne dass wir uns kennen, fragst Dinge, die dich nichts angehen, und willst mich jetzt einfach so hier sitzen lassen?!". Ich schlug mit der geballten Faust auf den Tisch um meiner Wut Nachdruck zu verleihen und kleine spreißelartige Splitter gruben sich dabei in mein Fleisch.
Diesmal konnte man ein wirkliches Lächeln ausmachen, das seine Züge umspielte, ein Lächeln von solchem Mitleid, dass es mich erschauderte, dann erzürnte, galt es doch nicht meiner Krankheit, sondern mir selbst. Als er es merkte, bleckte er die Zähne, herausfordernd, provokant, wie ein Raubtier, das sich Respekt verschaffen wollte, im gleichen Moment ähnlich einer Hyäne gegenüber dem tödlich Verwundeten, dem Haufen potentiellen Aases, und dabei doch so ironisch, als wüsste sie, dass in absehbarer Zeit nichts von ihm zu holen wäre.
"Willst du dich über mich lustig machen, Kerl?! Über mein verdammtes ... Martyrium?!", schrie ich ihn an, die Stimme kratzig, rauchig, sich überschlagend, von infantiler Vehemenz, ihn auf Reaktion hin musternd; nun verzog er keine Miene. Er widersprach mir aber auch nicht, nein, statt dessen antwortete er gelassen: "Es gibt schlimmeres. Du wirst nicht sterben."
Meinte er das ernst?
Ich lachte aus vollem Halse, bitter, höhnisch, lachte, weil ich am Boden angelangt war, lachte, weil dort für mich keine Hoffnung mehr bestand, lachte, weil er mir auf naive Weise optimistisch schien.
Als ich mich beruhigt hatte, war er verschwunden.
Ich gab mich wieder ganz meinem Selbstmitleid hin, ließ meine Existenz Revue passieren, dachte an meine Sibylle und all die Frauen, die ich vor ihr liebte. Doch nur eine war mir wirklich in Erinnerung geblieben, nur eine hatte einen Platz in meinem Gedächtnis ergattern können.
Ihr Name war Petra und sie war die erste; sie nahm mir meine Unschuld und führte mich zu neuen Sphären - Sphären so unbegreiflich für den normalen Menschenverstand, für den durchschnittlichen Kleingeist, dass es mich lachen machte.
Ich traf sie damals auf dem Straßenstrich, als sie sich unter fahlem Laternenschein in Lack und Leder den Passanten feil bot. Bis heute ist mir unbegreiflich, wie sie sich damit über Wasser halten konnte. Sie als fett zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus, für den es keine Worte gibt, die ihm auch nur im entferntesten gerecht werden könnten. Petra war ein lebender Fleischberg, ein amorpher Haufen überschüssiger Kalorien, ein wandelndes Fettreservoire, das von sich selbst länger hätte zehren können, als dass ihre Cholesterinwerte sie am Leben gelassen hätten. Und das war es, was mir so gut an ihr gefiel!
Als ich sie ansprach, wusste ich nicht, welche Seite ihres massiven Körpers sie mir gegenwärtig zuwandte. Erst als sie sich ein Stückchen herumdrehte, unendlich langsam, bebende Speckschürzen in Bewegung setzend und doch bedacht darauf, ihr Wabern einzudämmen, um nicht von der Wucht des eigenen Gewichtes zu Boden gerissen zu werden, und mir aus dem Loch in dem Ding, das eigentlich ihr Gesicht darstellen sollte, so die überdehnte Haut es noch in Form hätte halten können, ein paar Worte zurülpste, wusste ich, wo vorne und wo hinten war.
Ich nahm sie mit nach Hause, ließ sie ihren mutierten Leib, genau wie den übelriechenden Schweiß, der in regen Strömen aus ihren Klüften floss, über mein Bett ergießen und machte mich ans Werk. Doch es sollte nicht das in sie dringen, was die Kurtisane erwartet hatte...
Den ersten Einschnitt spürte sie gar nicht, der Schmerz erstarb irgendwo in den undurchdringlichen Wülsten ihres Fettgewebes. Beim zweiten Mal schnitt ich tiefer, versank mit dem halben Arm in ihrem Bauch, der sich um ihn herum festzusaugen schien. Nun musste sie etwas gefühlt haben! Sie grunzte erschrocken auf, versuchte sich aus dem ächzenden Bett zu erheben, barg jedoch nicht die nötige Muskelkraft, um sich selbst herauszuhieven. Statt dessen wurden ihre Speckringe in wellenartige Bewegungen versetzt, sich stetig weiter aufschaukelnd, gleich einer regelrechten Tsunami aus Fett, die ein mörderisches Eigenleben führte. Verzweifelt versuchte ich mich von ihr loszureißen, aus Angst, ich könnte in ihrem Gewebe ertränkt werden; doch ich hatte keine Chance! Mein Kopf wurde zwischen ihre Falten gequetscht und ich spürte, wie sich alte Talgablagerungen in meinem Gesicht verteilten, glitschige Ausdünstungen meinen Geruchssinn emporkrochen; der Atem stockte mir, scharfe Galle verätzte meinen Rachen, zog Fäden, Galle von solcher Bitterkeit, dass es mir tiefe Stiche versetzte, als ich sie herunterzuwürgen suchte - der Erstickungstod schien nicht mehr weit. Endlich schaffte ich es, die Hülle zu durchbrechen, pflügte mit meinem Skalpell durch ihren Bauch, kämpfte wie ein Wahnsinniger um mein Leben. Blut sprudelte in Massen um mich herum, verstopfte meine Nase, verklebte meine Augen, flutete meinen Mund, meinen Magen, köstliches Blut, lukullisch, rein! Ich rammte meine Faust in den Einschnitt, bekam in der Wunde etwas zu packen, hörte trotz der dicken Schicht aus Fleisch, die meine Ohren umgab, ein tiefes, qualvolles Stöhnen, und entriss, was ich gefunden hatte. Mit einem Schlag ließ der Widerstand nach und ich katapultierte mich selbst von ihr hinunter, landete unsanft auf dem Fußboden, das Ding noch immer in der geballten Faust haltend.
Ich rieb mir das Blut aus den Augen, blinzelte mehrmals, keuchte, hechelte nach Sauerstoff und gewahr den fleischigen Strang, der sich von ihrem Körper aus bis in den festen Griff meiner Hand fortzsetzte; es war ein Teil ihres Dickdarms.
Ihr elendiges Winseln und ihr schwerfälliger Atem, der pfiff, als stünde die Lunge am Rande der Zerquetschung, holten mich nach diesem surrealen Anblick zurück in die Wirklichkeit. Sofort war ich über ihr, legte die Schlinge um ihren wulstigen Hals und begann, die Luft abzudrücken, strangulierte sie mit ihrem eigenen Darm.
Ihre Augen quollen aus dem klobigen Schädel, die Zunge hing schlaff herab, triefend von Speichel, nur manchmal noch war ein spastisches Zucken ihrer übermäßigen Rundungen zu vernehmen. Blau-lilane Quetschungen zeichneten sich an den Stellen ab, die ich umschlungen hielt. Es dauerte nicht lange und sie war tot.
Obwohl Form und Dicke ihres Stiernackens nun wieder einigermaßen vorstellbare Maße angenommen hatten, war sie nicht durch die unterbrochene Luftzufuhr gestorben; der Schock hatte einen Herzinfarkt verursacht!
Das alles war vor vier Monaten geschehen, einer Zeit, in der ich Gerichte mit Speck zu schätzen lernte, und bis ich Sibylle traf, kamen noch drei weitere... Doch mit ihnen erhielt noch etwas anderes Einzug: es war der unsägliche Kopfschmerz, der mich plagte, die Übelkeit, das morgendliche Erbrechen, mit einem Wort: der Tumor! Und mit jedem Mal wurde es schlimmer.
Jetzt verstand ich, was mir dieser seltsame Kerl hatte sagen wollen...
Ich erhob mich aus meiner Sitznische, knallte dem Wirt zwanzig Euro auf den Tresen und verließ die Kneipe, hinaus in die kühle Dunkelheit, die schneidende Frische der Luft genießend.
Ich hatte eine Entscheidung gefällt, eine Entscheidung, die meiner kleinen Sibylle nicht sehr zusagen würde. Heute Nacht würde unsere Beziehung enden, heute Nacht würde ich sie verlassen und mir eine neue Freundin suchen. Ich musste ihr nichts mehr sagen, denn es gab nichts, was sie noch hätte wissen müssen. Ich würde nicht sterben; jedenfalls noch nicht, denn es gab noch genug für mich zu tun.
Als ich den Weg nach Hause einschlug, begannen die Metastasen in meinem Schädel wieder zu pochen, zu drücken und zu dröhnen, wie sie es immer taten. Doch jetzt störte es mich nicht mehr, im Gegenteil, es gab mir Kraft, und wenn der Krebs weiter wucherte, würde sie unerbittlich, unermesslich weiter ansteigen, weiter, weiter, immer weiter, denn . . . das Geschwür ... bin ich!