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Das Gold des Drachen
Wie an jedem Nachmittag fiel der Regen in dichten Schleiern zu Boden. Am Rande des großen Klippenwaldes war erst vor wenigen Jahren eine kleine Siedlung entstanden, ein Sammelpunkt für Jäger, Forscher und Schatzsucher. Die meisten Holzhäuser waren bereits morsch, der tägliche Regen und die feuchtwarme Luft setzten ihnen mehr zu, als die unfreiwilligen Neuankömmlinge je erwartet hätten. Trotzdem zeugten die rechteckigen Blockhäuser vom Stolz ihrer Besitzer, die dem unwirklichen Klima auf der ansonsten menschenleeren Insel trotzten. In der Gaststätte ›Zur Schimmernden Schärpe‹, die im Dorfzentrum stand und das einzige Ziegelhaus war, dachte ein junger Mann über seine Lage nach, während er auf seine gebratene Vogelbrust in Rahmpilzsauce wartete. Im flackernden Schein der Fackeln sah er mißmutig auf die Wandteppiche, die das Schiff darstellten, durch das sie alle hierher verschlagen worden sind. Es war ein Sturm wie jener, der gerade draußen tobte und an den Fensterläden riß, der sie vom Kurs abgebracht und an die felsigen Küsten dieses Eilands geworfen hatte. Diesem sagenumwobenen Ort, den ganze Generationen vor ihnen gesucht hatten, in allen Teilen der bekannten Welt. Er war gefunden worden, aber niemand jenseits des allumfassenden Meeres wußte davon. Tag für Tag machten sich Gruppen auf, um in den tiefen Wäldern nach Pflanzen zu suchen, deren Säfte Holz vor dem Verfall schützen würden, denn bisher verfaulten die reparierten Schiffsbereiche genausoschnell, wie sie geflickt worden waren.
Zuerst hatte auch der nun einsam im Speisesaal sitzende Mann zu den Kräutersuchern gehört, allerdings verfolgte er mittlerweile eigene Ziele und streunte in den trockenen Stunden in eigener Sache über die Insel. Riesige Krallenabdrücke in zu Stein gewordenem Flußschlamm, zu Glas geschmolzener Sand, riesige Viehherden auf der anderen Inselseite und die zwar selten, jedoch überall zu findenden Goldstücke ließen in ihm keinen Zweifel: Kalarestrôr, der große Blauwyrm aller Legenden, mußte irgendwo hier seinen versteckten Hort haben. Jener Drache, der vor Jahrtausenden alles Gold aus dem riesigen Reich Sordand gestohlen und Knechte wie Ritter und selbst den König verarmt zurückgelassen hatte. Auf der Münze, die er nachdenklich vor sich auf dem Tisch liegen hatte, war sogar noch der Kopf des vor über tausend Jahren verstorbenen Königs Endirríl von Sebston abgebildet und erkennbar. Außer Glücksfunden, welche an jedem Ort der Insel möglich waren, war bisher jedoch nichts gefunden worden - weder der Hort, noch ein Mittel gegen die Holzfäule.
Die Tür öffnete sich, und ein völlig durchnäßter Mann kam herein. Er trug einen langen Mantel und hatte eine Kapuze übergeworfen, darunter quollen seine langen, schwarzen Haare hervor und von Bartstoppeln flossen kleine Sturzbäche herab. In der Hand hielt er einen Leinensack, in dem sich die Umrisse einer melonengroßen Kugel abzeichneten. »Hier bist du, Selchór!« sagte der neu hinzugekommene Mann. »Kannst du nicht einmal da sein, wo du eigentlich sein solltest? Immer müssen andere hinter dir herlaufen, und das durch dieses Mistwetter! Mein Schwert ist bald nur noch ein einziger Roststab, wenn es so weitergeht. Demnächst kann ich wohl mit 'nem Ast die Rinder und Hühner hüten, dafür gibts du mir jetzt was aus!«
»Themero, was führt dich überhaupt her?« fragte Selchór und zeigte auf die Bank an der gegenüberliegenden Tischseite.
»Na dein komisches Steinchen! Es gibt Geräusche von sich.« antwortete Themero. »Du wolltest es ja sofort gebracht haben, sobald sich was tut. Tja, nach den ganzen Monaten zwar etwas spät, aber trotzdem! Oder schon das Interesse verloren? Was ist das überhaupt für ein Ding?«
»Der Schlüssel zu unermeßlichen Reichtum.« antwortete Selchòr und schob sich eine aschblonde Haarstähne aus dem Gesicht. »Selbst von dieser Insel kann es uns herunterbringen, wenn ich mich nicht sehr täusche und alles schiefläuft. Im Bergmoor auf der anderen Seite fand ich es, zurückgelassen und zum Tode verurteilt.«
»Das ist ein Felsen, kein Lebewesen.« sagte Themero, indessen nahm Selchòr es aus dem Leinensack. Die Oberfläche war schiefergrau und rauh, grüne Schlieren zogen sich darüber und einige blaubraune Kristalle wuchsen darauf. Innern erklang ein leises Klopfen und Rascheln. »Ist das irgendeine Art Magie?«
»Gewissermaßen. Eigentlich sehen sie normalerweise ganz anders aus, dies war lange im Moor versunken und ohne eine danebenliegende Münze samt anderer Schalen hätte ich es glatt übersehen. Jetzt bin ich mir sicher, das ist ein Drachenei, und gleich schlüpft es. Du solltest zurücktreten, ich muß ihm wohl ein wenig helfen.« entgegnete Selchòr. Aus seinem Gürtel zog er einen rostüberzogenem Kurzdolch und begann, vorsichtig die Oberfläche einzukratzen, bis er kreisrund einen Ring hereingeritzt hatte. Langsam nahm er den so entstandenen Deckel ab, wenige Momente später lugte ein kleiner Drachenkopf hervor. Dunkelblau wie das Meer, die Augen verklebt und gefärbt wie dumpfes Eis schnappte er nach Luft und entblößte dabei spitze Zähne, die auf Selchòr wie die abgetrennten Enden von Zahnstochern wirkten. Gurgelnde Laute erklangen aus der Drachenkehle, ehe er nach einigen Atemzügen ruhiger wurde und begann, durch die Nüstern zu atmen, und dabei leise Pfeiftöne von sich gab. Am Hinterkopf waren die ersten Ansätze von Hörnern zu sehen, die jedoch nicht mehr als zwei kaum erkennbare, schwarze Platten inmitten der ozeanfarbenen Schuppen waren. Der Drache versuchte herauszuklettern, warf dabei das Ei um und fiel heraus, vollführte eine Rolle über die Tischplatte und blieb auf dem Bauch legen. Ungelenk streckte er die Flügel, schwang erst einen, dann den anderen und legte sie wieder an. Über seinem Rücken lief ein Doppelkamm aus winzigen dreieckigen, aufgestellten und hellblauen Schuppen, der sich bis zur gespaltenen Schwanzspitze fortsetzte. Gemächlich stand der Drache auf und setzte eine klauenbewehrte Pfote vor die andere, seine Knie zitterten dabei und mehrmals sah es so aus, als würde er stolpern. Langsam und holprig wanderte er so auf Selchòrs Arm zu, kletterte zielstrebig die auf dem Tisch liegende Hand hinauf und hakte sich mit seinen Krallen am Oberarm des blattgrünen Hemdes fest.
»Das piekt!« flüsterte Selchòr, woraufhin der Drache sein Maul öffnete und ein, in den Ohren des Menschen, weinerlich klingendes Gurren von sich gab. Nachdem Selchòr den Nestling einige Atemzüge nur fragend angestarrt hatte, drückte sich dieser an ihn, schloß die Augen und begann, am Stoff des Hemdes zu knabbern. Um den Drachen zu verbergen warf Selchòr seinen Mantel aus gewachster, schwarzer Wolle über. Wie ein kleines Frettchen am Arm zeichnete sich der geschuppte und noch etwas unbeholfene Flieger darunter ab, und sonderlich größer oder schwerer war er ebenso nicht.
»Früh übt sich! Er hat dich jetzt schon zum fressen gern.« sagte Themero amüsiert. »Ernsthaft, wie soll uns dieses Tier helfen? Nur ein weiteres, hungriges Maul. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwer es ist, einen Stall zu verteidigen, wenn die Hühnerdiebe dauernd ihre Schuppenfarbe ändern? Sobald er mit deinem Hemd fertig ist, wird er sich ebenfalls über die Eier hermachen und ich habe den Ärger.«
»Er gehört nicht zu den Krondrachen. Hast du sie dir nur einmal näher angesehen?« fragte Selchòr. »Scheinbar nicht. Ich möchte es so ausdrücken: Kalarestrôr war nicht der einzige seiner Art, dies ist ein Nachkomme von ihm. Genau wie diese Plagegeister wird er vom verborgenen Hort angezogen werden und uns zu ihm führen. Das ist der erste Teil meines Vorhabens. Anschließend ziehe ich den kleinen Kerl auf, bis er groß genug ist um zum Festland zu fliegen und Nachricht über unseren Verbleib zu geben. Bei der Aussicht auf den Schatz hier werden ganze Flotten für unsere Rettung zusammengestellt, versprochen.«
»Du weißt schon, was mit unserem armen Hauptmann passiert ist? Oh, wir sollten später weiterreden!« fragte Themero. Der Koch kam herein, stellte den Teller ab und wartete gelassen ab. »Für mich auch eine Portion und die übliche Reiseverpflegung, für drei Mann.«
Nachts hörte der Regen zumeist auf, dafür schwirrten fingergroße Mücken durch die schwülwarme Luft und Meerwind trug den Geruch von Salz heran. Am Rande des Dorfes saßen zwei Männer, auf der linken Schulter von einem ruhte ein kleiner Drache, dessen Kopf bei jeder Gelegenheit nach einer Mücke schnellte um sie zu fressen. Aus den Wipfeln der nahen Bäume, hochgewachsene und glatte Stämme und buschige Blätteransammlungen als Kronen, drangen kleine Lichtpunkte, über deren Ursprung Selchòr seit Jahren rätselte.
»Was meintest du vorhin nochmal?« fragte er und gab dem Drachen einen Speckstreifen, auf dem dieser schmatzend zu kauen begann. »Ach ja, die Geschichte! Erstens sind wir schon lange nicht mehr in der Armee, zweitens ist mein Drache blau und nicht rot. Was ihn zu dieser Idee getrieben hat, möchte ich gar nicht wissen, aber man soll über Tote ja nicht schlecht reden. Ich habe mir nicht die gefährlichste Drachenart ausgesucht, im Gegenteil eine der eher menschenfreundlicheren Vertreter, wenn man das so sagen darf.«
»Und was ist mit Kraj, dem großen, roten von-« begann Themero, brach aber ob des stechenden Blickes seines Gegenübers ab. »Ich meine ja nur, nach den Farben darfst du nicht gehen. Werde nur nicht unaufmerksam und laß dich fressen! Wie dem auch sei, was hast du die nächsten Tage vor?«
»Yiras hat bereits Witterung vom Gold aufgenommen, ich werde es suchen und finden.« sagte Selchòr und streichelte den kleinen Drachen. »Dann bin ich reich und muß mich nicht weiter mit der Suche nach den verstreuten Münzen abplagen, mein Rücken wird's mir danken! Willst du mitkommen? Du kannst deutlich bessere Karten zeichnen und die werden wir brauchen.«
»Ich weiß nicht, was Gold auf einer verlassenen Insel bringen soll, aber bitte.« antwortete Themero. »Wenigstens muß ich solange nicht den Stall hüten, aber wehe dir, wir finden nicht genug Münzen!«
»Das werden wir, nur keine Sorge. Komm morgen früh einfach zum Schlingensee.« entgegnete Senchòr, stand auf und spazierte hinaus in die Dunkelheit. Seufzend ging Themero zu seiner Hütte am Südende, einer hastig errichteten und großen Holzkiste, deren Dach bereits undicht war und langsam vor sich hinfaulte.
Die roten Sonnenstrahlen schlichen zwischen Wolkenfetzen hindurch, die abgeregnet davongetrieben wurden und sich langsam über dem Meer auflösten. Von einem niedrigen Hügel aus sah Themero über das Dorf hinweg auf die blauen Fluten, die unerbittlich an der Insel nagten und losgerissenen Seetang an den steinernen Strand spülten. Einige Männer waren dort, schwangen einfache Angelruten und brachten die gelegentlichen und kleinen Fänge an Land. Mit einigen schnellen Handgriffen überprüfte er seinen selbstgebauten Bogen, der wenig mehr war denn ein langer und zurechtgeschnittener Stock samt Sehne. Weiter als zwanzig Schritte konnte Themero damit nicht schießen, aber wenigstens hatte er noch einige echte Pfeile mit Eisenspitze auftreiben können. Sein Schwert war wie immer in eine Lederhaut gewickelt, die er eher notdürftig an seinem Gürtel befestigt hatte. Mißmutig und noch einige male tief durchatmend drehte er sich um und wanderte auf den Urwald zu, gegen den die unfreiwilligen Siedler beständig und ohne wirklichen Erfolg ankämpften. Ihm kam es vor, wie wenn das ganze Land etwas gegen Menschen hätte, jedes Fleckchen Land, das sie als Acker ausgesehen hatten, versumpfte innerhalb weniger Monate. Wo der Wald unter Axt und Feuer gewichen war, wuchsen nur ein, höchsten zwei Jahre Nutzpflanzen, ehe nichts außer Unkraut mehr gedieh. Dafür machte er sich jetzt auf zum Hort eines uralten Drachen, und innerlich hoffte Themero nur, daß jener sagenumwogene Ort wirklich verlassen war. Ganz trauen mochte er dem nicht, und ob der schlechten Lage auf der Insel hatten sie nichteinmal brauchbare Waffen, sollte dort tatsächlich etwas auf der Lauer liegen.
Einige dutzend Vogelarten erhoben ihre Stimmen zu einem schrägen Chor, wie jeden Morgen. Dumpfe und langgezogene Rufe, die beinahe wie langgezogene Vokalketten klangen, mischten sich mit schrillen Piepsern und lautem Geschnatter. Einige Frösche stimmten verhalten aus den Baumkronen mit ein, und Themero fragte sich wiedereinmal, ob er nicht schon den Verstand verloren hätte.
An den Stämmen einiger Bäume, deren Borke rauh war wie in Sonne ausgetrockneter und aufgesprungener Schlamm, hingen gelbe Blüten, aus denen ausladende rote Zungen gen Boden wuchsen. Die Luft war voller Gerüche, Verwesungsgeruch, welcher ausgerechnet von den Blüten kam, mischte sich mit dem feuchten Grases und einige Spuren Ozon, wie nach einem Gewitter. Auf dem matschigen Boden waren die Spuren Selchòrs leicht zu entdecken, gerade führten sie zum See. Gelegentlich lagen einige Mückenflügel daneben.
Der Schlingensee verdankte seinen Namen den unzähligen Pflanzen, die im Wasser wuchsen und deren Stengel ihn wie ein wirres Spinnennetz durchzogen. Jeder Tier, das hineinfiel, ertrank unweigerlich. Es verhedderte sich in den seilartigen Unterwasserauswüchsen und trieb sich durch seinen Überlebenskampf selbst unter die Oberfläche. Einige rosane Seerosen blühten und tellerartige Blätter trieben auf dem türkisen Wasser. Am grasbewachsenem Rand saß Selchòr, der dunkelblaue Drache lag vor seinem Fuß und hatte den langen Schwanz wie eine Schlaufe um das Menschenbein gezogen. Gerade war er dabei, einen nur daumenbreiten, dafür jedoch ellenlangen Fisch herunterzuwürgen. Eine kleine und rasch dahinschmelzende Eisscholle trieb am Ufer und hielt vor einem langen, beigen Stock an, der aus dem Wasser ragte.
»Du hast doch nichts dagegen, ein oder zwei Tage im Wald zu verbringen, oder?« fragte Selchòr und hörte, wie der kleine Drache glucksende Laute von sich gab, kaum hatte er mit seiner Mahlzeit beendet. »Heute schleichen hier meiner Meinung nach zu viele Kräuterkundler, Jäger und Münzsucher herum. Wenn wir nur nachmittags gehen, wird das unsere Spuren verwischen - dafür brauchen wir allerdings etwas länger.«
»Schwere Frage. Einerseits spielt Zeit auf dieser Insel keine Rolle, andererseits wird es wohl genug Gold für alle geben.« wägte Themero ab. »Letztendlich ist mir ein Dach samt trockenem Plätzchen ohne Mücken am wichtigsten, also finde ich, wir sollten sofort aufbrechen und es schnell hinter uns bringen. Können wir der Echse trauen?«
»Yiras? Er will genauso zum Gold wie wir, und bisher ist er recht harmlos.« antwortete Selchòr und stand auf. Der Drache kletterte an seinem Hosenbein hoch und hing sich an den Gürtel. Nur wenn sein Träger ging, und der schwarze Wollmantel dabei zurückschwang, war er sichtbar. »Außer man ist irgendein Insekt, Fisch, Maus oder ein anderes, kleines Tier.«
»Dann hoffe mal, du wirst niemals eine Maus für ihn sein.« entgegnete Themero. Er sah, wie der Drache seinen Kopf beständig in eine Richtung neigte, sofern er nicht gerade irgendwelchen Fliegen nachjagte. Hinter dem See begann dichtes Unterholz, Büsche in verschiedensten Formen. Einige krochen über dem Boden und die nahe beieinanderstehenden Bäume hinauf, ihre Blätter waren dreieckig und weiß umrandet. Selchòr schritt voran, Themero folgte und häufig peitschten dornenbewehrte Äste nach ihnen. Unter der Decke aus Blättern und Zweigen war es dunkel, nur einzelne Kegel aus Sonnenlicht reichten bis zum Boden. Ein Strahlenbündel zeigte einen halb eingegrabenen Brustharnisch, das Eisen war zu braunem Rost geworden und der Rest war längst verweht. Etliche Pfeilspitzen lagen rundherum.
Die Wolken sammelten sich bereits wieder zum täglichen Regenguß, als die beiden Schatzsucher die Gebüsche hinter sich ließen. Vor ihnen verlief ein sandiger Weg, der im Laufe einiger Meilen zu einer Schlucht wurde. Die natürliche Straße, wie Selchòr schätzte ein lange ausgetrocknetes Flußbett, schnitt sich in das umgebende Gestein ein, bis sie langsam absteigend beidseitig von hundert Schritt hohen und hellbeigen Felswänden flankiert wurde. Baumkronen hangen über, ließen nur wenig Licht in die kaum zwanzig Schritte breite Schlucht. Beide wunderten sich nicht, wieso diese nicht eher entdeckt worden war, von dem im Westen aufragendem Berg war sie nur ein weiterer dunkler Strich unter vielen. Gelbe und blaue Vögel flogen zwischen den Wipfel umher, stießen gellende Rufe aus und tief unter ihnen waren die Hänge mit stachelüberzogenen Ranken bewachsen. Inseln aus hartem und bleichem Gras waren am Boden, die Halme wie kleine Schwertklingen dem wenigen Licht entgegengestreckt, das die Nacht gelegentlich in eine zwielichtige Dämmerung tauchte, ehe die Wolken kamen. Erste Tropfen fielen herunter, besprenkelten den Boden und zeichneten ein scheckiges Muster.
»Irgendwo hier muß der Eingang sein.« sagte Selchòr und schaute zum Drachen hinunter. Eine rote, handlange Libelle verschwand gerade in seinem Maul, dann sah er wieder nach vorne und starrte mitten auf ein großes Gebüsch über fünfhundert Schritte vor ihnen. »Gehen wir!«
»Hoffentlich sind die Legenden über goldfressende Drachen falsch.« antwortete Themero nachdenklich. »Sonst bleibt wohl nicht viel übrig, bei diesem Loch ohne Boden!«
Der feuchte Sand knirschte unter ihren Stiefeln, am linken Fußbeschlag von Selchòr hing Yiras und durchpflügte mit einer Pfote den Boden, um Würmer und kleine, krebsartige Geschöpfe in seinen Krallen zu fangen und zu verspeisen. Rasch erreichten sie das Gestrüpp und blieben ratlos davor stehen. Über fast eine Meile bestand es aus dutzenden, zusammengewachsenen Büschen, die sich im Sand wie an den Felswänden festkrallten und dolchartige Auswüchse gegen jedes Wesen erhoben. »Was jetzt?«
»Na dort durch!« antwortete Selchòr und zog seine Hände in die Ärmel zurück. »Du hast wohl nichts gegen ein paar Stiche, oder?«
Langsam und sachte drückte er einige der zähen und kaum bewegbaren Ranken zur Seite, gelegentlich drangen die Stacheln durch Mantel und Lederwams, mit zusammengebissenen Zähnen und innerlich fluchend setzte Selchòr seinen Weg fort, bis der Kopf des Drachen genau auf die überwucherte Wand vor ihm zeigte. Mühselig kämpfte er sich durch die faserigen Zweige, sein Mantel war längst löcherig und unbrauchbar geworden, als er ins leere griff, das Gleichgewicht verlor und nach vorne stürzte. Kalter Felsboden empfing ihn, und ein lichtloser Höhlengang lag vor ihm.
»Autsch, ahhh, verdammter Dunghaufen!« fluchte Themero und stolperte ebenfalls herein. Im wenigen Licht konnte Selchòr kaum die Ausmaße den Ganges erkennen, er war groß genug für ein sehr großes Wesen. Sein Haus hätte er ohne Schwierigkeiten dort errichten können. Unter dem Mantel holte er zwei mittelgroße Fackeln hervor, versicherte sich, ob sie trocken waren und reichte eine an seinen Begleiter weiter. Die andere hielt er dem Drachen vor die Nase.
»Bitte spuck ein wenig Feuer, damit wir hier Licht haben!« sagte Selchòr. Der Drache holte sichtbar tief Luft, verharrte mehrere Momente mit angeschwollener Brust und spie dann eine kleine Wolke bläulichen Dampfes aus. Die Fackel wurde eiskalt und Rauhreif bedeckte ihren Kopf. Indessen gab Yiras ein Geräusch von sich, das den Mann fast an das freundliche Miauen einer Hauskatze erinnerte. »Themero, du hast nicht zufällig einen Zundstein oder 'nen anderen Nestling dabei?«
»Soetwas ähnliches, wenn es denn sein muß.« antwortete sein Begleiter. Er wickelte die Spitze seines schartigen und rostigem Schwert aus ihrer Umhüllung, stellte sie auf die Fackel und holte einen hellgoldenen Würfel aus der Tasche. Mehrmals schlug er damit gegen seine Waffe, kleine Funken stoben und einer entflammte schließlich die mit Ölen durchtränkten Stoffbinden der Fackel. »Können wir?«
Die grauen Wände glitzerten an vielen Stellen, wirkten fast wie ein mit Sternen behangener Nachthimmel. Wehmütig dachten beide an die Zeit zurück, als sie in Ländern waren, in denen nicht jede Nacht bewölkt war. Staub bedeckte den steinernen Untergrund und ein zerbrochener Helm lag auf den Boden, geschmiedet einstmals aus einer Legierung, die Wasser und Witterung besser standhielt denn Eisen. Die beiden Schatzsucher schritten weiter, sahen die traurigen Überbleibsel von alten Rüstungen und zerbrochenen Waffen. Der Tod ihrer Träger lag so lange zurück, nur das widerstandsfähigste Metall war als letztes Andenken der Vergessenen geblieben.
»Gescheiterte Drachentöter.« sagte Themero und seufzte. »Hoffentlich ist Kalarestrôr wirklich von dieser Welt geschieden und wacht nicht über seinen Hort. Ich möchte den Toten noch keine Gesellschaft leisten.«
»Die Luft hier steht absolut still, außer uns befindet sich kein Lebewesen in dieser Höhle.« entgegnete Selchòr. Tatsächlich zog nicht der geringste Wind durch die Gänge, der Geruch von zerfallenem Eisen lag als einziger in der trockenen und abgestandenen Luft.
Der Gang erweiterte sich zu einem riesigen Raum, in dem das ganze Dorf mehrfach platzgefunden hätte. Überall stapelten sich Goldmünzen, soweit ihre Augen reichten. Daneben befanden sich Haufen von Zierschwertern aus Edelmetallen, Geschmeide aus Gold und Silber. Geschliffene Edelsteine, die im Licht der Fackel ein eigenes Feuer in sich zu tragen schienen, lagen wie Murmeln in langen Kisten, in denen mehrere Pferde gepaßt hätten. Wie Ziegelsteine waren Goldbarren zu Mauern geschichtet, die wiederum Halsketten, Amulette, Kelche, Schalen, Pokale und Ringe einsperrten, damit sich diese nicht über dem Boden verteilten. Staunend wanderte Selchòr umher, sah Münzen über Münzen an den Rändern bis fast zur Decke gestapelt und Kleinode der Schmiedekunst wie Ramsch übereinandergeworfen. Zepter von Königen, juwelenbesetzte Kronen und Skulpturen aus Gold und Silber, die von Schlössern, über Köpfe von längst vergessenen Männern und Frauen bis zu lebensgetreuen Nachbildungen von Bären, Tiger und Drachen alles zeigten, was je ein Mensch erblickt hatte. Im Felsboden zwischen den Schatzhaufen waren Zierplatten eingelegt, auf goldenem Grund waren Rubine und Saphire zu Schriftzeichen geordnet worden. Selchòr konnte sie nicht entziffern, es waren Sätze aus alten Sprachen, selbst die Lettern waren aus dem Gedächtnis der Menschheit vor langer Zeit verschwunden. Einige Buchstaben sahen aus wie aneinandergereite Baumstämme, die Tore und Palisaden verbaut worden waren. Auf anderen Platten befanden sich Zeichen, die geschwungen fast einer tänzelnden Flamme entsprungen zu sein schienen.
Überall funkelte es, das Gold warf das Licht der Fackeln in tausenden Facetten durch die Höhle und so hätte Selchòr beinahe den Schriftzug übersehen, auf dem er stand. »›Der Verdorbenen fehlgeschlagener Hilfe, die Gier wird ungewollt genährt und benutzt schließlich als besten Schutz.‹« las Selchòr laut und ging weiter. Kopfschüttelnd bemühte er sich, seine Blicke vom Gold abzuwenden und auf das zu achten, was unscheinbar dazwischen lag. Durchbohrte Harnische, eingeschlagene Helme und annähernd zu Staub gewordene Hefter und schartige Klingen waren ebenso gegenwärtig wie all die Reichtümer. Bereits nach einem schnellen Blick zählte Selchòr hundert solcher Hinterlassenschaften und erschauderte angesichts der Zahl an Leben, die hier ihr Ende gefunden hatten. Beinahe wäre er in Themero gerannt, der unschlüssig dastand und auf den Drachenhort schaute.
»Mir gefällt das nicht, laß uns verschwinden!« sagte sein Begleiter. »Wir wissen, wo der Schatz zu finden ist und können nun schleunigst den Heimweg antreten. Dieses Massengrab hier, ich weiß nicht, mir richten sich die Nackenhaare auf. Haben unsere Vorfahren ihr Schicksal geahnt? War dies der Sinn ihres Lebens, unendliche Reichtümer zu finden nur um dann von einem Drachen quasi hingerichtet zu werden? Er muß sie selbst für seinen Atem unwürdig befunden haben, keine Brandspuren in der ganzen Höhle. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, bei lebendigem Leib aufgerissen zu werden.«
»Es hätte auch wenig Sinn gemacht, erst das Gold anzuhäufen und dann einzuschmelzen, nicht?« antwortete Selchòr. »Ich jedenfalls bleibe über Nacht hier, den Regen tue ich mir nicht an. Du kannst ja schonmal im Dorf irgend etwas organisieren, womit wir den Eingang freibekommen. Leihe mir nur bitte diesem komischen Würfel.«
»Kein Problem, von denen findest du am Berg hunderte. Zuerst dachte ich, es wäre Gold, aber als ich ihn einschmelzen wollte roch es nur nach Schwefel und das Ding fing an zu brennen! Hier.« Themero warf ihm den Stein zu. »Bis irgendwann. Verhungere hier bloß nicht, du kannst bestimmt kein Gold essen!«
Themero wandte sich um und verließ den Hort. Seine Schritte hallten laut nach, jedem Geräusch folgten mehrere Echos. Dazwischen meinte er, das leise und helle Klingen und Plingen von fallenden, daraufhin herumrollenden Münzen zu hören. Dem Geräusch folgend ahnte Selchòr den Grund. Der im Laufe des letzten Tages immer schwerer gewordene Drache hatte sich von ihm losgemacht und war alleine auf einen Goldhaufen zugekrochen. Im Fackelschein sah er, wie Yiras sich scheinbar in den Münzen eingraben wollte. Schmunzelnd dachte Selchòr an die Laute aus der Drachenkehle zurück, deretwegen er ihm diesem Namen gegeben hatte. In gehörigem Sicherheitsabstand, um nicht von einer Münze am Kopf getroffen zu werden, setzte Selchòr sich hin und kramte seine letzte Fackel heraus. Zusammen mit seinem rostigen Dolch legte er sie in Griffweite hin und versuchte auf dem harten Boden wenigstens etwas Schlaf zu finden. ›Immerhin ist es hier nicht so drückend warm wie draußen!‹ dachte er.
Erneut sammelten sich Regenwolken am Abendhimmel, als Themero sich durch das Dornengestrüpp kämpfte. Noch lugte die Sonne als rote Scheibe über den Rand der Insel, und Wind brauste mit dem Geruch des Meeres heran. Der Boden am Schluchtausgang war voller Spuren, ein abgebrochener Speer steckte im Sand und Blut hatte ihn befleckt. Einige Abdrücke erinnerten Themero an die Hausschweine seiner Großeltern, obschon die Spuren vor ihm von deutlich mehr Kraft und Wildheit sprachen. Eine Stiefelabdruckreihe führte hinunter zu den Stachelbüschen, die anderen hinein in den Wald. Ohne Fackel und Begleitung wirkte er noch bedrohlicher als sonst, und die Rufe von Eulen und frettchenähnliche Schnüffellaute beruhigten den Mann nicht wirklich.
Er hastete von Baum zu Baum, immer mit dem Rücken an einen Stamm, versuchte halbwegs in die richtige Richtung zu huschen. Überall um ihn erwachte das Nachtleben, und bald blinkten Glühwürmchen über den Farnen umher. Graue Schmetterlinge groß wie Tauben flatterten im Wald umher, und allerlei Getier kroch den Baumkronen entgegen. Themero wollte gar nicht wissen, wem die Schuppen und schleimige Haut gehörte, die er dauernd streifte. Er atmete tief durch, und sprintete los, um den Wald zu verlassen.
Als Themero die letzten Büsche durchbrach fand er sich an einem der vielen Strände wieder. Ein paar Zelte aus Tierhäuten standen dort, Lagerfeuer hielten die größeren Tiere ab und ein großer Fisch drehte am Spieß seine Runden über den Flammen. Drei Männer standen bis zu den Hüften im Wasser, warfen Netze und Angelköder aus. Im Lager selbst saß ein halbes Dutzend Fischer und putzten ihre alten Rüstungen und Waffen. In den ersten Tagen auf der Insel hatte sich Themero auch beim Angeln beteiligt, bis er auf eine würfelförmige Qualle getreten war. Noch immer schmerzten die Narben bei plötzlichen Wetterwechseln, und die gab es fast täglich. »Hallo!« rief Themero. Die anderen wunken ihn heran, und erleichtert ließ er sich zu ihnen in den Sand fallen. An der Küste wankten Krabben umher und Möwen stießen mit ihren Schreien herab, trotzdem wirkte alles auf Themero ruhiger und friedlicher denn im Wald. Zumindest sicherer. »Liegt etwas an?«
»Jep.« antwortete einer der Fischer, ein ernster Mann mit grauen Haaren und länglichem Gesicht. In sein Hemd hatte er Schlaufen für Angelhaken verschiedener Größe eingenäht, auch ein kurzes Messer gehörte dazu. »Die Krautpflücker haben wohl was entdeckt, morgen geht's auf große Wanderschaft. Bäh, wie mir das stinkt! Schlimmer als drei Wochen alter Fisch. Immerhin, wenn wir von der Insel herunterkommen, isses mir nur recht. Willste Fisch?«
»Ja, gerne.« entgegnete Themero und warf ihm eine Münze zu. »Es ist bestimmt nur noch eine Frage der Zeit, bis wir endlich von hier wegkommen!«
»Wo hast'n die her?« fragte der Fischer und drehte das Goldstück zwischen den Fingern.
Am nächsten Tag erwachte Selchòr in fast völliger Dunkelheit. Die Fackel, welche er schon gestern genutzt und in einen Münzhaufen gesteckt hatte, glomm nur noch schwach. Immernoch flogen goldene Scheiben durch den Raum, der Drache war schon halb in einem mit Münzen verschütteten Gang verschwunden, den er beharrlich mit seinen Pfoten freischaufelte. Unwillkürlich mußte er an einen dunkelblau geschuppten Maulwurf denken, nachdem er seine neue Fackel entzündet hatte. Wie aus weiter Ferne war Donner zu hören und ein dumpfes Prasseln unterstrich jene Gewitterklänge.
»Bei den Schätzen hier hast du es wohl auf ein ganz besonders wertvollen Stück abgesehen, was?« fragte Selchòr. Zu seiner Überraschung hielt der Drache kurz inne, sah ihn an und gab einen Summton ab. Nur Augenblicke später setzte der Münzregen wieder ein. »Weißt du, wir sind reich! Wir alle! Komm, ich helfe dir, und in einigen Jahren hilfst du mir. Nur ein kurzer Flug, eine kleine Botschaft und das Glück wird uns allen hold sein.«
In vielen der Goldsammelbecken lagen auch Schalen, und so hielt Selchòr nach einer großen wie flachen ausschau. Es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde und benutzte sie als Schaufelersatz, um mit ihr die Münzen um den Drachen herum wegzuschieben. Yiras gurrte laut und krabbelte etwas zur Seite, hörte bald ganz auf und kringelte sich zusammen, um zu schlafen. Kopfschüttelnd sah ihn Selchòr an, steckte die Fackel in nahe Münzen und begann wieder, durch das in handliche Form gepreßte Gold zu graben. Der sichtbare Gang wurde zusehends breiter, und obschon dauernd Münzen nachrutschten, war er bald frei genug, um zwischen den Felsen und dem wertvollsten, vorstellbaren Schutt die Finsternis eines weiteren Höhlenschachts zu erblicken. Mit dem Schalenrand stupste er den Drachen an, dieser begann nur leise Pfeiftöne von sich zu geben. »So schnarcht ihr also.« flüsterte Selchòr und hob Yiras auf. »Komm mit, bringen wir diese Erkundung hinter uns. Hast dir ja genug für nen ganzen Winterschlaf angefressen, innerhalb eines Tages! Wie du bald bemerken wirst, gibt es hier nur eine Jahreszeit, deine Eltern hätten dich einfach nicht hier vergessen sollen.«
Mit der Fackel in der einen Hand und dem Drachen auf dem anderen, angewinkelt gehaltenen Arm schlafend, kroch Selchòr den schmalen, freigeschaufelten Durchgang entlang um sich in einem Schacht wiederzufinden, der stetig nach oben führte. Die Luft wurde feuchter und das Rauschen des Regens lauter, je weiter er ging.
Die ungleichen Gefährten erreichten eine Weggabelung. Der Drache wachte auf, stieß sich mit einem Flügelschlag selbst aus Selchòrs Armen und tapste in den linken Weg davon. Mehr als nur beiläufig prägte sich der Mensch ein, aus dem anderen Schacht kam der Geruch von nasser Waldluft, ehe er Yiras nachtrottete.
Wie der Mann rasch bemerkte, strahlten mehrere farbige Kristalle aus Yiras Zielhöhle. Zuerst wirkten sie wie kleine Brillanten, wuchsen jedoch mit jedem Schritt. Schließlich betrat Selchòr die Halle, und ihm stockte der Atem. Acht Reihen aus schulterhohen Kristallsäulen zogen sich von einer Wand bis in die Dunkelheit am Ende seiner Sichtweite, jede Linie gab eine Farbe wieder, in all ihren Nuancen. Ganz zu seiner Linken begann die rote Reihe, es folgten orange, gelb, grün, blau, violett, weiß und nur die letzte Linie war dunkel und gab kein Licht ab. Jede Säule hatte einen Durchmesser von zwei Schritten, ihr Kopfende war wie eine tiefe Schale nach innen gebogen. Zielstrebig krabbelte Yiras zur blauen Reihe, ohne weiter darüber nachzudenken folgte Selchòr und besah sich die Kristalle. Von jedem schien eine Art Spannung auszugehen, welche die Luft um ihn knistern ließ und aus den Schalen quoll Nebel in der jeweiligen Farbe. Dazwischen sah er Eier liegen, in allen Größen und jedem möglichen Aussehen. Von braungesprenkelten und nur daumennagelkleinen Kugeln bis wirklich eiförmigen, dafür über kürbisgroßen und grünspiegelnden Gebilden war alles vertreten. An einer Säule, deren Blau nur einen Hauch dunkler war als Yiras Schuppen, kletterte er hoch und legte sich auf ein hellbraunes Ei, das nun nicht mehr vom Nebel umhüllt wurde.
»Ging es dir darum? Ein Geschwisterchen auszubrüten?« fragte Selchòr erstaunt. »Na wenn es das ist, dies wird auch beim Gold möglich sein.«
Er streckte beide Hände aus, um Ei samt Drache zu greifen, doch als der Nebel ihn berührte durchfuhr ein Schlag seinen Körper und ihm wurde schwarz vor Augen.
Wie wenn eine Legion Nadeln gleichzeitig seine Schädeldecke bearbeiten würden, fühlte sich Selchòr als er erwachte. Neben dem Kopfschmerz war Durst das Gefühl und Bedürfnis, welches ihm zuvorderst in den Sinn stieg. Auch Hunger rumorte in seinen Eingeweiden, noch mehr lechzten sie aber nach Wasser. Neben der Säule lag eine aufgebrochene Eierschale, von Yiras fehlte jede Spur und seine Fackel war vollständig abgebrannt. Mit Schmerzen in jedem Muskel rappelte er sich auf, versuchte nicht in die Nähe einer der leuchtenden Kristalle zu gelangen und torkelte vorwärts, auf den Gang zu. »Den ganzen Hort für einen Schluck Wasser!« dachte er, als er sich der Dunkelheit des Schachts gegenüber sah. Vorsichtig tastete sich Selchòr die Wand entlang, bis er wieder bei der Weggabelung war. Der so vertraute Klang tropfenden Regens hallte zu ihm herüber, lockte ihn, rief ihn zu sich. Kurz dachte er an die Berge von Gold und Silber, ehe er auf das vom Himmel fallende Wasser zuging.
Durch das plötzliche Tageslicht geblendet, schmerzten seine Augen und Selchòrs Kopf ging es noch merklich schlechter. Durch einen Riß in der Höhlendecke kamen Regen und frische Luft herein, ebenso jene Strahlen der Sonne, die sich an den Wolken haben vorbeistehlen können. Eine Strickleiter hing herunter, und der Boden war übersäht mit bekannten und unbekannten Lettern. Selchòr stürzte auf die Leiter zu, öffnete den Mund um wenigstens einige Tropfen zu ergattern. Sprosse für Sprosse hievte er seinen erschöpften Körper nach oben, genoß den herunterhämmernden Regen, bis er den Rand erreichte und in feuchtes Gras griff. Für einen Atemzug nach unten blickend konnte er das Wort ›Verschwendung‹ in den Boden eingearbeitet lesen. Mit Mühsal zog er sich hinaus ins Freie, die Leiter war festgemacht an einem aus dem Boden ragenden Felsen und um ihn erkannte Selchòr einige Mücken- und Libellenflügel, die dortherum am Boden lagen und bald zur Unkenntlichkeit verfault sein würden.
Kurz lächelte er, dann schleppte er sich an den Rand der Hochebene, auf welcher er lag. Wo er das Dorf vermutet hatte, war ein schwarzer Fleck auf der Insel, der nahe Wald niedergebrannt und der ehemalige Schiffskadaver am Strand vollständig zerstört. Gleichgültig warfen sich die Wellen des grauen und stürmischen Meeres an die Strände und der Regen durchnäßte die zerrissenen Gewänder des Schatzsuchers.
Kleinen Bächen und den wenigen Büschen folgend, deren Früchte er als eßbar kannte, machte sich Selchòr auf den Weg zurück zu dem Ort, wo einst seine Hütte gestanden hatte. Tage vergingen so, bis er in den Augenwinkeln einen Abschnitt verbrannten Waldes bemerkte. Langsam schlich er heran, sah bald den einstmals verdeckten und versteckten Zugang zu jener Schlucht, in der der Drachenhort seinen Eingang hatte. Einige verrostete Äxte und Schwerter lagen auf dem Boden, und wo der Regen bereits viel Erde weggewaschen hatte, schauten die Lederrüstungen und Kettenhemden seiner Mitgestrandeten hervor. Eine einzelne Gestalt saß dort und beobachtete mit wippendem Kopf die Schlucht, während sie die halbverbrannte Decke enger um sich zog.
»Was ist hier geschehen?« rief Selchòr ihr zu. »Was hat unsere Zuflucht verheert? Ist ein Drache gekommen, um den Hort zu fordern? War es eine Katastrophe oder ein Untier? Sprich!«
»Niemand und nichts kam auf die Insel, alle ließen sie samt dieser Welt hinter sich und ich dachte, alleine übriggeblieben zu sein.« murmelte der Mann und stand auf. Als er sich umdrehte, erkannte Selchòr Themero wieder, aber er wirkte ausgemergelt und hatte einen solchen Bart, wie wenn ihre letzte Begegnung fast einen Monat zurückläge. Themeros rechtes Bein lahmte, und er mußte sich auf einen Stock stützen, um sich näher zu ziehen. »Du lebst. Nein, keine Drachen, es war das Gold, wir!«