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Das Grab im Fluss
DAS GRAB IM FLUSS
Sonnenstrahlen vom wolkenlosen Himmel nieder. An diesem sommerlichen Sonntag mit seinen tropischen Temperaturen zog es viele Menschen ans
Wasser um sich zu erfrischen. Die Freibäder quollen fast über und an den Seen sah es nicht anders aus. Die Eisverkäufer hatten Hochkonjunktur und in den Biergärten drängten sich die Menschen unter den schattenspendenden Kastanienbäumen um sich an einem „Kühlen Blonden“ zu erquicken. Die Brauereien machten in diesen Sommertagen die besten Umsätze des Jahres und die Mitarbeiter waren aufgerufen Sonderschichten einzulegen, um den Bedarf am beliebten Gerstensaft zu decken.
Die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr eines kleinen bayrischen Dorfes brachen zu einer Bootsfahrt auf dem heimatlichen Fluss auf. Für das leibliche Wohl war bestens gesorgt. Es wurde ausreichend Brotzeit eingeladen und natürlich die Kästen mit Bier, die einen feucht fröhlichen Ausflug garantierten.
Am Abend legte das Wassergefährt am heimatlichen Anlegeplatz an. Die angetrunkenen Männer kletterten recht schwankend aus dem schaukelnden Fahrzeug und sind froh endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
„Sagt mal wo ist eigentlich der Richard?“ wunderte sich der Feuerwehrkommandant Klaus. „Keine Ahnung“ lallte einer der Herren. „Vorhin war er doch noch da hinten gesessen. Der kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!“
„Aber ausgestiegen ist er auch noch nicht, sonst wär er ja jetzt hier“ bemerkte jemand. „Stimmt“ sagt ein anderer. „Ich habe das Boot als erster verlassen, also hätte er an mir vorbeikommen müssen. Wo kann der bloß sein?“
Schlagartig wurden die Männer nüchtern. Was war geschehen? Richard zeichnete sich nicht gerade durch brillante Schwimmkünste aus, also scheitet die Wahrscheinlichkeit selbst ins kühle Nass gesprungen zu sein aus .Sollte er in seinem Suff aus dem „Ausflugsdampfer“ gefallen sein? Niemand hat etwas bemerkt oder das Plätschern des Wassers gehört, welches ein Aufprall verursacht hätte. Das wäre allerdings nicht verwunderlich, da die Musik aus dem CD Player noch vom Gegröhle der lustigen Gesellschaft übertönt wurde.
„Denkt mal alle scharf nach“ forderte Klaus seine Feuerwehrkollegen auf. „Wann und wo habt ihr Richard zuletzt gesehen?“ „Hm, ich hab ihm vorhin noch ne Flasche Bier gegeben und ihn noch ermahnt etwas langsamer zu machen, da er schon ziemlich dicht war“ erinnerte sich Winfried, der als Getränkewart fungierte.
„Als wir an der letzten Ortschaft vorbeifuhren saß Richie auf alle Fälle noch neben mir. Da haben wir uns nämlich über einen Angler amüsiert, der gerade mit einem dicken Fisch an seiner Leine kämpfte und dabei ganz schön ins Schwitzen kam.“ rekonstruierte Manfred.
„Also muss Richard irgendwo zwischen den beiden Dörfern ins Wasser gefallen sein. Schätze mal er hat bei den Stromschnellen das Gleichgewicht verloren und ist über Bord gekippt“ folgerte Klaus. „An dieser unruhigen Passage hatten wir ohnehin alle Hände voll zu tun das Gefährt heil über die Wellen gleiten zu lassen. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und hielt sich fest damit er nicht rausfällt. Richard hat das offensichtlich nicht gemacht, sonst wär er jetzt noch hier.“
„Ich hätte ihm doch kein Bier mehr geben dürfen“ wirft sich Winfried vor. „Aber er hat quasi darum gebettelt und ich konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen.“
„Ist schon gut. Du musst dir nicht die Schuld geben, wir hätten alle besser auf ihn achten müssen. Was machen wir nun?“ wollte Manfred wissen und blickte Richtung Klaus.
„Wir suchen erst mal beide Uferseiten ab. Möglicherweise hat es ihn irgendwo an Land gespült oder er hat sich selbst retten können. Sicherheitshalber sollten wir aber die Polizei verständigen“.
„Und was ist mit seinen Eltern?“ sorgte sich Manfred. „Du weißt doch die sorgen sich ohnehin immer so sehr um Richie und warten bestimmt schon sehnsüchtig darauf, dass er nach Hause kommt“. „Wir werden nicht umhin kommen ihnen die Wahrheit zu sagen. Noch besteht ja Hoffnung ihn unversehrt zu finden“ antwortete Klaus.
„Vielleicht sitzt er schon daheim im Wohnzimmer und lacht sich eins ins Fäustchen, weil er uns eins ausgewischt hat“ scherzte Winfried. „Schön wär´s“ erwiderte Klaus. „Wir müssen uns aufteilen und Richard suchen. Schaut unter jedem Strauch und im hohen Gras nach. Manni, du warst am vertrautesten mit Richard. Kannst du dich um seine Eltern kümmern?“
„Ja klar. Mach ich. Ist zwar keine leichte Aufgabe, aber irgendwie krieg ich das schon hin.“ „OK. Ich warte hier auf die Polizei“ lies der Kommandant wissen.
Gerade als Manfred sich auf den Weg machen will, kommt Richie´s Mutter völlig aufgelöst angerannt. Natürlich hatten sich schnell einige Bewohner um die Feuerwehrleute versammelt und mitbekommen, dass Richard nicht vom Bootsausflug zurückgekommen ist. Irgendjemand lief zu seinem Elternhaus und überbrachte der Mutter die Hiobsbotschaft.
„Wo ist Richard? Was ist geschehen?“ Mit sorgenvoller Miene runzelt die hagere Frau die Stirn. Die ausgeprägten Falten ihres Gesichtes deuten darauf hin, dass das Leben bereits seine Spuren bei der Endvierzigerin hinterlassen haben. Die kurz geschnittenen ergrauten Haare lassen kaum noch erkennen, dass diese früher mal schwarzbraun und wallend ein hübsches Gesicht zierten.
Klaus legte seinen Arm vertrauensvoll um Frau Müller: „Wir können uns auch nicht erklären was passiert ist. Keiner von uns hat mitbekommen, dass er über Bord gegangen ist. Sicher werden wir ihn bald finden, er kann nicht weit von hier sein.“
„Ihr habt ihm Alkohol gegeben, wo ihr doch alle wisst, dass er nichts verträgt“ vorwurfsvoll fällt der Blick auf die Kästen mit den leeren Bierflaschen. „Warum habt ihr denn nicht auf ihn aufgepasst?“ Eine Antwort auf die Frage bleibt aus, statt dessen senken die anwesenden Feuerwehrmänner schuldbewusst die Augenlieder und wirken recht betroffen.
Mittlerweile ist auch eine Polizeistreife eingetroffen, um die Lage zu erkunden. Einer der Beamten hielt Rücksprache mit der Zentrale. „Frau Müller, ich bin Polizeihauptmeister Brunner und werde mich darum kümmern ihren Sohn zu finden. Machen sie sich keine Sorgen. Alle verfügbaren Kräfte beteiligen sich an der Suchaktion und kämmen das Gelände sorgfältig ab. Die einsetzende Dunkelheit erschwert zwar die Lage etwas, aber mit Spezialscheinwerfern und unseren Diensthunden meistern wir das schon.“
„Adelgunde, was ist los? Der Erwin ist zum ‚Grünen Krug‘ gekommen und hat gefragt, wieso ich hier bin, wo doch unser Sohn vermisst wird. Ich hab mich sofort auf meinen Drahtesel geschwungen und bin her gedüst.“
Richards Vater Hans war mit einigen Freunden in der am Waldrand gelegenen Gaststätte um Schafkopf zu spielen und die klare erfrischende Waldluft zu genießen. Sein ergrautes, leicht gelocktes Haar ist vom Fahrtwind in alle Richtungen geweht worden. Er rückt die randlose Nickelbrille wieder an den richtigen Platz über der knolligen Nase. Die Röte auf den rundlichen Wangen zeugt von der schnellen und anstrengenden Fahrt über den Feldweg. Hans nimmt seine schluchzende Frau in die Arme, drückt sie fest an sich und versucht sie zu trösten. „Du weißt doch unser Sohn hat einen guten Schutzengel. Der wird ihm auch diesmal helfen, genau wie damals bei seinem Unfall.“
Richard war als Neunjähriger mit seinem Fahrrad die Hauptstraße überquert ohne auf den Verkehr zu achten. Dabei wurde er von einem herannahenden Auto erfasst und auf den Asphalt geschleudert. Etliche Wochen verbrachte er im Koma auf der Intensivstation des städtischen Krankenhauses. Sein Leben hing an einem seidenen Faden.
Die Eltern waren verzweifelt und suchten täglich die kleine Kapelle am Waldrand auf, die zu Ehren der heiligen Maria errichtet wurde. Dort entzündeten sie eine Kerze und flehten die Mutter Gottes an ihnen in diesen schweren Stunden beizustehen und das Leben ihres Sohnes zu retten. Und das Wunder geschah! Richard erwachte aus der tiefen Bewusstlosigkeit und erholte sich langsam von dem schweren Trauma. Die Knochenbrüche waren schnell verheilt, jedoch das Gehirn regenerierte sich nicht vollständig. Dies zeigte sich unter anderem in allgemeiner Verlangsamung, so wie gestörter Konzentrations- und Merkfähigkeit.
Trotz der Behinderung wurde der Junge in der Gemeinde akzeptiert und ins alltägliche Dorfleben integriert. Im Anschluss an die absolvierte Sonderschule fand er eine Anstellung beim örtlichen Bauunternehmen, wo er leichte Hilfstätigkeiten verrichtete.
„Ach Hans, wenn du nur recht hättest. Ich hab solche Angst, dass Richard etwas ganz Schlimmes zugestoßen ist. Wenn wir ihn nun für immer verlieren? Wir haben doch nur dieses eine Kind, das kann uns doch der liebe Gott nicht wegnehmen!“
„Frau Müller nun machen sie sich nicht gleich so viele Sorgen. Noch besteht ja die Chance ihren Sohn lebend zu finden. Wir tun wirklich alles, was in unserer Macht steht“ beruhigte der Polizeibeamte die weinende Frau. „Am besten sie gehen erst mal nach Hausse. Sobald es etwas Neues gibt informieren wir sie.“
Die ganze Nacht sind die Suchtrupps beschäftigt – ohne Ergebnis. Nichts, nicht die geringste Spur von Richard, als wäre er vom Erdboden verschluckt. Die Eltern verbrachten eine schlaflose Nacht zwischen Hoffen und Bangen. Am frühen Morgen halten sie die nervliche Belastung der Ungewissheit nicht mehr aus und begeben sich zum Fluss.
„Haben sie unseren Jungen noch nicht gefunden?“ fragte Hans einen der Polizisten. „Tut mir leid Herr Müller, bislang war unsere Such erfolglos. Wir haben an beiden Ufern jeden Winkel durchkämmt, von den Stromschnellen bis hinunter zur Staustufe Flussabwärts. Möglicherweise hat es ihn nicht an Land gespült und er ist noch im Wasser. Deshalb haben wir Taucher angefordert um den Grund des Flusses abzusuchen. Gerade in diesem Abschnitt gibt es viele Wasserstrudel, die einen Körper in die Tiefe saugen und nicht mehr loslassen.“
Die leidgeprüften Eltern des verschwundenen jungen Mannes sehen den Polizeibeamten fassungslos an.
Dieser sucht nach taktvollen Worten und bereitet das Ehepaar vorsichtig auf einen schlechten Ausgang der Suche vor. „Nun, bis wir Richard nicht gefunden haben kann niemand mit Gewissheit sagen ob er noch am Leben ist oder nicht. Jedoch rückt die Wahrscheinlichkeit, dass er ertrunken ist immer mehr in den Vordergrund.“
„Nein, unser Sohn lebt, er kann nicht gestorben sein!“ Mit starrem Blick schüttelt Adelgunde ungläubig den Kopf. Dicke Tränen kullern über die Wangen der verzweifelten Frau. Auch Hans wirkt sichtbar angegriffen und mit erstickter Stimme bringt er die Worte: „Jetzt hilft nur noch beten!“ über die Lippen.
Bis zum späten Nachmittag ist der Tauchtrupp damit beschäftigt das Rätsel um den verschwundenen jungen Feuerwehrmann aufzulösen. Die vielen unterirdischen Ausbuchtungen erschweren den erfahrenen Männern die Arbeit ungeheuerlich. Doch dann plötzlich entdecken sie den leblosen Körper in einer Höhle. Der Sog des Wassers hatte Richard hineingedrückt und nicht mehr losgelassen. In panischer Angst muss er versucht haben sich zu befreien, hat sich dabei im Geäst verfangen und hatte nicht die geringste Chance den Todeskampf zu gewinnen.
Die Leiche wurde geborgen und die Polizeibeamten hatten alle Hände voll zu tun, um die aufgebrachten Eltern halbwegs zu beruhigen.
„Richard, Richard wach auf, ich bin es, deine Mama! Du bist nicht tot, du schläfst nur!“ In ihrer Verzweiflung schüttelt Adelgunde den erschlafften Körper ihres Sohnes, in der Erwartung, dass er die Augen öffnet und ins Leben zurückkehrt.
Einer der Beamten legt seine Hand auf die Schulter der schluchzenden Mutter. „Frau Müller, ihr Junge hört sie nicht mehr, er ist für immer von ihnen gegangen. Ich kann mir vorstellen, wie schmerzhaft für sie dieser Schicksalsschlag ist, aber sie müssen den Tatsachen ins Auge sehen und versuchen damit fertig zu werden.
„Oh Gott, du hast unser einziges Kind zu dir geholt! Warum tust du uns das an?“ schreit Adelgunde himmelwärts, schlägt die Hände vors Gesicht und fängt an herzzerreißend zu heulen. Auch Hans kann seine Trauer nicht verbergen und lässt seinen Gefühlen freien Lauf indem er bitterlich weint. „Wir haben unser liebstes verloren! Was soll jetzt mit uns werden?“
Eine Schar Schaulustiger hatte sich sensationsgierig angesammelt, um ja nichts von dem Ereignis zu verpassen, welches Tagesgespräch in der Ortschaft war. Der Dorfpriester bahnte sich den Weg durch die Menschenmasse und schritt auf die Leid geplagten Eltern zu. Trost zu spenden und den Mitgliedern seiner Pfarrgemeinde in der Not beizustehen gehörte schließlich zu seinen Aufgaben und bei der Familie Müller ist es das nicht zum Ersten mal.
Auch damals nach dem Autounfall von Richard baute Pfarrer Kuhn die Eltern psychisch auf, indem er immer wieder mit ihnen gemeinsam betete und Hoffnung zusprach. Nach so vielen Jahren als Dorfpriester kennt er alle seine Schäflein sehr genau, aber mit solchen Schicksalsschlägen umzugehen ist auch für ihn keine leichte Aufgabe.
Für seine beinahe siebzig Jahre wirkt der Geistliche noch recht fit. Er bewegt sich viel an der frischen Luft und ist im örtlichen Kegelverein aktiv. In der Gemeinde ist der schlanke, aufrecht gehende Mann bei allen Bürgern beliebt, auch bei Nichtkirchgängern. Seine sanfte Stimme wirkt beruhigen und die rehbraunen Augen strahlen Güte und Vertrauen aus.
„Hans, Adelgunde, ich weiß, das ist ein harter Schlag für euch. Alle Mitbürger sind sehr betroffen und trauern mit um Richard. Gott hat euch auf eine schwere Probe gestellt, aber er wird euch auch die Kraft geben sie zu bestehen. Der Herr gibt, der Herr nimmt! Für Richard hatte er eben besondere Pläne. Einmal hat er ihm das sterbliche Leben zurückgegeben, nun hat er ihn für immer an seine Seite geholt. Ich kann euch den Schmerz im Herzen nicht nehmen, aber ihr sollt wissen, dass ihr irgendwann im Jenseits wieder mit Richard vereint sein werdet. Hört nicht auf zu beten und bleibt weiterhin stark im Glauben.“
Es ist für jeden schwer einen geliebten Menschen zu verlieren, aber das Leben muss irgendwie weiter gehen, wenn auch nicht mehr so wie bisher. Mancher Hinterbliebener frisst seinen Kummer in sich hinein und verzweifelt vollkommen, andere lassen ihre Gefühle der Verbitterung raus und an anderen Mitmenschen aus.
Ich denke, dass alles was geschieht seinen Sinn hat und uns vorbestimmt ist. Über glückliche Momente freuen wir uns, traurige bringen uns zum Weinen. Ein schweres psychisches Ereignis kann unter Umständen auch die Persönlichkeit stärken und einen positiven Neuanfang bewirken.
Das Ehepaar Müller ist nie über den großen Verlust ihres Sohnes weg gekommen. Noch heute befindet sich das Zimmer im ersten Stock des Hauses, welches Richard bewohnte , im selben Zustand als an dem heißen Sommertag, an dem die Feuerwehr die verhängnisvolle Bootsfahrt unternommen hatte. Adelgunde deckt bei jeder Mahlzeit für ihren Sohn mit auf, obwohl sie genau weiß, dass er nicht am Tisch sitzen wird. Richards Körper ist zwar gestorben, aber sein Geist lebt weiter in der Familie.