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Das Gesindehaus
Ein Anruf mit Folgen.
Marten tauchte aus seinem Traum, nahm das Klingeln bewusst wahr und hasste diesen Tag, bevor er begonnen hatte. Einen Kölner Stadtteil und einige Minuten weiter hatte auch Binta zu kämpfen. Sie hörte den Ton, riss die Augen auf, sah das blinkende Display und verfluchte alle Erfinder dieser Welt.
Die Stimme klang fröhlich: hier Sezak - ach, in Deutschland erst 4:30 Uhr - Tschuldigung - gerade auf Dreh unterwegs, andere Zeitzone - ja, ja, die Medienleute, haha - nur sicher gehen, dass ihr dabei seid - übermorgen wieder in Köln - am Samstag gehts um 12:00 los - gute Woche noch - adé.
Sezak hieß mit vollem Namen Sezak von Breyhauf, genannt wurde er Sebbi. Er, Marten und Binta waren lose befreundet, man traf sich auf öffentlichen Partys oder bei gemeinsamen Freunden. Bei einem lauschigen Grillfest hatte Sebbi die beiden zur Seite genommen.
Sezaks Stimme klang ruhig und überzeugend: "Ein Spezialprojekt. Es gibt da ein Schloss im Hintergrund, alter Familienbesitz in Süddeutschland. Marten, du bist doch Experte für Hausauf- und Umbauten, Renovierungen und so. Und Binta, du als Architektin und Kennerin maroder Bauprojekte ... perfekt. Ich will das Anwesen irgendwann übernehmen. Vielleicht. Das Schloss selbst ist gut in Schuss, nur ein Nebengebäude macht mir Kopfzerbrechen. Ein Gesindehaus, oder was in der Art - steht unter Demkmalschutz. Könnt ihr beide euch das mal anschauen? Eine lustige Fahrt ins Grüne! Sozusagen mit professionellem Hintergrund. Ey, soll euer Schaden nicht sein!"
Damals hatten Binta und Marten kaum drüber nachgedacht. Weder über die Sache selbst, noch über das, was ihr "Schaden nicht sein" sollte. Ein einfaches Kopfnicken bei Marten entsprach seiner lakonischen Art und war so gut wie eine Händedruck mit Brief und Siegel. Binta hielt ihren hübschen Kopf etwas zur Seite geneigt, kramte kurz in den Tiefen ihrer Neugier. Am Ende war sie ihren Instinkten gefolgt: und hatte mit strahlendem Lächeln zugesagt.
Der Anruf heute Morgen machte beide unruhig. Binta holte sich einen Kaffee, Marten tat das, was er bei Unruhe immer tat: er onanierte.
Bei beiden hatte der Anruf eine Vorahnung hinterlassen. Wie eine Wolke, in deren Inneren etwas wartete, das ihre Vorstellungskraft leicht übersteigen konnte.
Am Samstag sammelte Sebbi die beiden ein. Binta war über dreißig, Marten über vierzig, beide beruflich routiniert und erfahren. Sie machten ihre Jobs seit langem - und gut.
Binta hatte ihren schlanken Körper in Jeans und Baumwollhemd gekleidet, Martens breite Schultern steckten in einem T-Shirt, auf dem das verblasste Logo der Ramones zu erkennen war. Sebbi saß am Steuer und trug Baggyjeans und Poloshirt. Für einen Adligen mochte das ein ungewöhnliches Outfit sein, es traf jedoch Sebbis Lebensstil als Sportjournalist, Hobbymusiker und Partygänger.
Nach mehreren Zwischenstopps waren sechseinhalb Stunden vergangen und der Skoda Octavia bog in die Allee. Prächtige Ross-Kastanien säumten den Weg, der auf das Schloss zu führte, die Dämmerung goss Grautöne über Bäume, Wiesen und Gemäuer. Giulia und Luca, zwei drahtige Hausangestellte in den Sechzigern, begrüßten die Besucher herzlich, während die Abendluft würzig über alte Mauersteine und Treppen strich.
Schon bald saß das Trio an einem Holztisch vor dem wuchtigen Kamin, in dem die Scheite glühten.
"Giulia und ihr Mann Luca stammen aus dem Po-Tal der südlichen Lombardei", erklärte Sebbi, "macht euch auf was gefasst." Wie Recht er hatte.
Zu Risotto alla milanese, malfatti und asparagi alla parmigiana - Safranreis, Spinat-Käse-Nocken und überbackenem Spargel - gab es kühlen Moscato in dickglasigen, ovalen Karaffen; es folgten fegato alla veneziana, scaloppine al limone und vitello al latte - Kalbsleber mit Zwiebeln, Kalbsschnitzel und Kalbsbraten in Milch, dazu ein rundroter Oltrepò Pavese. Den Abschluss bildete monte bianco, Kastanienpüree mit Sahne, eine lombardische Spezialität. Ihr sage man potenzsteigernde Kräfte nach, Sebbi lächelte und zog beiläufig eine Turbonegro-Kutte über das Poloshirt. Er sei ja schließlich Vorsitzender des Uruguay-Fanklubs der Rockband, seine Stimme bekam plötzlich einen etwas härteren Klang.
Binta und Marten fühlten sich genussvoll erschlagen, doch schon der anschließende, angebliche Grappa die Gavi (seit wann haben Grappas grünliche Farbe, ging es Binta durch den Kopf) schoss die beiden zurück in einen Zustand erhitzter Klarheit. Sebbis Stimme schien nun wie von weit entfernt zu kommen, doch dafür begannen die Bilder so weit hervorzutreten, dass die Konturen von Kamin, Steinwänden, gerahmten Familienportraits und antiken Vitrinen sich fast überlagerten.
"Wir gehen jetzt noch schnell rüber, ich will euch das Projekt unbedingt zeigen", seine Stimme war nun kaum mehr zu hören und hatte sich stattdessen als schillernde Schrift in Bintas und Martens Bilderstrom integriert. "Hör mir auf", sagte Marten leise, "ach, hör mir doch auf", dabei lächelte er mit Falten auf der Stirn. Binta nickte nur und rückte mit ihrem Stuhl vom Tisch.
Das Gesindehaus lag im Halbdunkel, umrahmt von dichten Büschen und Bäumen. Ein wilder Garten ersteckte sich vor der Veranda, die mit ihre hölzernen Bodenplanken und Säulen ein wenig nach Südstaaten-Kulisse aussah.
"Willkommen an einem besonderen Ort", Marten meinte den schmierigen Mexikaner aus From Dusk till Dawn zu erkennen, nur dass der Titty-Twister durch das verfallene Gesindehaus ersetzt worden war. "Horse-pussy, chicken pussy, smeeeelly pussy", Marten kicherte, riss ein Blatt von einem Zweig und reichte es Binta. Die begann wie selbstverständlich darauf herumzukauen.
Beide fanden sich kurz darauf in einem langen Gang wieder, von dem links und rechts jeweils drei Zimmer abgingen. In den Mief von Holzfäule und Teppichschimmel mischte sich ein stechender alkoholischer Dunst.
"Absinth", sagten Binta und Marten gleichzeitig, blickten sich an und mussten lachen. "Contenance", Sebbis Stimme hinter ihnen klang dumpf. Seine Gestalt war gerade noch im verzogenen Türrahmen neben einer gesplitterten Tür auszumachen, nach einer auffordernden Geste Richtung Zimmertüren drehte er sich um. Die Buchstaben der Kuttenaufschrift "Turbonegro" leuchteten grell auf, dann waren Schrift und Kutte verschwunden. Binta und Marten zuckten die Schultern und betraten gefasst das erste Zimmer.
Nach der Tür müssen die beiden einen eisernen Zaun übersteigen. Ein verlassenes Schwimmbad, sie wandern durchs Becken, wasserlos bei Vollmond, nur Leonard Cohens Stimme singt von der Nacht, in der er sich nicht umgebracht hat. Alle sind glücklich über einen Schlüssel zum Spind, in dem ein Pin-up der Zeit hängt.
Aus dem Nichts der zweite Raum, in dem heißer Staub durch Stunden, Tage, Jahre wirbelt. Ein Kaktus, übersät mit den winzigen Schnitten ewiger Kämpfe, reckt seine Arme in den Himmel, die kantigen Töne einer Gitarre wehen schwermütig über das Blechdach der flachen Hütte am Rande des Wasserlochs. Ein bärtiger Mann sitzt auf einem Schemel, ängstigt sich nicht, lächelt nicht, denkt an nichts, den Blick in die Weite gerichtet, neben sich ein leerer Hocker; eine Frau nähert sich mit wehendem Haar, trägt einen Wassereimer und stellt ihn vor der Hütte ab, verschwindet wortlos zwischen verrosteten Blechwänden. Der Mann steht auf, beugt sich über den Eimer, im Wasser verschwimmen seine Gesichtszüge, es sind die von Binta und Marten.
Sie greifen ins Wasser, ein riesiger Fisch windet sich, sie können ihn kaum aus dem Eimer heben. Das Gewicht wird unerträglich, der Fisch gleitet aus ihren Händen, fällt und versickert im Sand. Die Frau steht vor ihnen, "der Ofen ist an", sagt sie. Beide seufzen und setzen sich mit schmerzender Brust auf die Schemel. Ganz hinten, am Ende der Ebene, schwebt ein dunkler Strich am Himmel und wird langsam größer. Binta und Marten lächeln schmal, nehmen die Gitarre auf den Schoß und halten sie fest wie ein kleines Kind.
Im dritten Zimmer ein Mann, er sagt, man nenne ihn Fargo. Er kommt wohl immer in diese Bar, wenn die Pfützen das erste Neonlicht fangen, seine Augen zwei Kinder, die im Schatten sitzen. Nach dem ersten Glenlivet spricht er immer über Regen, nach dem letzten von seiner Tochter, dazwischen stützt er still das Kinn die Hände. Heute streiten zwei Männer in Uniform über Bosnien, Wahrheit und Gerechtigkeit. Fargo bestellt zwei Bier, stellt sie vor ihnen ab, sagt, die gingen auf seine Tochter, zieht sich den Mantel eng um die schmalen Schultern und tritt hinaus in den Regen.
Der nächste Raum. Binta und Marten stehen vor einem Tonbandgerät. Binta drückt die Play-Taste. "Ich sammle doch nur" knistert es aus einem gesprungenen Lautsprecher.
Laternen reißen über den Straßen Löcher in die Nacht, eine Wand aus Reklamepüppchen strahlt jede Regung in den Keller, die Rückleuchten einer Limousine bluten in zerrissenes Wasser, an den Rändern wandern, gebückt und in glänzendes Plastik gehüllt, die Zerschlagenen und Zerschlissenen, auch heute Nacht bereit für das große Spiel um nichts und alles; "ich sammle doch nur";
Als könnten sich Hände tatsächlich an Gefühl festhalten, als wäre in den Bläschen der Drinks tatsächlich sowas wie Freude, als wäre auch Einsamkeit hochprozentig, so füllen sie sich erneut, die Clubs, die Pop- und Piss-Spelunken, die beiden mittendrin; "ich sammle doch nur."
Dann dieser Moment, den einen Song im Ohr, der sie seit Jahren begleitet, bei dem sich beide in eine Pfütze knien wollen, die Arme erhoben, ihnen die Nacht, ihr Herz, ihr Weg auf einmal entgleiten, als beugte sich das Leben über sie, nähme ihre Hand, flüsternd, "Ihr gehört mir, durch den Gestank, durch die Hässlichkeit, doch wir werden große Zeiten haben", sie gehen die Treppe nach unten, lassen sich in weiße Arme fallen, die nur auf sie gewartet haben;
"Ich sammle doch nur die Scherben einer Glühbirne, die nie etwas anderes beleuchtet hat, als den Ölfilm auf diesem Lichtschalter." Der Lautsprecher wird immer leiser und endet mit einem lauten Knacken.
In Raum fünf ein Auto. Es rollt nachts durch ein Industriegebiet, vorbei an stillgelegten Fabriken, an verrosteten Maschinen, an Wagons ohne Schienen, hält an, ein Mann steigt aus, geht zum Kofferraum, nimmt eine Krawatte heraus, lässt sie in eine Blechtonne fallen, schüttet Benzin darauf, zündet ein Streichholz an, wirft es hinterher, blickt starr in die Flammen, steigt zurück ins Auto, fährt nach Hause, legt sich ins Bett und träumt den heldenhaftesten Traum seines Lebens.
Ein Flugzeug landet nachts auf einem ausgestorbenen Flughafen, vorbei an leeren Terminals, an brüchigen Scheiben, an Stahlträgern mit Rissen, rollt aus, eine Frau steigt aus, geht die Gangway hinunter, greift in ihre Handtasche, zieht sich die Lippen nach, hebt eine Schiebeleiter vom Boden, lehnt sie ans Triebwerk, drückt einen Kuss aufs Metall, begutachtet den Abdruck, steigt in ein Taxi, fährt nach Hause, legt sich auf die Couch und sieht den romantischsten Film ihres Lebens.
Ein Kind läuft im Sonnenlicht durch saftiges Gras,
vorbei an flüsternden Bächen, an sanften Hügeln, an erhabenen Bäumen, legt sich hin, träumt von einer Mutter, die es in ihren Armen hält, von einem Vater, der Geschichten erzählt, wacht auf, steigt über eine Luke in einen Raum und bleibt einsam, bis es stirbt.
An der letzten Tür ein Messingschild: "Banana Vagina". Binta und Marten treten ein.
Vor ihren Augen ein Barmann: "Ey, ich trinke nur noch Cola bis zum Pimpermorgen, ja, man muss doch fit sein dieser Tage; aufgedunsene Worte, doch hier und jetzt macht das nichts, die Schärfe liegt im Auge des Schlachters, sie sind willig, die Opfer der Nächte, können so schrecklich gescheit reden, bestellen und Sätze wie bunte Cocktails, klingen und schmecken nach Fruchtsaft; ja, meine Kleine, ich hab noch einen für dich, er heißt Banana Vagina. Wisst ihr, das Glockenlachen der Frauen kann sie nicht verhindern, die Ratlosigkeit um die Hüften der Nacht, als hätten sie schon zu viel gesehen, zu dieser Zeit; vielleicht hätte der Weg zum Kanal nicht sein müssen, vielleicht war der eine Joint zuviel für sie, mein Herz, wir werden das wieder gerade rücken, so gerade, wie eine Elton-John-Kerze im Wind;
Heute habe ich einen meiner Tage, fundamentale Irrtümer, ich antenne euch alle, kommt raus ihr kleinen Fakker, Sebbi zum Beispiel, hätte sein Haar besser nicht dort wegschicken sollen, von der Arschkante, die blutergossene Bar an der Ecke Camparstraße, aus der, ja aus der könnte was werden, doch so, wo der Wirt auf Luxusflaneur macht, wer soll klarkommen, auf Loungeorangenhaut; Muschi malt, Pupsi pantografiert, Arschi analondoliert, ich singe und Fuffi fixt, zum Einstampfen angerichtet, all der Firlefanz rund um unsere Pseudokreakakophonie; Verkostungsnotizen aus der Leere des Raums, Denk-mal-Dauerferien in verlassenen Bungalows, selbst von Nachbarn längst vergessen, das Blumengießen; wo das hinführen soll? Zurück zur Arschkante natürlich!“ Seine Stimme klingt fröhlich.
Hinten im Raum ein leuchtender Knopf. Binta drückt, eine Tür gleitet auf.
Im Zug ein Sitz, die Augen draußen, bei fliegenden Bäumen, schwimmenden Mauern, Stränge, Bahnen, Linien, die sich ziehen, endlose Fäden ins Irgendwo. Es fliegt heran, unverhofft, außen am Fenster, schwebt, bleibt auf gleicher Höhe, Augenhöhe, Herzhöhe zuletzt.
Gestatten, ja, man gibt mir viele Namen, ich mag das Trommeln der Pferde; komm, auf diesem Sitz drüben, die schöne Masira, weißes Kleid, ein langes, erfülltes Leben, wie man so schön sagt, vier Kinder, ein Mann, der sie liebte - und pflegte, als es mit Krebs zu Ende ging; komm, daneben, Mike, fünfzehn war er damals, rotes T-Shirt, hatte noch zwölf Jahre, eine Autobombe in Afghanistan, nein, nein, er hat alles richtig gemacht, falsche Zeit, falscher Ort.
Ein kühles Lüftchen weht ihnen über die Arme, nein, von innen durch die Knochen, ein Streifen Schummer gießt dunkle Farbe über die Sitze, Hunger haben sie keinen, Minzdrops, die in ihren Adern treiben.
Machen wir weiter; komm, traurig war das mit Zinko, schwarzer Anzug, Börsenmakler, immer unterwegs, immer gehetzt, tja, die liebe Geschwindigkeit, noch bei den letzten Schritten auf der Suche, nicht angeseilt, haha, diese Schlucht unter glattem Schnee, der so sicher wirkte.
Ein Rauschen von vorn, sie begreifen langsam, gegenüber die junge Frau mit den tiefen Augen, das Geräusch von vorn wird lauter, wie eine Welle, die ein Tanker vor sich her schiebt, doch das hier ist kein Wasser, nur die Schienen, auf festem Land, ein fester Grund, ein fester Kurs.
Komm, direkt neben dir - seine Stimme ist jetzt gut gelaunt -, im fahlen Kittel, ein Künstler, sah sich am liebsten selbst mit den Augen der Anderen, fand sich nicht übel, außer in den Momenten, als er ahnte, wie wenig er aus allem machte, immer das Drüben im Auge, hach, was für ein übler Scherz, ein übles Ende, mit einer Entschuldigung auf den Lippen, unentdeckt wie das Gerinnsel zwischen endlos verästelten Flüssen.
Das Splittern treibt in Diagonalen durch den Gang, all diese Teilchen, glänzend, kräftig und scharf, das Metall folgt, stärker, härter, eine Wand, die auf sie zurückt, diese Augen vor ihnen, sie wissen längst, zwei Galaxien, zwei Wälder, in denen Bäume stehen, zwischen denen sie reiten, der flächige Klumpen, gepresst aus Material und Fleisch, umarmt sie, die Welt, ihre Welt und alle Lügen, ja, es ist wohl gelogen, auch die Hälfte verschweigen bleibt gelogen, und längst, längst schon, sind sie in jenen Wäldern zerrauscht.
Köln, ein Telefon klingelte. Einen Stadtteil und einige Minuten weiter klingelte ein anderes. Es war Samstag, eigentlich sollte es heute losgehen nach Süddeutschland. "Seid mir nicht böse", sagte Sezak von Breyhauf. "Die Sache hat sich erledigt. Das Gesindehaus ist abgebrannt."