Das Glück
Und so saß die junge Frau am Kamin, ein Kleid in der Hand und stickte. Um sie herum saßen die Kinder, Frauen und die Männer. Sie alle lauschten andächtig, während sich die melodische Stimme dieser Frau erhob und fragte: „Was für eine Geschichte soll ich euch erzählen? Eine lustige? Eine traurige? Eine abenteuerliche? Oder eine romantische?“
Die alte Hausherrin entschied diese Frage: „Heute ist kein Abend für Abenteuer oder Spaß. Erzähl uns etwas trauriges, Kind. Um die Geister unserer Toten zu ehren.“
„Nun gut,“ so begann sie ihre Geschichte. Niemand würde es mehr wagen, sie zu unterbrechen bis die Erzählung zu Ende war. Viel zu gebannt waren alle von dem was sie hörten.
„Vor noch gar nicht allzu langer Zeit kam ein junger Mann in diese Gegend. Er war weder reich, noch stark oder gut aussehend, aber er hatte Herz. Wenn er seine Stimme erhob, um von dem Leben des Adels zu singen, schien es den Zuhörern, als wären diese hohen Leute wirklich anwesend. Und wenn er von den Gefahren der Helden sang, bekamen sie eine Gänsehaut. Nur manchmal konnte man sehen, wie sich der Blick dieses jungen Barden verschleierte. Dann sah er weit in die Ferne, ohne wirklich etwas war zu nehmen. Großes Leid war ihm geschehen. So groß, dass er nicht in der Lage war darüber zu sprechen oder zu singen. Selbst wenn da jemand gewesen wäre, ihm zu zuhören.
In solchen Augenblicken kam es vor, dass ein ganzer Raum um ihn herum verstummte. Welche Narben waren es, die einen jungen Mann derart quälten? Was hatte ihn so früh altern lassen, dass ihn die Aura der Weisheit umgab. Eine Aura, die nur den Alten zusteht.
Niemand wusste woher er kam, oder wohin er ging. Und das war gut so. Archibald, so hieß der Barde, war verflucht. Sein Fluch war der schlimmste von allen. Das Glück...“
Ein raunen ging durch den Saal. Das Glück? Seit wann war Glück ein Fluch?
„Ihr habt richtig gehört. Der Fluch Archibalds war sein Glück. Nicht das Glück, das aus tiefstem Herzen kommt, nein. Archibalds Glück beschränkte sich auf das Äußere. Was immer er tat, es gelang ihm. Suchte er eine Hütte zum Nächtigen, so fand er sie. Sehnte er sich nach der Nähe einer Frau, so fand sein Sehnen schon bald Erfüllung. Lief er Räubern über den Weg, so luden sie ihn ein, ihnen zu singen. Wo immer er auch hin kam, sein Glück war schon da. Welchen Weg er auch einschlug, sein Glück folgte ihm. Es wäre nicht weiter schlimm gewesen, wäre es nicht so, dass sich das Glück nur auf ihn beschränkte.
In einer Gruppe von Menschen war nur er es, dem alles gelang. Es schien sogar so, als sauge er den anderen Leuten das Glück ab. Bald fühlten sich alle Menschen in seiner Umgebung unwohl, weil ihm immer alles glückte, sie aber vom Pech verfolgt schienen.
Als Kind war Archibald ein lieber offener Junge. Seine Familie war zwar arm, aber er war von Liebe umgeben. Für sie wünschte er sich, dass es ihm immer gut gehen solle, damit er sich um sie kümmern konnte. Das hörte ein zerlumpt aussehender Mann auf der Straße. ‚Was würdest du dafür geben, immer Glück zu haben?’ Fragte er. ‚Alles.’ Platzte es Archibald heraus, denn hätte er Glück, so ginge es ihm gut und er könnte anderen helfen.
Aber seine ganze Familie viel einer schrecklichen Seuche zum Opfer. Vater, Mutter, die Geschwister, sogar die Großeltern starben. Nur er überlebte. Damals fing sein Glück an. Man nannte ihn Glückspilz.
Ein paar Jahre später hatte er eine Tischlerlehre hinter sich, natürlich war er der Beste unter den Lehrlingen gewesen. Archibald heiratete eine junge Frau, sie war liebevoll, schön und gütig. Natürlich war er glücklich und sehr verliebt. Seine Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn. Ein prächtiger kleiner Kerl.
Aber in Archibalds nähe verloren seine Frau und sein Sohn ihre Lebenskraft. Sie wurden von Krankheiten und Unfällen verfolgt. Archibald hatte all ihr Glück in sich aufgenommen und nichts für seine Familie gelassen. So starben beide schon bald.
Für Archibald war es eine Katastrophe. Er konnte sich nicht erklären, warum alle Menschen in seiner Umgebung so unglücklich wurden. Der Verlust seiner Familie ließ ihn gebrochen zurück.
Und dennoch hatte er noch immer Glück. Archibald zog durch die Lande und verdiente sich was er zum Leben brauchte durch singen. Nie ließ er sich irgendwo nieder, denn blieb er zu lange, so wurden seine Nachbarn irgendwann neidisch auf ihn, da er immer im Sonnenschein zu wandeln schien.
Nach dem Tod von Frau und Kind hatte Archibald versucht sich das Leben zu nehmen. In seiner Trauer wollte er nur noch mit ihnen zusammen im Grab liegen. Er suchte sich eine felsige Klippe am Meer. An ihrem Fuße ragten spitze Felsen aus dem Wasser, wie riesige Pfähle, die nur darauf warteten ihn aufzuspießen. Diese Klippe stürzte Archibald sich hinunter, doch sein Glück verließ ihn nicht. Er traf genau an der einzigen Stelle aufs Wasser, die tief genug war, seinen Fall abzufangen, keine der vielen Felsennadeln fügte ihm auch nur einen Kratzer zu.
Doch so schnell wollte sich Archibald nicht geschlagen geben. Wenn sich die Natur gegen ihn stellte, so würde er einen anderen Weg finden. Er besorgte sich ein starkes Seil und schlang es um einen stabilen Ast im Wald. Daran erhang er sich. Doch weder Seil, noch Ast schienen gewillt, Archibald zu tragen. Das Seil riss, der Ast brach und Archibald saß auf dem Waldboden und fragte sich resigniert, womit er ein solches, an Pech grenzendes, Glück verdient hatte.
Seitdem zieht er durch die Lande, vom Glück verfolgt, dazu verdammt, ewig allein zu bleiben, wenn er nicht ganze Dörfer ins Unglück stürzen will. Sein Fluch begleitet ihn. Was immer er braucht, wird er finden, wo immer er hin will, wird er ankommen. Doch immer allein, denn niemand würde lange in seiner Nähe überleben.
Doch sagt mir selbst, ist es nicht traurig? Wahres Glück, wird Archibald nicht finden, denn seine Seele muss einsam bleiben. Bis eines Tages ein anderer kommt, der ihm seine Last abnimmt, weil er sich Selbst das Glück wünscht.“