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Das große Morden vor meinem Fenster
Vogelgezwitscher und das Klopfen eines Spechtes waren bis gestern die angenehme Geräuschkulisse die ich vernahm, wenn ich eines meiner westseitigen Fenster öffnete. Die etwa zweihundert Meter entfernt stehenden Häuser sah ich nur, wenn im Herbst die Blätter nach dem bekannten Farbenspiel zu Boden fielen und so die Sicht freigaben, bis im Frühling neues Grün aus den kahlen Ästen drang. Unzählige Vögel hatten hier ihre Kinderstube und sollten sie auch heuer wieder haben. Sicher waren die zukünftigen Vogeleltern schon im Begriff, ihre Nester mühe- aber liebevoll zusammenzutragen und zu verflechten, ja vielleicht lagen schon Eier drin? Auch freilaufende Katzen hatten hier in schönen Sommernächten, für alle in der Umgebung deutlich zu hören, ihre schönsten Liebesstunden.
Gestern früh öffnete ich das Fenster, vernahm das vertraute Klopfen und Zwitschern und war einmal mehr zufrieden mit meiner Aussicht. Als ich meinen Blick weiter nach unten gleiten ließ, sah ich eine handvoll Männer, einer chefmäßig gekleidet, immer redend und abwechselnd auf ein Papier und die Bäume zeigend, die anderen in Arbeitsgewand und nickend, über das Grundstück gehen.
Kurze Zeit darauf vernahm ich ein Zgoiiiiiiiiiiing, dann noch eines, gefolgt von einem rrrrrrrrreeeee-rrrrrrrrreeee. Ich stürzte zum Fenster, bestätigte mein Bild zum Gehörten durch einen Blick... Von oben nach unten schnitten sie die Bäume um, einen nach dem anderen. Egal wie groß – drei der Bäume waren fünf Stockwerke hoch und gesund, egal wie grün und auch egal, wer darin wohnte. Äste fielen zur Erde, Stämme wurden Stück für Stück umgesägt. Bis Arbeitsschluß um siebzehn Uhr schafften sie das halbe Grundstück und die Hoffnung keimte in mir, daß das vielleicht schon alles war, es schon reicht, um Platz für menschliche Behausungen zu schaffen. Die beiden großen Bäume vor meinem Wohnzimmerfenster waren noch nicht umgeschnitten und ich bitte ein „Laß sie stehen...“ ins Nichts.
Die Vögel kamen, besichtigten, zwitscherten aufgeregt. So, als wollten sie sich beschweren, uns sagen, wie unerhört sie das fanden, daß sie so einfach delogiert werden....
Heute früh begannen die Arbeiter, mit ihren Baggern das am Boden liegende Gehölz wegzuräumen und ich hoffte noch immer, daß sie wenigstens den Rest der Bäume stehen lassen. Doch ab mittag erklangen erneut die Sägegeräusche. Ich ging los um zu erkunden, was hier gebaut werden soll. Ein Baggerführer gab mir die Auskunft, die Grünfläche soll auf sechs Grundstücke aufgeteilt werden, mehr wisse er auch nicht, er mache nur seine Arbeit hier....
Bis ich um sechzehn Uhr weg mußte, standen „meine“ Bäume noch. Um siebzehn Uhr kam ich wieder nach Hause, die Sägen wurden gerade weggesperrt. Ein Blick aus meinem Fenster zeigt einen grausamen Ausblick: Die von mir aus gesehen rechte Hälfte des größten Baumes ist schon gemordet, die linke steht noch. Bis morgen zieren eineinhalb Bäume meine Aussicht. Der Mensch ist ein korrektes Tier – siebzehn Uhr, Arbeitsschluß....
Noch klopft der Specht und einige Spatzen und Amseln kommen, um sich zu beschweren. Vielleicht überlegen sie, ob sie in Zukunft mit der gepflegten Kleingartenreihe, die noch zwischen jenem Grundstück und meinem Haus ist, Vorlieb nehmen oder ob sie wegziehen sollen?
Doch die beiden großen Bäume werden sicher endgültig dran glauben müssen...
Mein Specht wird sich vermutlich morgen abend einen neuen Schlafplatz suchen, deshalb höre ich ihm heute noch einmal gut zu, wenn er den Takt zum Gezwitscher gibt... es hört sich an, als würden sie gemeinsam zum Abschied einen traurigen Blues singen...
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Susi P.
[ 24.04.2002, 19:37: Beitrag editiert von: Häferl ]