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Das Grab

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29.11.2010
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Das Grab

Schon von weitem sehe ich die Blumen auf dem Grab und atme tief durch. Es ist ein schöner Frühlingstag, warm und sonnig. Nach dem tagelangen Regen sind die Friedhofswege noch voll Schlamm und ich habe Mühe, mich mit den beiden Stiegen Frühjahrsblüher an den tiefen Pfützen vorbeizuschlängeln. Vorsichtig setze ich meine Last neben dem Grabstein ab und betrachte die sieben noch kleinen Stiefmütterchen auf dem Urnengrab.
Die Schrift auf dem schwarzen Grabstein beginnt zu verwittern, neunzehn Jahre ist die Oma nun bereits tot. Ich denke an den Moment, als mich die Nachricht damals erreichte: Mitten auf der Kellertreppe, die vollen Kohleneimer in der Hand. Das Scheppern der Eimer klingt noch heute in meinen Ohren.

Auf den Stiegen stehen einundzwanzig Frühjahrspflanzen: Hornveilchen und Primeln, sorgfältig ausgewählt. Jedes Jahr verbringe ich Stunden im Gartenmarkt. Es ist schön, zwischen den Tausenden von Blumen herumzuschlendern, inmitten all der Farben und Düfte. Das gehört zum Frühling dazu wie das erste Kaffeetrinken auf dem Balkon.

Mit den Jahren hat sich eine Art Grab-Ritual entwickelt, ohne dass wir es je abgesprochen hätten: Ich kümmere mich um die Frühjahrs- und Sommerbepflanzung, er übernimmt das Gesteck für den Winter. Ja, das Gesteck. Es ist für mich das Zeichen, dass er noch lebt. Jeden Winter gehe ich am Totensonntag auf den Friedhof. Nie werde ich den Tag vergessen, als er sich einmal verspätete und ich vor einem nackten, kahlen Grab stand.
Noch immer starre ich auf die Pflanzen hinunter. Wieso hat er sich dieses Jahr nicht an unser ungeschriebenes Gesetz gehalten?

Ich hocke mich vor das Grab und ziehe das erste Stiefmütterchen aus der Erde. Es ist von einem tiefdunklen Violett, hat zwei Knospen und eine große offene Blüte, die nach dem vielen Regen schlaff herunterhängt. Ich stelle es auf die Umrandung, fasse den oberen Rand der Blüte zwischen die Zeigefinger und Daumen und ziehe sie langsam auseinander, bis sie in zwei Teilen vor mir liegt. Es fühlt sich an wie hauchzartes samtiges Velourpapier. Jedes Teil ergibt wieder zwei Teile. Das haben wir als Kinder mit Papier gespielt. Bald ist die Erde um das Grab mit winzigen Blütensplittern übersät. Die Pflanzenrümpfe liegen vor meinen Füßen. Das letzte Stiefmütterchen steht noch auf der Grabumrandung, blau ist es und innen gelb, wie eine kleine Sonne am wolkenlosen Himmel.

Wenig später sind alle meine Blumen eingepflanzt und gegossen. Es sieht hübsch aus, ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe. Und doch fühle ich diesmal keine Freude, die Fragen rumoren in mir. Wieso hat er das stillschweigende Abkommen gebrochen? Stimmt etwas nicht mit ihm? Ist er vielleicht krank, fühlt er, weiß er, dass er nicht mehr lange zu leben hat? Immerhin wird er bald siebzig. Sind die Blumen vielleicht ein Zeichen für mich?
Ach Unsinn. Er hätte anrufen können. Aber wie denn? Das letzte mal haben wir vor über zehn Jahren telefoniert. Seitdem hat sich unsere Telefonnummer mehrmals geändert. Meine Eltern trennten sich, als ich dreizehn war. Danach sahen wir uns jede Woche bei Oma. Als sie ein paar Jahre später starb, wurden die Abstände unserer Treffen größer und größer und schließlich schliefen sie ganz ein. Dabei gab es nie Streit zwischen uns. Doch immer war ich es, die die Treffen ausmachte, wieder und wieder anrief, wenn er kurzfristig abgesagt hatte. Irgendwann war ich es leid geworden und hatte keine Versuche mehr unternommen. Ebensowenig wie er. Nur die Geburtstagskarten kamen jedes Jahr pünktlich mit dem immer gleichen Text : Alles Gute zum Geburtstag wünschen Dir herzlichst Dein Vati und Anhang. Bis auch das aufhörte, als wir umzogen. Es blieb das Grab. Und das wird nur noch ein Jahr bestehen, ein einziges kleines Jahr.

Er hätte mich über das Einwohnermeldeamt ausfindig machen können. Und wenn er nicht mehr in der Lage dazu ist? Aber die Blumen hat er doch noch gepflanzt. Ich stelle mir vor, wie er hier gekniet und mit zittrigen Händen die Pflanzen eingegraben hat, packe das letzte Stiefmütterchen in einen leeren Topf und eile zum Auto.

Eine Stunde später stehe ich im Wohnzimmer mit dem Telefonhörer in der Hand. Auf dem Teppich zwischen Legoburg und Spielzeugeisenbahn stapeln sich wild durcheinander alte Papiere und Kalender, die ich auf der Suche nach seiner Telefonnummer durchwühlt habe. Auf dem Tisch liegt aufgeschlagen ein Kalender von 1996, daneben steht das Stiefmütterchen mit der winzigen gelben Sonne und hinterläßt einen nassen, braunen Fleck auf der weißen Decke. Mein Mann Karl ist noch nicht zu Hause, er holt die Zwillinge aus dem Kindergarten.

Vielleicht stimmt die Telefonnummer ja nicht mehr. Immerhin klingelt es. Und dann, dann höre ich seine Stimme: Sie klingt noch ebenso dunkel und warm und vertraut wie in meiner Erinnerung, kein bißchen verändert: "Ach, Du bist das .. ?" "Ja, ich ... Ich dachte, ich hör mal, wie es Dir so geht." Meine Stimme hört sich irgendwie dünn an, aber wenigstens stottere ich nicht. Manchmal stellte ich mir vor, dass er nach mir fragen wird, wenn er totkrank ist. Wenn es ans Sterben geht. Ich halte den Atem an, habe Angst vor den nächsten Worten. "Naja, was soll ich sagen. Uns geht es soweit gut. In drei Tagen fliegen wir nach Kreta, ein bißchen Sonne tanken. Wir sind gerade am Packen, aber Annegret fängt ja immer schon Wochen vorher an. Man findet dann tagelang nichts mehr im Schrank." Er lacht. Und redet und redet und redet. Von seiner Frau, vom Urlaub. Ich brauch nicht viel zu sagen. Irgendwann ist es dann zu Ende. Wir legen auf. Keiner hat nach einem Treffen gefragt.

Eine Weile stehe ich da und starre auf die Unordnung vor mir auf dem Boden. Und fange an zu lachen. Ich lache und lache, bis mir die Tränen herunterlaufen. Das Stiefmütterchen mit der gelben Sonne steht noch immer auf dem Tisch, der nasse, braune Fleck hat sich weiter ausgebreitet. Irgendwo draußen schlägt eine Tür zu und ich sehe zur Uhr, Karl und die Kinder werden jeden Moment nach Hause kommen. Ich packe die Pflanze und werfe sie in den Mülleimer, die Tischdecke fliegt in die Schmutzwäsche, der Papierkram verschwindet wieder in der untersten Schublade. Kurze Zeit später duftet es nach Kaffee. Es ist der erste warme Frühlingstag heute und Zeit, in die Balkonsaison zu starten.

 

Hallo Eisbaer,

ich kann nicht viel zu deiner Geschichte sagen, außer: ich fand sie echt gut!
Ich finde es ziemlich ungewöhnlich, dass sie mir gefallen hat, denn es war kein großes Drama, nichts richtig herzbewegendes und doch hat sie mich gefesselt und das kommt doch sehr selten vor :)

Wenn du den Schluss nicht so interessant geschrieben hättest, wäre ich bestimmt nicht so begeistert davon, denn dann wäre es für mich einfach nur irgendeine kleine Geschichte, die nichts Besonderes an sich hat.
Aber da ich mir auf den Schluss, warum die Hauptperson plötzlich lacht, die schöne Blume in den Müll wirft und dann auch noch seelenruhig dem Alltag nachgeht, obwohl sie gerade seit einer halben Ewigkeit mit ihrem Vater telefoniert hat, noch keinen Reim machen kann finde ich das echt richtig gut!

Die Geschichte hat was, mir gefällt sie auf jeden Fall :)

Liebe Grüße
Juliettchen

 
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Hallo eisbaer, herzlich willkommen!

Auch mir gefällt dein Text.

Ich finde die Idee gut, dass das Grab das einzige Kommunikationsmedium für die beiden ist.

Die Geschichte hat einen ruhigen Tonus, was mir gefallen hat, eventuell könntest du noch ein kleines bisschen bei den Schilderungen der ganzen Blumen mit ihren Farben kürzen, da wurde es mir teilweise fast zu ruhig.. ;)

Formal gibt's ebenfalls nicht viel zu mäkeln; vor manchen Fragezeichen hast du eine Leerstelle.

Gern gelesen.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hallo Eisbär

Das Grab als Hort des Kommunikationsaustausches, des Zeichens, ein weiterer Hinterbliebener lebt, ja, bis dies ausbleibt. Den Gedanken finde ich schön. Distanzen lassen sich nicht immer vermeiden, sie ergeben sich aus vielerlei Gründen. Beziehungen erlahmen oder zerbrechen abrupt, doch manchmal bleiben vertraute Zeichen, Markierungen im Lebensweg.

Unaufgeregt kommt die Geschichte daher, ohne Knalleffekte oder Pointen, doch ein Ausschnitt Lebensgeschichte wie es sich so oder ähnlich irgendwo abspielen könnte.

Für mich war es stimmig. Gern gelesen. :)

Gruss

Anakreon

 

Hallo,

mir hat deine Geschichte auch gefallen.
Klar kann man sie noch besser machen.
ich fand zum Beispiel den klappernden Eimer der Oma sehr schön und fand daraus kann man die Rückblenden schöner entwickeln, als sie jetzt sind.
Das kurze Aneinanderreihen von: Damals war es so und so, liegt mir nicht so.
Und die Oma scheint mir doch die perfekte Verbindung zu sein, auch wenn sie tot ist.

LG, S.

 
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Vielen Dank für Eure Kommentare und die herzliche Aufnahme hier.

Gruß, Eisbär

 

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