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Das Handeln der Durchschnittsmenschen
Jan atmete aus. Langsam, ganz langsam. Das würde seine Seitenstiche mildern und ihm Kraft geben, weiter zu laufen. Er hob die Arme in die Lust und atmete, während er lief. Obwohl er keine gute Kondition hatte, sein Gesicht knallrot war und sein Bauch vor ihm wackelte, war er stolz, denn endlich hatte er sich entschieden, joggen zu gehen. Er mochte die Strecke, die er vor einer Woche mit seiner Schwägerin gelaufen war und versuchte nun, allein den Weg durch den Wald zu finden.
Es nieselte und ein feiner Nebel bedrückte den Wald mit einer grauen, eintönigen Atmosphäre. Der feuchte Waldboden war weich, sodass die knallroten Turnschuhe bei jedem Schritt einen Abdruck hinterließen. Jan war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob er den richtigen Weg gewählt hatte, er folgte seinem „Instinkt“, der ihm eigentlich riet, sich mit einer Tasse Tee vor den Fernseher zu setzen. Aber er lief weiter, ihm kam die Geschichte der Regenballade in den Kopf. Er begab sich in Gedanken in die Tonabläufe, Melodien und Rhythmen und erschrak fast zu Tode, als er klar und deutlich eine Stimme wahrnahm. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte er geglaubt, der einzige zu sein, der sich in dieses Waldstück verirrt hatte. Doch sein gesunder Menschenverstand gab ihm zu verstehen, was an und für sich nichts Schlimmes war. Er war nicht allein.
Nachdem er dies festgestellt hatte, widmete er sich der Art von Geräuschen, die er wahrnahm. Er hörte einen schnellen, gleichmäßigen Atmen, ein Stöhnen. Jan drehte sich im Kreis und sah sich um. Er sah niemanden und doch nahm er deutlich diese menschlichen Geräusche war. Plötzlich mischte sich etwas anderes in das normale Klangbild. Es klang wie der unterdrückte, schrille Schrei einer Frau!
Was Jan noch eben für einen erschöpften Sportler gehalten hatte, stellte sich nun als weitaus schlimmer heraus. Im Fernsehen würde es heißen: „Die Lage spitzte sich zu!“ Im Vorabendprogramm würde er als Held die Polizei rufen, die gerade im rechten Moment ankäme und den Vergewaltiger, vermutlich osteuropäischer Herkunft, verhaften würde.
Aber Jan wusste nicht, was geschah, er hatte kein Telefon dabei und konnte nicht einmal eindeutig sagen, dass in diesem Moment ein Gewaltverbrechen stattfand. Also machte er sich auf die Suche.
Er schlich um Geräusche zu vermeiden und war dennoch hastig in seinen Bewegungen. Schon nach wenigen Metern war er am Ort des Schreckens angekommen, der bis jetzt von einem Strauch verdeckt worden war.
Was er sah, schockierte ihn und ekelte ihn zugleich an. Er sag einen Kerl, fett, mit faltiger Haut, um die fünfzig Jahre alt. Er trug einen Anzug, dessen Hose er leicht nach unten gezogen hatte. In seiner Gewalt war – ein Mädchen.
Es zerriss Jan fast das Herz, als er die Teenagerin weinend auf dem Boden liegen sah. Ihre Hände lagen wehrlos auf dem Boden, sie hatte aufgegeben. Sie wimmerte und hielt die Augen geschlossen. Ihr schwarzer Pullover war bis zu ihrem Hals hinauf geschoben, sie trug keinen Büstenhalter mehr. Ihre Jeans mit einem glitzernden Gürtel war bis zu ihren Knöcheln hinunter gezogen.
Jan dachte keine Sekunde mehr. Er griff einen schweren Ast vom Boden, spürte, wie die feuchte Rinde an seinen Fingern kleben blieb, und schlug!
Er schlug mit solch einer Wucht, dass der Alte erschrocken aufschrie und nach vorne viel. Jan riss ihn nach hinten und warf ihn angewidert zu Boden.
Das Mädchen riss die Augen auf, sie war tränenüberströmt und zitterte. Jan nahm ihre Hand, zog sie hoch und schloss sie in die Arme. Es war ihr egal, dass sie fast nackt war, er wollte sie beschützen, er wollte sie trösten und sie die letzten Minuten, Stunden vergessen lassen.
Sie ließ ihren Kopf in seine Schultern sinken, sie weinte in ihre blonden Haare und in seine verschwitzte Joggingjacke.
Aus den Augenwinkeln sah er den Alten am Boden liegen. Er löste sich aus der Umarmung und sah dem Mädchen fest in die Augen. „Hast du ein Handy dabei?“ Sie nickte, während sie sich auf die Unterlippe biss und sich zu ihren Knöcheln beugte. Sie drehte sich um und zog sich an, während er mit zittrigen Fingern die Polizei rief und den Vorfall schilderte. Er erzählte ebenfalls, dass der Täter benommen am Boden läge und man sich beeilen solle. Nachdem er das Telefonat beendet hatte, sah er nach der Kleinen. Sie verzog das Gesicht und stotterte: „Wieso konnte ich nicht eher anrufen?“ Er strich ihr über die Schulter, sah sie an und beruhigte sie. „Schhhhh! Du trägst keine Schuld, es wird alles gut!“ Es kam sich schlecht vor, als er das sagte, wusste er doch genau, wie schwer es war, ein solches Trauma zu überwinden.
Nachdem sie ins Krankenhaus und er zur Polizeiwache gebracht worden waren, fühlte sich Jan hin und her gerissen. Einerseits hatte er etwas Furchtbares sehen müssen, er hatte einen Menschen so ängstlich und verstört sehen müssen, wie es ihm bis jetzt selten passiert war. Andererseits hatte er helfen können. In diesem Moment wurde ein Durchschnittsmensch, ein Mensch wie du und ich, zum Held, zum Retter. In diesem Moment ging es nicht um die vergangene Woche, nicht um den folgenden Tag. Es ging um den Augenblick, um die einmalige Chance, Mut zu beweisen. Und wer weiß? Vielleicht, oder sogar ganz bestimmt, ging es darum, ein Menschenleben zu retten!