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Das Grübeln
Die Arme verschränkt stand er am Fenster. Sein nackter Oberkörper spiegelte sich in der Scheibe. Draußen war es dunkel. Eine einzelne Straßenlaterne flackerte und verbreitete abwechselnd Dunkelheit und Licht. Er musterte den nächtlichen Himmel. Keine Sterne. Nur Wolken. Schmutzige, gelb-bräunliche Wolken.
Er senkte den Blick. Sah schwarze Punkte 40 Stockwerke tiefer auf den Strassen hin und her eilen. Menschen. Ganz tief unten. Und nur Menschen. Keine Tiere. Irgendwo in der Nähe lief laut ein Fernseher.
Er breitete seine Flügel aus und
verwundert und irritiert blinzelte er mehrmals.
`Flügel?`, dachte er.
Ein Schauer jagte über seinen Rücken und ihn fröstelte.
Erneut sah er aus dem Fenster. Verfolgte nur mit seinen Augen einen Fuhrkarren vor sich auf der Strasse. Passanten schlenderten an seinem Fenster vorbei. Genossen die warme Luft, den herrlichen Sommertag. Einige kleine Vögel flogen und setzten sich synchron und wie kleine Manöverflugzeuge auf die Pferdeäpfel auf den Pflastersteinen.
Er lächelte.
`Ein schöner Tag`, dachte er.
Er rieb mit den flachen Händen an seinen nackten Oberarmen. Wartete auf die Femsignale seiner Schnurrbarthaare.
Er spürte einen irrationalen Anfall von Angst.
`Vielleicht liegt das an diesem dauernden Regen.´, dachte er benommen und rieb sich das glatte Kinn.
Die Dunkelheit vor seinem Fenster hellte jäh auf. Ein ferner Blitz. Im Kopf zählte er leise die Sekunden bis der Donner ertönte.
`Sollte nicht die Sonne scheinen?´, dachte er flüchtig und wunderte sich gleich darauf über diesen Gedanken. Soweit er wusste, regnete es doch seit 3 Tagen ohne Pause.
Ihn fröstelte.
Dann setzte er sich auf den Boden. Überkreuzte die Beine. Begann zu meditieren.
Die Augen geschlossen durchsuchte er seinen Geist. Begann in sich zu sinken. Sich zu finden.
Und stieß auf die Erinnerungen.
Entsetzt riss er die Augen auf.
Sein Atem ging schnell. Kam stoßweise. Entsetzen materialisierte sich unsichtbar, setzte sich auf seine Brust, schnürte ihm die Luft ab.
Zitternd erhob er sich. Sah aus dem Fenster. Eine wolkenlose Nacht. Ein voller Mond. Der Himmel nicht schwarz. Eher ein dunkles Blau. Zahlreiche Sterne. Kleine und große. Die bis in die Ferne reichende Wiese schien irgendwo mit diesem Himmel zu verschmelzen. Weit entfernt. Er sah Bewegungen auf den Halmen, wie die Wellen auf einem seichten See.
Er zuckte mit dem Schweif, versuchte
"Was für ein Schweif?", schrie er.
"Was passiert hier?"
Er brüllte, stammelte. Wollte seine Stimme hören. Das beruhigte.
Anders als dieses trübe Wetter vor seinem Fenster. Dieser dreckige Schnee überall. Mehr ein dunkler Schlamm. Der Himmel bleigrau. Verkrüppelte Schneeflocken davor, wie die Aschebrocken aus einem Krematorium. Wogten sanft zur Erde nieder. Legten sich auf die Menschen, die mit eingezogenen Schultern die Strasse entlang hasteten.
Und dann durchlebte er eine schreckliche Mikrosekunde der totalen Transzendenz. Begriff sich und sein Universum. Seine Rolle. Die Beschaffenheit von allem.
"Ich bin nur die Figur in einer seltsamen Kurzgeschichte", flüsterte er.
Und fiel.
Näherte sich seiner Entropie.