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Das Große Krabbeln
Ob Soldat, Kriegsgefangener oder Zwangsarbeiter - Kowalke buddelt sie alle aus
- Darmstädter Echo, Magazin zum Wochenende
Ich habe dort mehr als eine ganze Battalion beerdigt
- Erwin Kowalke
Ein Knall. Ein heisser Wind. Heinz war erbost. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er ein linkes Bein verloren. Sein linkes Bein! Das Bein, das ihm doch so gut gedient hatte, das er noch unter Moskau vor dem sicheren Abfrieren gerettet hatte, war nun dahin. Er ballte all seine Kraft in die Faust und krabbelte in Richtung rumänischer Schützengräben. Obwohl er doch die Rumänen schon seit dem ersten Krieg so wenig respektiert hatte, musste er gerade dorthin krabbeln.
Die Rumänen hatten den Gerüchten zufolge einen guten Chirurgen. Der Kern der Gerüchte war zwar nicht, dass er so gut war, sondern dass er ein Semite sei. So sehr hat dies Heinz von nun an nicht wirklich gestört. Störend war nur der russische Schwerstpanzer IS-2, der, sich den Weg über seine untergebenen Leichen und Verwundeten bahnend, ihm langsam, aber unweigerlich nachstellte. Heinz nahm das linke Bein in die Hand und krabbelte voran, und zwar schneller und eifriger, als er je gekrabbelt hatte. Ihm nach kroch die Grenze eines Reiches.
Schwefelduft lag in der Luft, und das Klirren der Panzerketten wurde immer lauter. Zum ersten Male in seinem langen, sich aber zu Ende neigenden Leben konnte dieses Geräusch Heinz weder aufmuntern noch erfreuen. All seine patriotischen Gefühle schwanden in wenigen Augenblicken. Er verdammte Hitler, Goebbels und die gesamte arische Rasse, zu welcher er sich ja eigentlich auch zu zählen pflegte. "Dawaj, dawaj!" "Pólsi, pàdlo" ertönte immer wieder von dem Soldaten auf dem anrückenden Koloss. Heinz stellte sich kurz einen Soldatengrab vor. Stolz, aus Marmorstein mit der Embleme seiner Heimat vorne drauf. So hat er sich sein Ende immer vorgestellt. Sein Gesicht wurde nass vor Tränen, denn so wie das Geschehen gerade lief, würde er bestenfalls den ohnedem fruchtbaren ukrainischen Boden als Biomasse düngen.
Sein Verstand schien allmählich zu ihm zurück zu kehren. Er analysierte kurz die Situation, so wie er es vor grob 20 Jahren in Kiev von denselben Russen gelernt hatte. Er blieb für einen kurzen Moment liegen und starrte sein in den Händen festgeklammertes Bein an. Auch der Panzer hielt an. Der Panzerfahrer steckte den Kopf aus dem Panzerturm und blickte überrascht auf Heinz. "Zur Hölle mit dem Bein! Ich werde nicht so sterben!" ertönte durch die Ermüdung gedämpft aus der Kehle Heinzes. Alle übrige Kraft sammelte er um aufzustehen, Balance zu halten und um sein entrissenes Glied auf den Panzer zu werfen. Die Russen sahen für kurze Zeit etwas verblüfft aus. Im folgenden Augenblick versteckte sich der Panzerfahrer wieder in den IS-2 und stellte den Gang wieder an. Das Bein verschwand kurz darauf unter der schweren Last der metallenen Bestie.
Heinz wollte irgendwas schreien, es fiel ihm allerdings nichts ein, denn kein Wort, das er kannte, könnte seine Gefühle stark genug ausdrücken. Er blickte zurrück über seine Schulter und sah, dass der rumänische Schützengraben weniger als ein Meter entfernt lag. Ein Stein war ihm vom Herzen gefallen. Er grinste den auf dem Panzer sitzenden Russen kurz an and lies sich in den Graben fallen. Lachend rief er "Auf, Kameraden!"... "Auf!"... Er blickte zur Seite und sein Gesicht färbte sich wieder grau: Es waren lose Fetzen von der einst stolzen blau-gelb-roten Flagge sowie lose Fetzen der Mitglieder der einst stolzen rumänischen Battalion.
Der Logik folgend blickte Heinz auch vorwärts, um das zu sehen, was zu erwarten war. Dröhnend rollte die Kriegswalze den viel zu flachen Grabenrand runter. Verzweifelt fluchte Heinz auf die toten rumänischen Ingeneure. Er fluchte auf alles, was ihm auf die Zunge kam. Es dauerte nicht lange bis er mit den Zehen seines übrigen Beines die warme Luft, welch aus der Maschine kam, spürte. Er zuckte zusammen und fing an zu weinen. Er dachte an die Morgensonne, als der Schatten seinen Hals erreicht hatte. Er dachte an die breiten Straßen Berlins mit ihren Lokalen und üppigen Kellnerinnen. Er dachte an seine erste Kaserne, und an- Der Panzer blieb auf einmal stehen.
Er konnte schon das kalte Stahl an seiner Ferse fühlen. Anscheinend fluchten die Russen. Jedenfalls sprachen sie furchtbar laut. Er erhob seinen Kopf, um zu sehen, was denn los war. Der auf dem Panzer sitzende Russe hüpfte runter. Einer nach dem anderen kletterten noch zwei Russen und ein, wie Heinz meinte, Mongole aus dem Panzer. Sie umkreisten die Maschine und zogen sie aus aller Kraft nach vorn. Der Panzerfahrer versuchte anscheinend den Panzer noch hochzufahren, der krächzte, vibrierte, bewegte sich aber nicht von Stelle. Nach dem sie noch einige Minuten erfolglos versucht hatten den Panzer in Kondition zu bringen ging Einer von ihnen auf Heinz zu. Dieser zitterte und schaute dem Russen genau in die Augen. Genervt sah der Russe aus, das war kein gutes Zeichen... Er richtete seine Flinte langsam Heinz zwischen die Augen.
"Hendr hoch, Fritz"
"Heinz" berichtigte Heinz den Russen. Die anderen Russen lachten.